Hi Kiprian, danke für die Quellen!
Nun haben wir Futter zur Diskussion.
So, jetzt habe ich mich auch mal dem Thema "tooth-money" Dis parasi angenommen.
Folgendes (
typische!) ist herausgekommen:
A) Suche:
gebe ich "tooth-money" und "ottoman" in google international ein, erhalte ich gerade einmal zwei (!) Quellen, einmal deinen Link:
http://mcadams.posc.mu.edu/txt/ah/Layard/DiscNineveh02.html
von 1854 eines britischen Reisenden und Archäologen,
und von 1904 von Emma Paddock Telford, einer Frau, die sich sonst nur durch ein
Kochbuch in google in Erscheinung tritt:
http://library.ferris.edu/~cochranr/stone/stone2b3.htm
Kochbuch für die amerikanische Hausfrau:
http://www.archive.org/details/standardpaperbag00telfrich
und wenn man ihren Text liest, dann erkennt man, welche Fantasie und unwissenschaftliche Desinformation darin steckt, denn zu der Zeit, gab durchaus schon etwas differenziertere Betrachtungen.
Dann habe ich gleiches nochmal in Google Books eingegeben.
heraus kam ein Bericht von 1859
http://books.google.com/books?vid=O...AAJ&pg=RA6-PA176&lpg=RA6-PA176&dq=tooth-money
der vollständig als PDF downloadbar ist.
dann noch ein Bericht von 1855:
http://books.google.com/books?vid=O...A601&lpg=PA601&dq=tooth-money+ottoman#PPR8,M1
auch vollständig als PDF downloadbar. Dieser bezieht sich offensichtlich auf den Bericht von 1854, bietet also keine neue Quellen.
Alle anderen wenigen Einträge, z.B. in einem Spieleforum, beziehen sich, bewußt oder unbewußt auf diese
vier Quellen!
B) Erste Schlußfolgerung der Suche:
1. Auffällig ist bei allen, ihre zeitliche Nähe, nehmen wir mal die Kochbuch-Autorin raus.
2. Sie fallen etwa in eine Zeit des europäischen
Philhellenismus, die auch in der Begeisterung mündete, den griechischen und auch slawischen Unabhängigkeitskrieg zu fördern, ja als Söldner mitzuwirken. Diese Begeisterung beginnend etwa in den Zwanzigern setzte sich im 19. Jh. fort.
3. Alle Berichte sind nicht etwa wissenschaftliche Abhandlungen zur Steuerpolitik des osmanischen Reiches, sondern beruhen auf Augenzeugenberichten und Unterhaltungen mit der örtlichen Bevölkerung. Keine osmanischen offiziellen Urkunden wurden untersucht. Über deren Sprachkenntnisse weiß ich nichts, hab mir nicht alles durchgelesen.
C) Ergebnis:
1. Es ist schon auffällig, das solch eine Steuer in google nicht weiter verbreitet ist, wo doch die Osmanen mit ihrer großen Bürokratie alles mögliche penibel aufgeschrieben hatten. Ich will es aber auch nicht überbewerten, denn viele der 150 Mio. Dokumente sind noch nicht erfaßt, erst recht nicht untersucht, nur 30 Mio. etwa erst katalogisiert. Selbst wenn, die Osmanisten, Historiker, etc. sind meist noch nicht so stark im Internet vertreten, meistens spielt sich noch alles offline in Zeitschriften z.B. ab. Aber ein Indiz haben wir schon.
2. Wir wissen nicht, wo oben schon angedeutet wurde, ob mit diesen Schriften eine politische Intention beabsichtigt war. Auf jeden Fall sind sie in ihrem historischen Kontext zu bewerten und die Polemiken können nicht als historische Tatsachen einfach übernommen werden.
3. Unterhaltungen mit den Einheimischen muss man genauer betrachten, selbst wenn sie so durchgeführt wurden, so heißt es noch nicht, dass alle darin vorkommenden Geschichten auch den Tatsachen entsprechen. Vielleicht will sich jemand wichtig machen, vielleicht will der Gesprächspartner für seine eigene Sache werben, vielleicht sind es nur Gerüchte, vielleicht Legenden? Es gibt da viele Unwägbarkeiten.
4. Mir scheint es fast so, als wenn die wenigen Berichte eigentlich nur aufgrund des einen Reiseberichts von 1854 erfolgten. Karl May war nicht der einzige Autor, der geflunkert hat...
Ist aber nur ne Vermutung.
5. Es ist sowieso sehr fragwürdig, seine Behauptungen einzig und allein auf Aussagen von ~1850 zurückzuführen. Man kann etliche Aussagen zum Osm. Reich nicht mal aufgrund von Büchern der 1985er Jahre rechtfertigen, da es seit den 2000er wieder neue Erkenntnisse und Sichtweisen gibt! (z.B. aufgrund neuer übersetzter Originalquellen)
Das ist auch meine Kritik in einem anderen Thread an die Wissensverbreitung und -verteilung im Internet. Mit zunehmenden open public-Dokumenten, von anno dazumal, denken viele User, so wie es dort steht, ist es wirklich gewesen, und es hält auch zunehmend Einzug in die Wikipedia, mit dem Kenntnisstand vom 19. Jh.!
D) Grundsätzliches
1. Man muss bei der Betrachtung der Ereignisse immer unterscheiden, zwischen der osmanischen Staatsführung, was sie erlassen hat, und den tatsächlichen Ereignissen vor Ort in der Peripherie. Man kann nicht einfach behaupten, das osm. Reich hätte dieses und jenes getan.
Schauen wir uns als Beispiel mal den Erlass von Gülhane an, der 1839 die Reformen der Tanzimat einleitete:
Darin wurde u. a. folgendes festgehalten:
- Sicherheit der Person und der Habe eines jeden Bürgers ohne Unterschied des Standes und der Religion.
- Kein Untertan meines Reiches darf in der Ausübung seine Religion, die er bekennt, gehindert werden.
- Gleichheit in der Besteuerung und andere bürgerliche Freiheiten:
„Diese kaiserlichen Konzessionen erstrecken sich auf alle Unsere Untertanen, von welcher Religion oder Sekte sie sein mögen; sie alle ohne Ausnahme sollen derselben teilhaftig werden. Eine vollkommene Sicherheit wird demnach von Uns den Bewohnern des Reiches für ihr Leben, für ihre Ehre und ihr Vermögen gewährt, wie es der geheiligte Wortlaut unseres Gesetzes erheischt.“
usw.
Dann kam auch eine allgemeine Wehrpflicht, unabhängig von der Religion, die die Christen teilweise gar nicht so gerne sahen, und lieber die Kopfsteuer (cizye) stattdessen wieder hätten. Auch kam es durch die allgemeine Gleichstellung zu Protesten der Griechen, die sich ihrer Privilegien beraubt sahen und ihre jahrhundertealte Symbiose mit der osmanischen Führung in Gefahr sahen.
Es ist häufig so, dass wenn Greuel passiert sind, diese nicht auf das Konto Istanbuls gehen, sondern z.B. durch lokale Provinzfürsten begangen oder toleriert wurden, gelegentlich sind diese auch selber von der gleichen Ethnie, wie die Beherrschten, oder es waren eigene Räuberbanden, die plündernd umherzogen, oder Janitscharen, die monatelang keinen Sold erhielten, teilweise auch Hunger litten, und diese Greuel verübten.
So gab es zu Zeiten der schwindenden Zentralmacht auch die sogenannten derebey s die ein halbautonomes Regime führten, manchmal eine Privatarmee unterhielten, sogar mal eigene Münzen prägten.
Man muss da immer differenzieren, zwischen der Zeit, wo etwas passierte, von wem etwas ausging, und ob es von der Hohen Pforte überhaupt gebilligt wurde, und ob es vielleicht auch eine Reaktion der Herrschenden war.
Es gibt zahllose Dokumente, die die Bemühungen der Hohen Pforte zeigen, die teilweise anarchischen Verhältnisse im Balkan (allein schon der Steuer wegen) zu beenden, und zeitweise gelang dieses bis zum Aufkommen des Nationalismus und Separatismus auch.
Man kann nicht immer pauschal behaupten, das "osmanische oder türkische Joch".
Z.B. gab es ein Bevölkerungswachstum im 15. und 16. Jh. auf dem Balkan, mit einer Verdoppelung der Städtebevölkerung, beispielsweise aufgrund wirtschaftlicher Stabilität und Wachstum.
Und die Kopfsteuer der Nichtmuslime wurde nicht immer als großes Übel angesehen, befreite sie doch auch vom Wehrdienst, so dass die wirtschaftlichen Aktivitäten fortgeführt werden konnten.
Dann gebe ich hier nochmals den Text wider, den ich schon mal gepostet habe, um die allgemeine Haltung zu Nichtmuslimen zu zeigen. Aus S. Farophi: Geschichte des OR.:
"Nichtmuslime gleich welcher Konfession zahlten eine cizye
genannte besondere Kopfsteuer. Bis zum Ende des 17. Jahrhunderts
wurde diese manchmal von einem ganzen Dorf als
Kollektivzahlung eingezogen; aber im Prinzip war jeder arbeitsfähige
Mann cizyepflichtig. Die Höhe der Steuer war dem
Reichtum entsprechend abgestuft.
Rechtlich gesehen waren Nichtmuslime unterprivilegiert: So
konnten sie nicht vor Gericht gegen Muslime aussagen. Im Geschäftsleben
war das ein ernstes Problem, das viele dadurch zu
lösen suchten, daß sie ihre Transaktionen in die Register des
Kadis eintragen ließen und damit beweiskräftige Dokumente
schufen. Die Häuser der Nichtmuslime durften nicht höher
sein als die ihrer muslimischen Nachbarn; es konnte vorkom
men, daß eine Kirche, auch wenn die osmanische Eroberung
schon lange zurücklag, ihrer Gemeinde weggenommen und in
eine Moschee umgewandelt wurde. Um einer Moschee zu den
nötigen Betern zu verhelfen, konnten Nichtmuslime, die in der
Nähe einer Moschee lebten, sogar gezwungen werden, ihre
Häuser zu verkaufen und umzuziehen. Aber die Praxis war oft
toleranter als Rechtssätze und Sultansbefehle; obwohl das von
offizieller Seite nicht gern gesehen wurde, lebten in manchen
Städten Anatoliens Muslime und Nichtmuslime über Jahrhunderte
hinweg in denselben Stadtvierteln zusammen.
Vor allem kamen im Gegensatz zu den europäischen Staaten
jener Epoche, in denen Vertreibungen und Hinrichtungen religiöse
Konformität erzwangen, unfreiwillige Bekehrungen zum
Islam nur relativ selten vor. Selbst manche Sklaven konnten
dem Druck, die Religion zu wechseln, widerstehen. Allerdings
hatte die Mehrheit der Sklaven, sowie die durch die Knabenlese
für den Dienst des Sultans eingezogenen jungen Männer, in
dieser Sache kaum eine Wahl. Es kam auch vor, daß Leuten, die
für die osmanische Verwaltung „Ruhestörer“ darstellten, nur
die Wahl zwischen einer schweren Strafe und der Annahme des
Islams blieb.
Die überwältigende Mehrheit aller Bekehrungen dürfte jedoch
auf freiwilliger Basis erfolgt sein. Dafür gab es etliche
Gründe. Zunächst einmal dürften die nicht enden wollenden
Religionsstreitigkeiten zwischen Orthodoxen, Katholiken und
Protestanten auf manche Südosteuropäer so abstoßend gewirkt
haben, daß sie nicht mehr bereit waren, an eine göttliche Sendung
der christlichen Kirchen zu glauben. Für weniger nachdenkliche
Menschen gab es natürlich „weltlichere“ Gründe.
Von der cizye einmal abgesehen, öffnete die Annahme des Islam
Möglichkeiten des sozialen Aufstiegs, etwa als Diener eines
Gouverneurs. Auch mögen manche Menschen es einfach
vorgezogen haben, als Untertanen „erster“ und nicht „zweiter“
Klasse zu leben. Bisweilen gab es auch Bekehrungen ganzer
Dörfer oder Familien, deren Gründe wegen Quellenmangels
meist nicht mehr nachzuvollziehen sind. Aber schon die Bedeutung
der cizye als staatlicher Einnahmequelle dürfte osmani
sehe Provinzgouverneure und Kadis davon abgehalten haben,
die Bekehrung der „Ungläubigen“ mit allzuviel Nachdruck zu
betreiben."
für weitere Infos zu dem Balkan siehe die Links, die ich schon mal gepostet habe:
http://www.hist.net/kieser/pu/erbe.html
und allgemein über den Balkan mit vielen Bildern:
http://www.deutschlandundeuropa.de/49_05/Balkan.pdf
2. Da diese Steuer so wenig Erwähnung findet, können wir davon ausgehen, dass sie, wenn überhaupt, nicht sehr weit verbreitet gewesen ist, sondern nur von lokaler Bedeutung. Im Vergleich gebt mal die Kopfsteuer in google international ein (cizye) und ihr erhält 43000 Seiten.
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So, hier breche ich mal ab. Hab keine Lust mehr. Hab etliches auch schon woanders hier im Forum geschrieben.
Aloha, LG, lynxxx