jschmidt
Aktives Mitglied
Ich nutze die Diskussionspause, um einen Fragebogen vorzustellen, den Sémelin entwickelt hat, um "die Tatsachen zu rekonstruieren, fast wie in einem polizeilichen Ermittlungsverfahren". Dabei steht die Trias von Tätern, Opfern und Zeugen/Beweisen im Vordergrund.
- Die Täter
- Lässt sich das Profil der Täter (Alter, Geschlecht, soziale Herkunft usw.) näher bestimmen?
- Motive: Geht es ihnen um territoriale Eroberungen, um politische Herrschaft oder um "Säuberung"?
- Inwiefern ist das Massaker für bestimmte Konfliktparteien politisch von Nutzen?
- Worum geht es in wirtschaftlicher Hinsicht?
- Wahl der Opfer
- Werden die Zivilisten unterschiedslos oder gezielt getötet (zum Beispiel anhand von Namenslisten, nach Berufsgruppen, nach politischen, religiösen oder ethnischen Kriterien)?
- Werden die Männer vor ihrer Tötung von den Frauen getrennt?
- Werden Frauen, Kinder und Alte systematisch getötet?
- Wie hoch ist die Zahl der Opfer einzuschätzen, bezogen auf Alter, Geschlecht, berufliche Stellung usw.?
- Welche Probleme stellen sich bei der Quantifizierung und Identifizierung der Opfer?
- Lässt sich das Massaker kartographisch erfassen?
- Konstruktion der Feindbilder
- Wie wird der zu vernichtende "Feind" dargestellt?
- In welcher imaginären und ideologischen Welt leben die Täter?
- Wie lassen sich die dem Massaker vorausgehenden und mit ihm einhergehenden Propagandamotive analysieren?
- Welche Bedeutung kommt in Bezug auf eine sich verschlechternde Wirtschaftslage der Angst und dem Gefühl kollektiver Unsicherheit zu?
- Form und Ablauf des Massakers
- Lassen sich die Hauptphasen im Ablauf des Verbrechens (Vorbereitung, Beschlussfassung und Durchführung) klar unterscheiden?
- Lässt sich die "Methode" beschreiben (Tötung an Ort und Stelle, Deportation und Aussetzung, Vernichtungslager)?
- Was lässt sich aus der Art der benutzten Waffen entnehmen?
- Werden die Opfer mit kühler Rationalität oder im Rahmen bestialischer Exzesse getötet?
- Sind mit der Tötung stets sexuelle Motive und Vergewaltigungen verbunden?
- Zeitliche Umstände des Massakers
- Vorzeichen: Wie sehen die möglichen Indikatoren für die Auflösung des sozialen Bandes zwischen den späteren Opfern und ihrer unmittelbaren Umgebung aus?
- Gibt es eine "Zeit" des Massakers in Bezug auf die innenpolitische Situation des Landes oder auf die internationale Lage?
- Steht das Massaker im Kontext eines Krieges oder des Zerfalls eines Imperiums?
- Haltung der näheren oder ferneren Umgebung: Gibt es stillschweigende Zustimmung, Proteste oder sogar Rettungsaktionen?
- Politische Auswirkungen und Medieneffekte
- Sollte das Massaker verheimlicht oder publik gemacht werden? Wollte man dementsprechend die Leichen verschwinden lassen oder zur Schau stellen?
- Hat das Massaker eine politische Wirkung auf den aktuellen Konflikt, und wenn ja, welche?
- Verschafft es bestimmten Akteuren neue Legitimität?
- Wie verbreiten sich die diesbezüglichen Nachrichten?
- Bleibt es lange unbekannt, oder wird es sofort bekannt?
- Sollten die potentiellen Opfer terrorisiert werden? Damit sie aus einem beanspruchten Territorium fliehen? Um eine politisch destabilisierende Bewegung auszulösen?
- Die Diskurse "danach"
- Auf Seiten der Zeugen: Wer weiß "wirklich", was geschehen ist? Strukturanalyse der Berichte von Journalisten und NGO-Mitarbeitern.
- Auf Seiten möglicher Überlebender: Wer kann darüber sprechen? Wer kann den Horror zur Sprache bringen? Wie lassen sich Realitäten, Verzerrungen und Erfindungen auseinanderhalten?
- Auf Seiten der Täter: Leugnungs- oder Bekennerdiskurse? Können sie überhaupt Schuld empfinden?