1.
Bethmann schreibt (Betrachtungen zum Weltkriege, 2. Teil, S. 11):
- "Überhaupt ist während meiner gesamten Amtstätigkeit keine Art von Kriegsrat abgehalten worden, bei dem sich die Politik in das militärische Für und Wider eingemischt hätte". (S. 7) "Unmöglich konnte sich der militärische Laie anmaßen, militärische Möglichkeiten, geschweige denn militärische Notwendigkeiten zu beurteilen." (S. 9)
Ein völlig berechtigter Hinweis.
Die politische Führung wurde unvollständig informiert, und war überhaupt nur höchst begrenzt zu eigenen Urteilen in der Lage. Das gilt umso mehr im Rückblick, ohne militärische Aktenlage.
Für die militärische Elite stand im November 1918 die Katastrophe fest, unter dem Vorzeichen, dass der deutsche Generalstab des Juli 1914 doch "den Schlüssel zum Sieg" gehalten habe, in Form des Schlieffen-Planes. Das vergrößerte die Katastrophe: was war passiert, wie konnte es geschehen? Nur am Rande: die Unmöglichkeit eines Sieges im Osten wurde bereits vor dem Krieg als Prämisse gesetzt, ebenso die Unmöglichkeit eines Zweifrontenaufmarsches West+Ost, sowie die Unmöglichkeit eines Ermattungskrieges. Erstaunlicherweise galt das nicht mehr 1919, man war nun seit 1917 schlauer. Die Voraussetzungen zum russischen Zusammenbruch - und es lag zwischen Kriegsausbruch und 1917 eine ganze Menge und ein langer Weg des Siechtums - wurden flugs vorverlegt: ein paar kleine Schläge hätten 1914 doch ausreichen müssen.
Im Angesicht der Katastrophe 1919 exkuplierten sich nun die militärischen Eliten (man muss wohl nachträglich sagen: zeitgenössisch erfolgreich)
literaisch. Nahezu jede maritime Konstellation und vor allem jede große Operation wurde so und nun auf dem Papier
nachträglich gewonnen.
@admiral zitiert hier ja seit geraumer Weile diverse Memoiren. In diesem Geiste gelang damals die Vergangenheitsbewältigung und die Vernebelung der übrigen Volksgenossen, die sich fleißig auf das Studium der Heftchen und der vielen Buchauflagen stürzten: der Schlieffen-Plan scheiterte auf dem Papier letztlich an einzelnen persönlichen Fehlleistungen und Versagen, die Politik war ohnehin schuld, Geld hatte es nicht ausreichend vorher zwecks ein bißchen "Mehr"-Rüstung gegeben, die Skaggerak-Schlacht - mit Rangierleistungen eines Scheers, für die er in Friedenszeiten gefeuert worden wäre - wurde so ein Sieg, ganz abgesehen von den übrigen "verpaßten Gelegenheiten" und dem entrissenen Versuch zum Untergang. Immerhin gelang es der Flotte wenigstens zum Schluss, sich selbst zu versenken.
Der verlorene Krieg wurde so auf dem Papier
tausendfach gewonnen, manche verloren sogar offensichtlich über diesen Sieges-Analysen den Verstand. Die Katastrophe statt des klar greifbaren Sieges wurde schließlich zum Gegenstand okkulter Überlegungen, göttlicher Prüfungen des deutschen Volkes usw. Der literaische Sieg über die verdrängte Niederlage wirkt bis heute über die Antiquariate vielfach überzeugend, leider.
_______
Am Rande zum Reichsarchiv: eine gefährliche Mischung aus Fakten und Spekulationen zu Handlungsalternativen, eine Mischung aus Detailwissen zur eigenen Lage und Ausstattung, und bestenfalls Halbwissen bzw. Irrtümer zur Gegenseite. Man sollte diese Tretminen beachten, insbesondere Spekulation von Fakten unterscheiden. Ebenso das Marinearchiv: größtenteils veraltet, unvollständig, in den Erläuterungen tendenziös.
Ein Beispiel aus diesem Werk, der Mischung von Fakten und erklärenden Spekulationen:
"Entscheidende Angriffserfolge sind aber nicht mehr erzielt worden. Auch im Osten machte sich in zunehmenden Maße fühlbar, dass Angriffe nur noch langssam vorwärts kamen. ...Auch bei russischer Unterlegenheit an Zahl ist es nur selten gelungen, den Angrioff im Laufe eines kurzen Wintertages so weit zu fördern, dass die Umfassung zur Vernichtung des Feindes führte, und das trat naturgemäß um so mehr in Erscheinung, je größer die Gesamtausdehnung der Schlacht wurde.
Auch in schwierigster Lage vermochte der Feind lange auszuharren und sich ihr schließlich doch noch durch nächtlichen Abzug zu entziehen. Es ist nie gelungen, solochen Abzug zu hindern, es ist nicht einmal der fall bekannt, wo er auch nur rechtzeitig erkannt und gemeldet worden wäre. Der Gegner ist daher fast stets ohne entscheidende Einbuße entkommen. Der Kampf zeigte jetzt auch im Osten andere Formen als bei Kriegsbeginn."
Reichsarchiv 6, S. 268.
Logisch, dass solche Zeilen in den übrigen Siegesanalysen oder Alternativwelten der Memoiren untergingen bzw. kaum beachtet wurden.
Nur am Rande, einige Seiten zuvor wird im gleichen werk des Generalstabes:
a) die große Umfassungsschlacht zwischen Weichsel/Warschau und Karparten (!!) als gewinnbar hingestellt, man hätte sie nur kommen lassen müssen - Moltke I bzw. Schlieffen II
b) das Ganze noch im Winter 1914/15
c) reichten dazu zwei Dutzend mehr deutsche Divisionen aus.
(Raumpatrouille Orion ist da realistischer
)