Frage an die Versierten: Wurde in Berlin als Alternative zum Schlieffen-Plan zur Lösung der Zwei-Fronten-Problematik eigentlich jemals eine rein defensive Haltung im Westen durchexerziert? Und wenn ja, mit welchem Argument wurde sie verworfen?
Es gab bis 1913, den sogenannten "Großen Ostaufmarsch" oder "Ostaufmarsch", der das anders herum geplant hätte, also Defensive im Westen gegen Frankreich, Offensive im Osten gegen Russland.
Ergänzend zu
@Nikias
Der Aufmarsch Ost hätte einen Abnutzungskrieg vorrausgesetzt. Dies hätte, da die konventionelle Sprengstoffproduktion bis in den ersten Weltkrieg hinein auf chilenischem Salpeter basierte allerdings vorrausgesetzt die Atlantikrouten frei zu halten um Deutschlands Teilnahme am Weltmarkt weiterhin zu ermöglichen.
Das aber war ganz von der Haltung Großbritanniens zu einem Krieg abhängig, da klar war, dass wenn die Briten auf der Seite der Entente mitgehen und eine Seeblockade aufziehen würden, dass in einer Sackgasse enden musste, weil man gegen die britsiche Flotte nicht ankam und ohne die Aufrechterhaltung der Sprengstoff- und Munitionsproduktion nicht auf einen Erschöpfungskrieg setzen konnten.
Erschwerend hinzu kommem der Ausbau des strategischen Bahnnetzes in Russland und die russischen Heeresvermehrungen ab 1912, die es natürlich schwerer machten im Osten große Anfangserfolge zu erziehlen und möglichst große Teile von Polen und Litauen zu besetzen um den Krieg von deutschem Gebiet weg zu halten und Teile von Russlands Industrie (Polen) wegzunehmen.
Und dann kommt sicherlich noch das Risikio hinzu, dass der Ost-Aufmarsch immer bot und dass man einpreisen musste:
1. Befanden sich 70-75% der deutschen Einsenerzförderung im deutschen Teil von Lothringen. Wäre dass den Franzosen in die Hände gefallen, wäre das für die deutsche Waffen- und Munitionsproduktion tötlich gewesen.
Das Festungsareal Metz-Diedenhofen war zwar sehr gut ausgebaut, so dass es unwahrscheinlich war, dass die Franzosen hier kurzfristig etwas hätten ausrichten können.
Da es dahiner aber keine Verteidigungslinie mehr gab von wo aus man die wichtigen Erzvorkommen hätte sichern können, hätten die Festungen im Zweifel Monate bis Jahre franzsösischen Angriffen standhalten müssen, was natürlich die Gefahr erhöht hätte, dass die Frannzosen im Zeitablauf irgendeine Schachstelle hätten finden können.
2. Wenn man selbst mit dem Gedanken spielte via Luxemburg, Belgien und womöglich Teile der Niederlande anzugreifen (Schlieffens ursprüngliche Planung hatte noch einen Durchmarsch durch die niederländische Provinz Limburg enthalten), musste man natürlich damit rechnen, dass die Frannzosen möglicherweise auch so dachten.
Hätte Deutschland seine Hauptkräfte im Osten benötigt hätte das natürlich zu einer nummerischen Überlegenheit der Franzosen im Westen geführt oder führen können und die hätte man von französischer Seite, wenn das erkannt worden wäre natürlich nutzen können um vie Luxemburg und Belgien die deutschen Truppen nördlich zu umgehen und Deutschland damit zu zwingen Truppen aus dem Osten abzuziehen um im Rheinland kämpfen zu können, oder, falls nicht möglich, da alle gebunden, die eigenen Truppen zurück zu nehmen und die Erzgebiete preis zu geben.
Ein französisches Ausgreifen nach Belgien hätte zwar Großbritannien gegen Paris aufgebracht, aber selbst im Fall eines Kriegseintritts, standen den Briten ja kaum ad hoc Landtruppen zur Verfügung um sofort ein signifikantes Problem darzustellen.
D.h. Wenn den Franzosen ein schneller Einbruch ins Rheinland gelungen wäre, hätte das einen solchen Krieg durchaus entscheiden können.
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Hätte man die Ostplanung aufrecht erhalten können?
Möglicherweise ja. Das Haber-Bosch-Verfahren zur synthetischen Ammonikgewinnung, dass es später während des ersten Weltkriegs ermöglichte immer größere Teile der Sprengstoffproduktion auf dieser Basis, statt auf dem nicht mehr zu bekommenden Chile-Salpeter herzustellen, war 1911 erfunden und vorgstellt worden.
Damit hätte es grundsätzlich die Möglichkeit gegeben eine autonome Sprengmittelproduktion aufzubauen (zumal Ammoniak auch in Friedenszeiten in der Düngemittel-Produktion Anwendung finden kann, somit eine Förderung keine rein unproduktive Investition in Rüstungskapazitäten gewesen wäre).
Hätte man zeitig dafür gesorgt, dann hätte die Deutschlands Fähigkeit einen Erschöpfungskrieg tatsächlich zu führen, in weit geringerem Maße von der Haltung Großbritanniens abgehangen und dann hätte man guten Gewissens den Aufmarsch-Ost in der Planung weiterführen können.
Allerdings lag das natürlich nicht allein in der Hand Moltkes oder des Kriegsministeriums, dafür hätten natürlich Gelder aufgetrieben werden, zusammenarbeit mit der Industrie koordiniert werden müssen etc. etc. und hätte natürlich an den politischen Hürden scheitern können.
Wahrscheinlich wäre von liberaler Seite einseitige staatliche Intervention um diesen Industriezweig auszubauen kritisch betrachtet worden und bei der Sozialdemokratie, genau wie auch im Ausland hätte man das möglicherweise als einen Schritt der dezidierten Kriegsvorbereitung zum Zweck der Agression gewertet.
Wäre also die Frage, ob in so einem Versuch eine Lösung gelegen hätte. Außerdem wäre es natürlich das Eingesständnis des totalen Scheiterns des Flottenprogramms gewesen, denn dass war der deutschen Bevölkerung mit dem Argument verkauft worden, das Reich müsse Seemacht werden um seine Kolonien und seinen immer weiter wachsenden Handel schützen zu können.
Wenn man nun Förderung der chemischen Industrie wegen der Munitionsproduktion vorgeschlagen und für die Bewilligung von Geldern geworben und das Argument vorgebracht hätte, dass mit der Marine die Handelswege nicht zu schützen waren und im Kriegsfall eventuell Blockade drohte, hätte man sich natürlich die Frage gefallen lassen müssen, warum anderthalb Jahrzehnte lang Abermillionen für die Flotte verprasst und dazu zum Teil noch neue Steuern erfunden worden waren.
Und hinzu kommt natürlich, dass ein Erschöpfungskrieg auch größere Opferzahlen und größeren wirtschaftlichen Schaden bedeuten mussste, was selbstredend eine Präferenz für möglichst kurze Kriesszenarien nahelegt.
Moltke selbst wird den Ostaufmarsch vor allem deswegen aufgegeben haben, weil das West-Szenario das einzige war, was er mit seinen vorhandenen Mitteln verantworten konnte.
Mit dem Szenario-Ost weiter zu planen hätte unter diesen Umständen geheißen mit der Britischen Neutralität fest zu planen (ob das hätte gutgehen können, wissen wir nicht) oder auf Industrien zu setzen, die es noch nicht gab.
Beides nicht wirklich solide.
Und angesichts dessen, dass seit 1912 die militärskeptische SPD stärkste Partei im Reichstag war und Moltke sich schon in der Frage der Heeresvermehrungen (Reaktion auf die russischen Rüstungen) gegen Kriegsminister v. Heeringen nicht hatte durchsetzen können (Moltke wollte eigentlich Heeresvermehrungen um 300.000 Mann, auf Heeringens Betreiben hin wurde aber nur eine Heeresvorlage eingebracht, die eine erweiterung der Streitkräfte um lediglich 100.000 Mann vorsah), wird Moltke (wenn er Haber-Bosch überhaupt auf der Rechnung hatte) wenig Zutrauen in die Möglichkeit Ressortübergreifender Maßnahmen gehabt haben, deren Finanzierung der Reichstag und damit maßgeblich die SPD hätte billigen müssen.