In der Ausdifferenzierung von Gesellschaften kam/kommt es zwangsläufig zu Elitenbildung. Das ist ein sehr wichtiger Punkt in der Entwicklung der Menschheit, wo Ungleichheit eher die Regel, denn die Ausnahme war/ist.
Vollkommen richtig. Deshalb habe ich weiter oben auch bewusst von Stammeseliten gesprochen und nicht etwa von Adel. Der Begriff Adel ist recht eindeutig definiert. Er passt einfach nicht auf beliebige Eliten. Was natürlich nicht bedeuten soll, dass es in Gesellschaften ohne Adel keine Eliten geben würde! Selbstverständlich gibt es die. Sie unterscheiden sich aber von dem, was wir Adel nennen, zum Beispiel dadurch, dass sie zumeist ihre elitäre Stellung nicht aufgrund von geschriebenen Gesetzen "vererben" können. Man kann also Teil der Elite werden, ohne hineingeboren zu werden. Das ist ein entscheidendes Merkmal der soziologischen Definition von Ungleichheit: Es geht dabei nicht um die Frage, ob alle Menschen in gleichen Verhältnissen leben. Vielmehr geht es um die Frage, ob alle Menschen gleiche Zugangschancen zu Positionen von unterschiedlichem gesellschaftlichem Vorteil haben. Beispiel: Mein Nachbar ist Rentner, ich bin es nicht. Wir sind nicht gleich, aber ich empfinde die Situation nicht als "Ungleichheit".
Dass der Adel das Produkt einer zerfallenden Gesellschaft ist, ist eine merkwürdige Vorstellung. Vielleicht hast du das auch nur etwas unglücklich formuliert.
Nein, ich hatte das schon so gemeint. Und es gilt zumindest für Europa, wobei der Historiker Heiko Steuer, dessen Arbeiten ich in dem anderen Thread (
http://www.geschichtsforum.de/f28/w...-arminius-gesellschaftlich-organisiert-45093/) mehrfach verlinkt hatte, die Auffassung vertritt, dass die europäische Entwicklung ziemlich "typisch" sei.
Was ich mit Zerfall der Gesellschaft meine, gerafft zusammengefasst:
Als Rom und die Barbaren insbesondere im Norden aufeinandertrafen, lebten jene Barbaren noch in Stammesgesellschaften. Diese Stammesgesellschaften waren im Grundsatz egalitär strukturiert. Selbstverständlich hatten sie schon ihre Eliten. Von "Adel" kann man in einer grundsätzlich elitären Gesellschaft aber nicht reden. Daher kann der Adel also nicht kommen. Er kann auch nicht durch eine spätere Ausdifferenzierung der Stammesgesellschaften entstanden sein, denn die Stammesgesellschaften haben sich nicht ausdifferenziert. Sie sind zerbrochen, oft sogar zerschlagen worden. Dieser Prozess begann schon in der frühen Kaiserzeit und war spätestens mit dem Ende der Völkerwanderung weitgehend abgeschlossen. In dieser Phase war aber kein "neues" Gesellschaftsmodell an die Stelle der alten Stammesgesellschaft gesetzt worden. Es herrschte Anomie. Das begünstigte die Entscheidung von Individuen, sich eigene Gesetze zu geben - wenn sie stark genug waren, diesen Gesetzen auch Geltung zu verschaffen.
Wie ging das vor sich? Motor der Entwicklung war das Gefolgschaftswesen. Da schlossen sich zwölf Freunde oder gute Bekannte zu einer Gruppe zusammen, um gemeinsam in den Krieg zu ziehen - aus welchen Gründen auch immer. Sie hatten Glück, waren auf der Siegerseite, acht von ihnen überlebten und kehrten unter der Last ihrer Kriegsbeute wankend nach Hause zurück. Dort stachen sie ein erbeutetes Fässchen Wein an und feierten ihren Sieg. Voll des guten Weines bemerkte dann einer von ihnen, dass sie in einem halben Jahr Krieg mehr Reichtum angehäuft hatten, als die ganze Dorfgemeinschaft in einer ganzen Generation. Kein schlechtes Geschäft, stimmten die anderen zu - und gemeinsam entschieden die acht, mit Hilfe ihrer Beute noch 20 weitere gerade arbeitslose Stammeskrieger auszurüsten und in den nächsten Krieg zu ziehen, um noch mehr Beute zu machen.... Die Gefolgschaft war geboren.
Der nächste Schritt sah so aus, dass man sich nicht nur im eigenen Stamm nach kräftigen Mitkämpfern umschaute, sondern auch in Nachbarstämmen. Damit war die stammesübergreifende Gefolgschaft geboren. Und gleichzeitig die Gruppe, die letztlich den Stämmen den Garaus machte. Diese Gefolgschaften agierten nämlich nicht mehr im Auftrag und im Interesse der Stämme. Sie verfolgten eigene Interessen und gaben sich eigene Regeln. Die Gefolgschaften lösten sich von den Stämmen und den Stammesgesellschaften ab. Die "Warlords" waren geboren.
Nachdem einmal klar war, dass hier ein überaus einträgliches Geschäftsmodell erfunden worden war - Söldnertum und Raub - wurde das Modell großflächig nachgeäfft. Und nicht lange danach waren die immer größer und immer zahlreicher werdenden Gefolgschaften militärisch betrachtet ein wesentlich bedeutsamerer Faktor als die alten Stämme. Die Stämme waren an ihr Gebiet gebunden, die Gefolgschaften waren mobil.
Hatten sie sich anfangs noch überwiegend mit Söldnerdiensten zufrieden gegeben, gingen sie mit wachsender eigener Stärke und mit sinkender Zahl äußerer Kriege zu Raub über. Antike Form des Einkaufsbummels durch Gallien zum Beispiel...
Dann gingen sie zu Eroberung über. Sie nahmen für sich selbst eigene Gebiete in Besitz. Und hier zeigt sich jetzt der zentrale Unterschied zwischen Stämmen und Gefolgschaften: Die Stämme bewirtschafteten ihren Besitz als gemeinsames Eigentum. Die Gefolgschaften verteilten ihre Beute nach einem willkürlich festgelegten Schlüssel. Das galt sowohl für die bewegliche Habe, die einem besiegten Feind entrissen wurde, als auch für die "Immobilien", die nach der Eroberung von Landstrichen zur Verteilung zur Verfügung standen. Der Stammeskrieger konnte den "Häuptling" noch als Ersten unter Gleichen ansehen. Der Gefolgschaftskrieger war darauf angewiesen, dass der "Boss" ihm gewogen war. Die Freunde vom "Boss" bekamen nämlich die schönste Beute. Und damit war der erste Adelsrang geboren. Vielleicht war es der "Herzog". Von dem Zeitpunkt an war Land (Grundlage für Reichtum) nicht mehr gemeinsamer Besitz, sondern es gehörte einem einzelnen Mächtigen. Völlig neue Verhältnisse!
Erst als dieses Gefolgschaftswesen so angewachsen war, dass es die Stammesgesellschaften dominieren konnte, begann sich eine neue Gesellschaftsstruktur zu entwickeln, die an die Stelle der längst hohl gewordenen Stammesgesellschaften gesetzt wurde.
Das war es, was ich mit "Zerfall der Gesellschaft" meinte. Der Adel ist nicht aus der Stammesgesellschaft hervorgegangen. Konnte er nicht, weil sich die Stammesgesellschaft in einem schleichenden Prozess in Nichts aufgelöst hat. Naja, in fast Nichts. Reste haben sich noch lange gehalten.
Das alles ist auch kein Produkt meiner Phantasie. Der Prozess ist archäologisch nachweisbar. Etwa ab dem Jahr 100 n.Chr. tauchen "Fürstengräber" auf, die auffällig von den Stammesverhältnissen abweichen. Später finden sich weit weg von den römischen Grenzen Siedlungszentren, die als Machtzentren von "Warlords" begriffen werden können. Noch etwas später werden offenbar sehr mobile Großgefolgschaften archäologisch erkennbar. Stichwort: Heerkönigtum.
Ein Beleg dafür, dass die Entwicklung in dieser Form abgelaufen sein dürfte, ist die Völkerwanderung selbst. Die Völker, die da wanderten, waren nicht mehr identisch mit den alten Stämmen. Sie brandeten auch offenbar nicht wie kompakte "Armeen" gegen die römischen Grenzen. Sonst hätte das Römische Reich kaum seine Legionen, die bis dahin Großverbände waren, immer weiter verkleinert und immer mobiler gemacht.
Gibt es denn keine Beispiele von differenzierten Gesellschaften ohne Adel?
Doch. Deutschland zum Beispiel. Dumme Antwort, stimmt´s? Ja, ich weiß natürlich, dass Deutschland seine Adelsphase hinter sich hat. Ansonsten fallen mir nur Gesellschaften ein, die eher isoliert existiert haben. Der oben erwähnte Heiko Steuer sieht die Triebfeder für die skizzierte Gesellschaftsentwicklung im Kultur- und Reichtumsgefälle zwischen Rom und den Barbaren. Wären die römische Kultur und der römische Reichtum den Barbaren nicht so "attraktiv" erschienen, wären nie Warlords auf den Gedanken gekommen, sich das alles mit Gewalt zu nehmen. Dann hätte sich eine andere Gesellschaft entwickelt. Dann müsste man natürlich über Definitionsfragen diskutieren. Kann man diese Gesellschaften als "differenziert" bezeichnen? Sind die Eliten dieser Gesellschaften nicht doch sowas wie "Adel"?
MfG