Massaker und Völkermorde - ein weiterer Diskussionsversuch

Ich nutze die Diskussionspause, um einen Fragebogen vorzustellen, den Sémelin entwickelt hat, um "die Tatsachen zu rekonstruieren, fast wie in einem polizeilichen Ermittlungsverfahren". Dabei steht die Trias von Tätern, Opfern und Zeugen/Beweisen im Vordergrund.


  1. Die Täter
    • Lässt sich das Profil der Täter (Alter, Geschlecht, soziale Herkunft usw.) näher bestimmen?
    • Motive: Geht es ihnen um territoriale Eroberungen, um politische Herrschaft oder um "Säuberung"?
    • Inwiefern ist das Massaker für bestimmte Konfliktparteien politisch von Nutzen?
    • Worum geht es in wirtschaftlicher Hinsicht?
  2. Wahl der Opfer
    • Werden die Zivilisten unterschiedslos oder gezielt getötet (zum Beispiel anhand von Namenslisten, nach Berufsgruppen, nach politischen, religiösen oder ethnischen Kriterien)?
    • Werden die Männer vor ihrer Tötung von den Frauen getrennt?
    • Werden Frauen, Kinder und Alte systematisch getötet?
    • Wie hoch ist die Zahl der Opfer einzuschätzen, bezogen auf Alter, Geschlecht, berufliche Stellung usw.?
    • Welche Probleme stellen sich bei der Quantifizierung und Identifizierung der Opfer?
    • Lässt sich das Massaker kartographisch erfassen?
  3. Konstruktion der Feindbilder
    • Wie wird der zu vernichtende "Feind" dargestellt?
    • In welcher imaginären und ideologischen Welt leben die Täter?
    • Wie lassen sich die dem Massaker vorausgehenden und mit ihm einhergehenden Propagandamotive analysieren?
    • Welche Bedeutung kommt in Bezug auf eine sich verschlechternde Wirtschaftslage der Angst und dem Gefühl kollektiver Unsicherheit zu?
  4. Form und Ablauf des Massakers
    • Lassen sich die Hauptphasen im Ablauf des Verbrechens (Vorbereitung, Beschlussfassung und Durchführung) klar unterscheiden?
    • Lässt sich die "Methode" beschreiben (Tötung an Ort und Stelle, Deportation und Aussetzung, Vernichtungslager)?
    • Was lässt sich aus der Art der benutzten Waffen entnehmen?
    • Werden die Opfer mit kühler Rationalität oder im Rahmen bestialischer Exzesse getötet?
    • Sind mit der Tötung stets sexuelle Motive und Vergewaltigungen verbunden?
  5. Zeitliche Umstände des Massakers
    • Vorzeichen: Wie sehen die möglichen Indikatoren für die Auflösung des sozialen Bandes zwischen den späteren Opfern und ihrer unmittelbaren Umgebung aus?
    • Gibt es eine "Zeit" des Massakers in Bezug auf die innenpolitische Situation des Landes oder auf die internationale Lage?
    • Steht das Massaker im Kontext eines Krieges oder des Zerfalls eines Imperiums?
    • Haltung der näheren oder ferneren Umgebung: Gibt es stillschweigende Zustimmung, Proteste oder sogar Rettungsaktionen?
  6. Politische Auswirkungen und Medieneffekte
    • Sollte das Massaker verheimlicht oder publik gemacht werden? Wollte man dementsprechend die Leichen verschwinden lassen oder zur Schau stellen?
    • Hat das Massaker eine politische Wirkung auf den aktuellen Konflikt, und wenn ja, welche?
    • Verschafft es bestimmten Akteuren neue Legitimität?
    • Wie verbreiten sich die diesbezüglichen Nachrichten?
    • Bleibt es lange unbekannt, oder wird es sofort bekannt?
    • Sollten die potentiellen Opfer terrorisiert werden? Damit sie aus einem beanspruchten Territorium fliehen? Um eine politisch destabilisierende Bewegung auszulösen?
  7. Die Diskurse "danach"
    • Auf Seiten der Zeugen: Wer weiß "wirklich", was geschehen ist? Strukturanalyse der Berichte von Journalisten und NGO-Mitarbeitern.
    • Auf Seiten möglicher Überlebender: Wer kann darüber sprechen? Wer kann den Horror zur Sprache bringen? Wie lassen sich Realitäten, Verzerrungen und Erfindungen auseinanderhalten?
    • Auf Seiten der Täter: Leugnungs- oder Bekennerdiskurse? Können sie überhaupt Schuld empfinden?
Man kann an Vokabeln wie NGO und Hinweisen auf wirtschaftliche Aspekte und die Rolle der Medien unschwer erkennen, dass der Fragebogen auf aktuelle, zeitgeschichtliche Verhältnisse bezogen ist. Gesetzt den Fall, wir würden ihn - retrospektiv - auf historische Szenarien anwenden wollen: Fehlen dann Kategorien und Fragen? Sind andere entbehrlich?
 
Instrumentalisierung von "Völkermord"

In diesem Thread versuche ich, grausige historische Ereignisse in einer "akademischen" Art und Weise anzusprechen. Früher oder später rührt das freilich an Aspekte, die Affekte und Reflexe hervorrufen können. Das gilt z.B. für die Frage, was es eigentlich politisch-historisch bedeutet bzw. welche Folgen es hat (haben soll), wenn ein Ereignis als Massaker oder gar als Völkermord qualifiziert wird. Sémelin widmet dem ein Kapitel (S. 335 ff.), in welchem er in Bezug auf Völkermord die Möglichkeit/Gefahr der "Instrumentalisierung" (S. 337 ff.) anspricht.

Der Begriff "Instrumentalisierung" ist aus meiner Sicht nicht unproblematisch, weil er eben auch eine negative Konnotation hat: Jemand benutzt das Instrument gegen einen anderen. Deswegen ist es wichtig zu zeigen, was der Autor darunter verstanden wissen will, wobei die folgenden Punkte z.T. meine eigene Interpretation sind.

1. "Völkermord" als Notsignal (S. 338)
In solchen Fällen wird der Begriff gebraucht, um die Völkergemeinschaft zu drängen, angesichts gegenwärtiger Gewalttaten Maßnahmen zu ergreifen, d.h. in geeigneter Weise zu intervenieren. Typisches Beispiel aus unseren Tagen: Darfur. (Das wird, weil noch die Gegenwart betreffend, hier nicht weiter ausgeführt. Aber auch Lemkin - als Schöpfer des "genocide"-Begriffs - wollte sicherlich ein solches Signal geben; siehe auch Ziffer 3.)

2. "Völkermord" als konstituierendes Element einer Erinnerungskultur (S. 337)
Die Erinnerung an einen Völkermord leistet einen Beitrag zu Identitätsfindung/-behauptung einer Gruppe. Typisches Beispiel ist für den Autor die Geschichte des armenischen Volkes, welches in der Geschichte selten oder nie einen Nationalstaat bilden konnte, aber sich durch die Erinnerung an die Ereignisse vor 100 Jahren als Ganzes erfährt.

3. "Völkermord" als Chiffre für "das absolut Böse" (S. 335)
Lemkin belegte 1944 das wenige, was er bis dahin über die Vorgänge in Europa hatte erfahren können, mit diesem neuen Begriff, um "etwas ganz und gar Beispielloses", noch nicht Dagewesenes zu beschreiben und anzuprangern, etwas, das ihm als das "schlimmste aller Verbrechen gegen unschuldige Bevölkerungsgruppen" erschien und das keine Steigerungsmöglichkeit mehr zulässt (ultimatives Verbrechen). [1]

4. "Völkermord" als "Waffe der Propaganda" (S. 340)
Die Behauptung, es liege ein Völkermord (im Sinne des ultimativen Verbrechens) vor, kann zum wirksamen Bestandteil politisch-historischer Demagogie gemacht werden. Sémelin verweist darauf, dass "in den 1980er Jahren die Kosovo-Serben erklärt (haben), Opfer eines neuen Völkermords von Seiten der Albaner zu sein".
Der Autor will damit sagen, dass natürlich auch ein Mißbrauch des Begriffs denkbar ist in der Weise, dass er für eine Partei "als rhetorische Keule (fungieren kann), die man gegen seinen Todfeind erhebt". Martin Walser hat etwas Ähnliches bei seiner Paulskirchen-Rede vom 11.10.1998 artikuliert mit dem Satz, Auschwitz eigne sich nicht, "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" zu werden; im damaligen Kontext eine fatale Bemerkung, zumal er den Adressaten (bewusst?) offenlies.

5. "Völkermord" als Behauptung einer zurechenbaren Schuld
Wer das ultimative Verbrechen begeht, macht sich "schuldiger" als jeder andere. Bei diesem Punkt geht es mir nicht um die Tiefe/Schwere von Schuld oder um die Frage, ob Schuld verjähren kann, sondern um den Aspekt "individuelle Schuld versus kollektive Schuld". Die Frage etwa, ob der Mord an den europäischen Juden die Schuld Einzelner war (im Extremfall: Hitler und einige Fanatiker in seinem Umkreis) oder einer (sehr) großen Zahl von Tätern zuzurechnen ist, ist bis heute ein großes Thema - ich verweise nur auf die Goldhagen-Debatte.

6. "Völkermord" als Feststellung eines Strafbedürfnisses
Wer schuldig geworden ist, muss dafür zur Verantwortung gezogen, d.h. - nach unserem herrschenden kulturellen Verständnis - bestraft werden. Wichtig: Es müssen auch und gerade diejenigen bestraft werden, die an der Spitze von Staaten/Organisationen stehen. Diese Frage ist erst seit dem Ersten Weltkrieg in den Blick gerückt, indem die Alliierten 1915/6 die türkische Staatsführung für die Ereignisse in Armenien verantwortlich machten und 1918/9 die Auslieferung des deutschen Kaisers und anderer Exponenten verlangten.

7. "Völkermord" als Parteinahme für die Opfer (S. 339)
In Anlehnung an die Punkte 1 und 2 wird der Begriff verwendet, um für diejenigen Partei zu ergreifen, die Opfer des ultimativen Verbrechens geworden sind. Ich meine, dass darunter sowohl der Aspekt des "Mit-Leidens" gefasst werden kann als auch der der praktischen Solidarität mit den Überlebenden.

8. "Völkermord" als Grundlage für die Entschädigung der Opfer
Sehr praktisch, in Fortführung der Punkte 5 und 7, ist natürlich das, was in der deutschen Geschichte nach 1945 als "Wiedergutmachung" bezeichnet wurde. Wenn der Tatbestand des ultimativen Verbrechens vorliegt, dann kann es keine wirksamen Einreden gegen die Forderung nach Entschädigung der Opfer geben.

Bis dahin mal in der Hoffnung, mich nicht zu weit aufs Glatteis begeben zu haben.


[1] Die Zitate beziehen sich auf Sémelin. Eine Neuausgabe von Lemkins Buch kann auszugsweise hier angeschaut werden: Axis Rule in Occupied Europe
[2] Die Punkte 5/6 haben natürlich eminente juristische Implikationen etwa in der Frage, ob bestimmte innerstaatliche Organisationen als Ganze als "verbrecherisch" zu qualifizieren sind, wie es in Nürnberg z.B. für die SS bejaht wurde; vgl. zur Grenze von individueller und kollektiver Verantwortlichkeit z.B. Hans Vest: Genozid durch organisatorische Machtapparate. Baden-Baden 2002.
 
4. "Völkermord" als "Waffe der Propaganda" (S. 340)
Die Behauptung, es liege ein Völkermord (im Sinne des ultimativen Verbrechens) vor, kann zum wirksamen Bestandteil politisch-historischer Demagogie gemacht werden. Sémelin verweist darauf, dass "in den 1980er Jahren die Kosovo-Serben erklärt (haben), Opfer eines neuen Völkermords von Seiten der Albaner zu sein".
Der Autor will damit sagen, dass natürlich auch ein Mißbrauch des Begriffs denkbar ist in der Weise, dass er für eine Partei "als rhetorische Keule (fungieren kann), die man gegen seinen Todfeind erhebt". Martin Walser hat etwas Ähnliches bei seiner Paulskirchen-Rede vom 11.10.1998 artikuliert mit dem Satz, Auschwitz eigne sich nicht, "jederzeit einsetzbares Einschüchterungsmittel oder Moralkeule" zu werden; im damaligen Kontext eine fatale Bemerkung, zumal er den Adressaten (bewusst?) offenlies.
Es ist sehr interessant den Fall Paulskirchen-Rede einmal so dargestellt zu lesen. (Ich kenne mich freilich en detail nicht aus.) Damals war ich noch zu jung (und ich interessierte mich so wenig oder viel dafür wie noch heute), um die Nachrichten im Fernsehen zu der Rede richtig einzuordnen.
Wenn jemand etwas Negatives herauslesen will, dann machen es einem gerade die Intelektuellen leicht. Deren Reden sind im Grunde ja auch nicht für die unbedarften Ohren einer Allgemeinheit gedacht, sondern eher für Kenner, welche die Offenlassung eines Adressaten (wie in dem Falle) aufgrund der Kenntnis über die Einstellung des Redners als keinen Hinderungsgrund sehen, den wahren Sinn einer Rede zu begreifen.
Nachrichtenmagazinen, also Journalisten, wäre es freilich oftmals zu langweilig vielleicht Kenner der Materie zu befragen, zumal es kontraproduktiv für die Erstellung von Schlagzeilen wäre.

Ich habe nun jedenfalls etwas zum Grübeln für die nächsten Tage. Freilich läuft alles auf die alte Weisheit hinaus, dass Geschichte eben etwas ist, worauf man sich geeinigt hat. Eventuell gewinnt derjenige mit den seriösesten Historiker oder besten Rednern auf seiner Seite und das trifft leider auch bei so ernsthaften Themen wie "Völkermord" zu.
Hat man keine oder nur sehr wenige Fürbitter um die Öffentliche Meinung, so kann es sein, dass das, was schon Menschen mit einer geringen Kenntnis von Geschehnissen offensichtlich erscheint, von dem Rest der Menschheit beflissentlich ignoriert wird.
Juristisch freilich ist ein "Völkermord" wohl auch dann einer, wenn keiner (gut, das ist immer eine Überspitzung - einer Art Superlativ) davon Kenntnis nimmt.
 
Freilich läuft alles auf die alte Weisheit hinaus, dass Geschichte eben etwas ist, worauf man sich geeinigt hat. Eventuell gewinnt derjenige mit den seriösesten Historiker oder besten Rednern auf seiner Seite und das trifft leider auch bei so ernsthaften Themen wie "Völkermord" zu.
Da hast Du recht - es reicht bisweilen nicht aus, "die Tatsachen sprechen zu lassen", wie es manchmal so schön heißt. Gleichwohl dürfen wir die Hoffnung nicht aufgeben, dass historische Wahrheit und rhetorischer Erfolg dann und wann zusammenfallen...:winke:

Ich sollte noch zum letzten Beitrag ergänzen, dass es mir (auch) darum geht, zu klären oder wenigstens Thesen darüber zu entwickeln, warum "Völkermord"-Diskussionen - auch hier im GF - so stark affektiv besetzt und anfällig für Mißverständnisse sind. Mal sehen, ob das gelingt.
 
Ich sollte noch zum letzten Beitrag ergänzen, dass es mir (auch) darum geht, zu klären oder wenigstens Thesen darüber zu entwickeln, warum "Völkermord"-Diskussionen - auch hier im GF - so stark affektiv besetzt und anfällig für Mißverständnisse sind. Mal sehen, ob das gelingt.
Das ist bestimmt sehr schwer zu entdecken.

Moral und Geschichtsschreibung sind da, wie mir scheint eng verzahnt, und gerade dadurch kommt es mir oft vor, dass die Abwägung ein Balanceakt ist.
Wo bleiben die Historiker Historiker und wo werden sie zu Moralisten?

Beispiele zu nennen, ohne damit anzuecken, erscheint mir ja bereits schwer.
Möglichst unaufgeregt ließe sich vielleicht dieses fiktive Beispiel nennen:
Ein Geschichtsstudent zur DDR-Zeit soll eine Darstellung über die Septembermorde machen. Ihm ist aber klar, dass trotz der Faktenlage dadurch der allgemeinen Historikermeinung seines Umfeldes Rechnung getragen werden muss, d.h. am Ende müssen die Geschehnisse möglichst beschönigt und in einem Zusammenhang gestellt werden, welcher weder Montagnards noch die Revolution verdunkelt.*
Die zeitgleiche "historische Moral" (gibt es den Ausdruck?) ist meinetwegen: über allem steht der Fortschritt und die (wenngleich vielleicht nur vermutete) Errungenschaft des Sieges über den Feudalismus. Diesem moralisch festgelegten Fundament muss jegliche Forschung oder zumindest Präsentation des Ergebnisses derselben unterworfen werden.


Nun sind Forianern vielleicht nicht die moralischen Grenzen bekannt oder sie kennen nicht unbedingt (ich auch nicht) alle Begriffe welche nationalsozialistisch, kommunistisch sonstwie -istisch belegt sind. Ja, selbst bestimmte Gedankengänge führen schon in einer Diskussion auf Minenfelder, welche den Historikern des Forums (v.a. wenn es Minenfelder ihres Fachgebietes sind) bekannt sind - auch ohne dass der "Angeklagte" vielleicht die "Alarmwörter" aussprach.

* Wir hatten ja schon einige Forianer hier, welche quasi diese DDR-Lehrmeinung (oder vermute ich nur eine?) praktisch immernoch getreulich teilten.:fs:
 
Ich sollte noch zum letzten Beitrag ergänzen, dass es mir (auch) darum geht, zu klären oder wenigstens Thesen darüber zu entwickeln, warum "Völkermord"-Diskussionen - auch hier im GF - so stark affektiv besetzt und anfällig für Mißverständnisse sind. Mal sehen, ob das gelingt.

@jschmidt
Erstmal vielen Dank für die exzellenten Beiträge #21 und #22.

Zu letzten Frage:
In #21 wird doch eindruckvoll zusammengestellt, welche Rekonstruktionsfragen bestehen. Man bekommt eine Vorstellung davon, wie schwierig die Details zu ermitteln sind.

Darauf aufbauend zeigt #22 Aspekte der Instrumentalisierung bzw. Aspekte der Völkermorddiskussion. Beides zusammengeführt: die Themen sind besondern zur Polarisierung geeignet, zum Streit über kleinste Faktenschnipsel, eingebettet häufig in einen komplizierten Kontext, und es finden sich reichlich Verfechter der Standpunkte.

Mißverständnisse, Erkenntnislücken und emomtionale Diskussionen sind da fast programmiert, wobei diese Diskussion zugleich die Sachfragen verdrängt bzw. keine Schlüsse zuläßt, wie tief ein Diskutant wirklich im Thema steckt.
 
"Völkermord als Notsignal" ist schon mal ein interessantes Minenfeld, von dem "absolut bösem", der "Propaganda".
Das paradoxe ist, dass hier die Lösung mitunter das Problem darstellt.
So zeigt sich schon beim Antisemitismus der Nazis, die absurde Idee durch Vernichtung der Juden könne eine angebliche drohende Vernichtung des eigenen Volks vereitelt werden, ehedem Völkermord durch Völkermord verhindert werden. Just angeführt noch die Fiktion - oder spreche ich besser von der Lüge -, die Juden hätten auch schon das ein oder andere Volk vernichtet.

Julius Streicher, Herausgeber des Nazi-Blattes "Der Stürmer", 1925.
Volksgenossen: erkennt doch endlich die Zeichen der Zeit!
unseres Volkes will und die als Werkzeug benützt, die seine Arbeit tun! Deshalb kommt zu uns und verlaßt die, die Krieg Inflation und Uneinigkeit in unser Volk gebracht haben! Seit Jahrtausenden vernichtet der Jude die Völker. Macht heute den Anfang, daß wir den Juden vernichten können! Heute herrscht noch Alljuda.
Es wird aber eine Zeit kommen, da werden sich die Völker der Erde
zusammenschließen und Alljuda niederringen.

Ironischerweise kommt der der Nationalsozialismus genau darauf zu sprechen: Einen finalen Rassenkampf in dem es eben um Sieg und Untergabng des eigenen Volkes geht. Der Holocaust gewissermaßen als Abwehrreaktion der drohenden eigenen Vernichtung.
Wie auch immer: Völkermord war schon ein große Sache, die politisch missbraucht wurde, bevor das Delikt überhaupt geschaffen wurde, allemal kann allein schon Vorwurf Anlass für weitere Grausamkeiten.
Die Frage, ob der zu rächende oder zu verhindernde Völkermord tatsächlich stattgefunden hat, ist für die Entwicklung des Mythos erstmal nebensächlich, spielt praktisch keine Rolle, da ja die Lüge geglaubt wird. Folgenschwer ist auf jeden Fall die Abwertung des Gegners und die Erhöhung des Einsatzes im großen Krieg. (Hierzu vielleicht noch der Vergleich zu Samual Maharero, der mit seinem Aufruf "Tötet alle Deutschen" eine tatsächliche Gefahr für das Fortbestehen des eigenes Volkes mit dem letzten Mittel abwehren wollte.)
 
Zuletzt bearbeitet:
oder man könnte als "Legitimation" auch diese Zeilen zitieren:

"Wir stehen vor der Tatsache, daß der Geburtenüberschuß in Deutschland auf 1.000 Einwohner 1874 noch 13,4 betrug, 1904 14,5 – 1927 aber nur 6,4! (…) Nach Lenz braucht Deutschland zwecks Stabilisierung seiner Volkszahl auf 78 Millionen 1.366.000 Lebendgeburten. 1927 wurden aber nur 1.160.000 geboren, d. h. von der zur Erhaltung des Bestandes an gebärfähigen Frauen nötigen Mindestzahl fehlten also bereits 15%. (…) Nimmt man hinzu, daß die Völker im Osten sich fortlaufend weiter vermehren (…) so steht die Frage fürs deutsche Volk einfach so, ob es gewillt ist (…) zu siegen oder unterzugehen."

aus:
Der Mythus des 20. Jahrhunderts ? Wikipedia
via:
Morbus Sarrazin Spiegelfechter
:D
 
Ich habe Mühe, das Attribut "altbewährt" nachzuvollziehen, und zwar einmal - ich beziehe mich jetzt auf die alten Römer und bitte herzlich, das Folgende nicht als Zynismus zu verstehen! - aus faktischen Überlegungen (aus Kindern werden Erwachsene, die ihre Väter rächen wollen; Frauen gebären neue Kinder), aus ökonomischen (der Sieger vernichtet Arbeitskräfte, die ihm dienen könnten), und aus "moralischen" (Feinde, welche Römer in ihre Gewalt bekommen, verhalten sich ebenso).
Mit Attribut "altbewährt" wollte ich ausdrücken, dass die Praxis von Völkermord und Massaker über Jahrhunderte gängig war und eine lange Tradition hatte. Faktische Überlegungen der Täter spielen auch eine gewisse eine Rolle, aber eben auch die schlichte Gewohnheit oder auf den ersten Blick irrationale Gründe.

Gerade bei den Römern möchte ich einhaken. Eines der bekanntesten Beispiele des römischen Kriegsgräuels ist die Zerstörung Karthagos im 3. Punischen Krieg in Verbindung mit den berühmten Worten Catos. Nicht nur die Stadt Karthago wurde zerstört, auch die Kultur der Kartager zerstörten die Römer systematisch und zwar nach der Niederlage der Punier und dem eigentlichen Ende der Kampfhandlung. Die Gründe hierfür sind nicht ökonomisch, es wurde viel mehr Sachwerte zerstört. Es geht um totale Viktimisierung.
Dieses Verhalten ist tief in der Kultur verwurzelt. Im Mythos vom Untergang Trojas wird es schließlich zu einem Grundstock abendländischer Kultur.

Vergil Aeneis schrieb:
Oh, wer kann das Gemetzel der Nacht und die Menge der Leichen
Schildern? Wer hat für die Not und Qual hinreichende Tränen?
Ja, jetzt stürzet die Stadt, die manch Jahrhundert geherrscht hat!
Rings in den Straßen und Häusern umher, auf der Götter geweihten
Schwellen zerstreut sieht hilflos man die Gefallenen liegen.
Und nicht büßen die Teukrer allein mit dem Blut: den Besiegten
Kehrt zuweilen der Mut zurück in die zagenden Herzen,
Dass auch der siegende Danaer fällt. Rings grausiger Jammer,
Rings Entsetzen und ringsum Tod in tausend Gestalten!
 
Der juristische Völkermordbegriff, basierend auf der UN-Konvention von 1948, ist hoch problematisch. Diese Definition ist viel enger, dass die von Lemkin. Es handelt sich um einen Kompromiss zwischen den Supermächten. Zugleich werden unter Völkermord auch Tatbestände verstanden, die nichts mit Massenmord zu tun haben, was dem Sprachgebrauch des Alltags widerspricht.

Im Vordergrund stehen nicht die Taten an sich, sondern die Schuld des Täters. Es wird also auf gar keinen Fall von einer Kollektivschuld ausgegangen, sondern es viel mehr jeder Einzeltäter für sich zu richten.

Das entscheidende Merkel ist die Absicht des Täters eine geschütze Gruppe ganz oder teilweise zu zerstören. Eine besondere Schwierig ergibt sich daraus, dass gerade das "teilweise zerstören" ein unbestimmter Rechtsbegriff ist. Wie groß die Teilgruppe sein muss, um von Völkermord zu sprechen, ist völlig unklar.

Nach deutschen Völkerstrafrecht können selbst massive Angriffe auf die Zivilbevölkerung mit dem Ziel diese Bevökerung auszulöschen lediglich ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit nach sein. In § 7 Abs. 1 Nr. 2 VStGB wird davon ausgegangen, dass der Täter die Zivilbevölkerung angreift mit Zivil sie zu vernichten und das dies auch noch gelingt. "Wer im Rahmen eines ausgedehnten oder systematischen Angriffs gegen eine Zivilbevölkerung in der Absicht, eine Bevölkerung ganz oder teilweise zu zerstören, diese oder Teile hiervon unter Lebensbedingungen stellt, die geeignet sind, deren Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen"
Diese Formulierung ist zwar analog zum Völkermord, aber es fehlen die Selektionskriterien Rasse, Ethnie, Nation und Religion. Stattdessen geht nur um die Absicht eine Bevölkerung unabhängig ihrer nationalen, ethnischen, rassischen oder religiösen Identität zu vernichten.
Es kommt bei der juristischen Unterscheidung von Massaker und Völkermord überhaupt nicht darauf an wie viele Menschen der Täter töten möchte, sondern lediglich auf die Selektionskriterien.
 
Hallo Maglor

Schön, dass Du den alten Thread zum Leben erweckt hast – er war ja auch alles andere als abgeschlossen.

Zugleich werden unter Völkermord auch Tatbestände verstanden, die nichts mit Massenmord zu tun haben, was dem Sprachgebrauch des Alltags widerspricht.
Das ist ein berechtigter Hauptpunkt der Kritik. Wenn ich Zeit habe, suche ich mal Beispiele für die stark divergierende Begriffsverwendung.

Wie groß die Teilgruppe sein muss, um von Völkermord zu sprechen, ist völlig unklar.

Nicht völlig. Es muss sich um "einen substantiellen Teil" handeln [1], entweder im quantitativen Sinne (hoher Anteil) oder im qualitativen (z.B. Vernichtung der Gruppen-Elite).

... Selektionskriterien Rasse, Ethnie, Nation und Religion ...

Andere Kriterien wie etwa "politische Überzeugung" sind seinerzeit bewusst weggelassen worden aufgrund des von Dir anfangs erwähnten "Kompromisscharakter" der UN-Konvention. Wichtig ist zum Verständnis, dass die vier Begriffe als "soziale Konstrukte, nicht wissenschaftliche Ausdrücke" zu verstehen sind. [2]


[1] Diesen Begriff verwendet auch das Bundesverfassungsgericht in der Entscheidung vom 12.12.2000
https://www.bundesverfassungsgerich...idungen/DE/2000/12/rk20001212_2bvr129099.html, Rz. 22; vgl. ausführlich Schabas, Genocide in international law, Cambridge 2009, S. 277 ff.
[2] Schabas, aaO, S. 129
 
Nicht völlig. Es muss sich um "einen substantiellen Teil" handeln [1], entweder im quantitativen Sinne (hoher Anteil) oder im qualitativen (z.B. Vernichtung der Gruppen-Elite).
Ich glaube, du hast die Sache mit dem "substantiellen Teil" etwas falsch verstanden. Hierbei wird sich auf den objektiven Tatbestand bezogen, nicht auf den subjektiven.
Bundesverfassungsgericht schrieb:
Der Jugoslawien-Strafgerichtshof (Trial Chamber I) hat sich ferner mit der Völkermordabsicht in seinem Urteil in Prosecutor v. Goran Jelisic (Case No. IT-95-10) auseinander gesetzt. Übereinstimmend mit den angegriffenen Urteilen wird dort angenommen, dass Völkermord auch an einer in einem geographisch begrenzten Gebiet lebenden geschützten Gruppe begangen werden kann. Ebenfalls übereinstimmend wird die Völkermordabsicht als eine spezifisch gegen ein überindividuelles Rechtsgut gerichtetes Delikt gesehen, bei dem der Täter das einzelne Opfer nicht als Individuum, sondern als Mitglied der Gruppe angreife. Die Zerstörungsabsicht wird ebenfalls weiter verstanden als physisch-biologische Vernichtung. Denn die Zerstörung der Gruppe kann nach Ansicht der Kammer auch durch die Kombination der Vernichtung eines substantiellen Teils mit gegen die anderen Gruppenmitglieder gerichteten pönalisierten Maßnahmen bewirkt werden. Substantiell will die Kammer im Sinne von quantitativ oder alternativ qualitativ verstehen. Die Zerstörungsabsicht kann danach auch auf das Verschwinden einer begrenzten Zahl von Personen gerichtet sein, wenn diese wegen des Eindrucks ihres Verschwindens auf die Gruppe ausgewählt werden. Die Rechtsauffassung der Kammer ist allerdings insofern enger, als sie den Nachweis des organisierten Vorgehens auf die angegriffene, geographisch bestimmte Gruppe bezieht. Insoweit besteht zwischen der Rechtsauffassung der Kammer und der der angegriffenen Urteile zwar möglicherweise eine Differenz, die jedoch kein im Hinblick auf den nullum crimen Grundsatz erhebliches Gewicht erreicht.
- 2 BvR 1290/99 -
Es sei bereits Völkermord, wenn man den "substanziellen Teil" einer Bevölkerung umbringt, denn das Ermorden des "substanziellen Teils" der Gruppe genüge in Kombination mit der Verteibung der nicht-substanziellen Teile um die Gruppe als ganzes zu vernichten. Die Absicht (subjektiver Tatbestand) ist es hierbei die Gruppe als ganzes zu vernichten, das gewählte Mittel (objektiver Tatbestand) ist es, den "substanziellen Teil" umzubringen.

Was es bedeutet, die Absicht zu haben, eine Gruppe "teilweise zu zerstören" hat das Bundesverfassungsgericht somit keineswegs mit dem "substanziellen Teil" erklärt.
Dieer Punkt wird direkt davor angeschnitten. Die Teilgruppe wird geografisch begrenzt. Es ist daher bereits Völkermord, wenn in der Absicht gehandelt wird, ein geografisch bestimmten Teil einer geschützte Gruppe innerhalb dieser Region zu vernichten, auch wenn man sich damit zufrieden gibt, dass die Gruppe in anderen Regionen weiterleben kann.



Aus einem anderen Thread:
Im Weiteren zum Problem "Männer" als "Teilgruppe", selbst wenn diese nur wegen ihrer Gruppenzugehörigkeit und nicht aus Motiven des Aufstandes angegriffen worden wären, erläutert am Beispiel Srebrenica (wo das Problem des Widerstandes gegen einen Aufstand keine Rolle spielt:

"... versteht die bosnisch-muslimischen Männer in Srebrenica also offenbar als eine qualitative Teilgruppe einer (größeren) räumlichen Teilgruppe. Eine solche Kombination unterschiedlicher Kriterien führt zu einer Auflösung des Gruppenbegriffs und ist daher nicht plausibel. Die Einstufung der in Srebrenica begangenen Straftaten als Völkermord setzt daher voraus, dass es bei der Gesamttat um die Zerstörung nicht lediglich der bosnisch-muslimischen Männer, sondern der aller bosnischen Muslime in Srebrenica ging."

MünchKom zum StGB, Völkermord, TZ 77.
Bemerkenswert ist, dass im Münchner Kommentar zwischen qualitativen und räumlichen Teilgruppen unterschieden wird bzw. diese Unterscheidung als "unplausibel" abgelehnt wird.
Auseinander dividiert zum Massaker von Srebrenica: Die bosnisch-muslimischen Männer sind eine qualitative Teilgruppe. Eine räumliche Teilgruppe bilden die bosnischen Muslime Srebrenicas.
Umgebracht (objektiver Tatbestand) wurden in erster Linie die Männer. Die Absicht (subjektiver Tatbestand) sei es jedoch gewesen alle bosnischen Muslime Srebrenicas zu "zerstören". (Wichtig ist hier der gewählte Begriff. Man kann die Teilgruppe der bosnischen Muslime Srebrenicas auch zerstören, ohne die Gesamtbevölkerung zu ermorden. Einschüchterung, Vertreibung und Viktimisierung sind bereits geeignete Mittel zur Zerstörung der gesamten Bevölkerungsgruppe.)
Bei dieser Einordnung des "Massakers" von Srebrenica ist zu beachten, dass nur von einer Vernichtungsabsicht gegen die muslimische Bevölkerung der Stadt Srebrenica ausgegangen wird. Die Absicht alle Muslime Bosniens (oder gar der ganzen Welt) zu vernichten, wird gar nicht unterstellt.

Srebrenica war noch nicht einmal eine besonders große oder politisch oder historisch wichtige Stadt. Die bonischen Muslime der Region und Stadt Srebrenica war in ihrer Qualität oder Quantität nicht der substanzielle Teil der Gesamtgruppe der bosnischen Muslime.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich glaube, du hast die Sache mit dem "substantiellen Teil" etwas falsch verstanden. ... Was es bedeutet, die Absicht zu haben, eine Gruppe "teilweise zu zerstören" hat das Bundesverfassungsgericht somit keineswegs mit dem "substanziellen Teil" erklärt.
:grübel:Ich habe lediglich geschrieben, dass das BVerfG den Begriff "verwendet". Wie es ihn interpretiert ("Substantiell will die Kammer im Sinne von quantitativ oder alternativ qualitativ verstehen."), geht aus Deinem Zitat hervor.

Zur Frage, was "teilweise" ("in part") bedeutet, nochmal Schabas (S. 277-286). Er nennt vier Ansätze, die allesamt die Absicht voraussetzen, die Gruppe als Ganzes zu zerstören:
1. Direkt zerstört wird eine nicht weiter spezifizierte Zahl von Gruppenangehörigen. [1]
2. Die zerstörte Teilgruppe ist von ihrer Zahl her (quantitativ) so bedeutsam, dass die Überlebensfähigkeit der Gruppe als Ganzes zerstört wird.
3. Der zerstörte Teilgruppe (z.B. Führungselite, Akademiker/Intellektuelle usw.) ist qualitativ so bedeutsam, dass die Überlebensfähigkeit der Gruppe als Ganzes zerstört wird.
4. Die zerstörte Teilgruppe umfasst diejenigen Gruppenangehörigen, die sich in einem bestimmten geographischen Bereich befinden.

Kann man überhaupt sagen, dass einer dieser Ansätze durchgängig vertreten und angewendet wird? Oder ist es so (siehe BVerfG), dass die Gerichtspraxis Ansätze miteinander kombiniert? Wie steht es mit dem fürs Strafrecht grundlegenden Bestimmtheitsgrundsatz?


[1] Dieser Ansatz wurde US-seitig verworfen: "Members of the Senate were concerned that article II might apply to the lynching of African-Americans, a not infrequent occurrence in the apartheid-like regime of the southern United States at the time."
 
Kann man überhaupt sagen, dass einer dieser Ansätze durchgängig vertreten und angewendet wird?

In diesem Kontext nochmal der Hinweis, der ursprünglich von Ursi kam, auf das Buch von Barth.

Im 1. Kapitel diskutiert er vor allem die rechtliche Seite des Genozids. Dabei diskutiert er die unterschiedlichen Sichten und Definitionen einer Reihe von Autoren zum Thema Genozid und zeigt ihre Stärke und die Kritik daran auf.

Insgesamt brauchbar als Einstieg in die Vielschichtigkeit des Themas, aber nicht mehr aktuell in der Darstellung der laufenden Diskussion.

Ein Indikator dafür ist die geringe Berücksichtigung von Lemkin, der mittlerweile sehr zentral ist für die aktuelle Diskussion.

https://books.google.de/books?id=VcGOLZ1NyC8C&printsec=frontcover&dq=boris+barth&hl=de&sa=X&redir_esc=y#v=onepage&q=boris%20barth&f=false

Aus der Darstellung von Barth - und auch bei anderen - wird aber auch deutlich wie interessengebunden - vor allem um 1948 und in der Folge im Kalten Krieg - und somit eingeschränkt die rechtliche Formulierung entsprechender Gesetze zu Genoziden ist. Stichwort "politische Verfolgte" als Gruppe für einen Genozid etc., die aus politischen Gründen ausgeklammert worden sind.
 
[1] Dieser Ansatz wurde US-seitig verworfen: "Members of the Senate were concerned that article II might apply to the lynching of African-Americans, a not infrequent occurrence in the apartheid-like regime of the southern United States at the time."
Ich beginne einmal mit dem Ende deiner Ausführung. Es zeigt das ganze Dilemma. Es gibt eine ganze Reihe von Staaten, die Einwände der UN-resolution gegenüber hatten. Die USA sehen es in diesem Fall durchaus richtig. Wird die Größe nicht näher spezifiziert, wird der Völkermord beliebig. das kann aber nicht der Sinn einer Völkermord-Resolution sein.

......
Er nennt vier Ansätze, die allesamt die Absicht voraussetzen, die Gruppe als Ganzes zu zerstören:
1. Direkt zerstört wird eine nicht weiter spezifizierte Zahl von Gruppenangehörigen. [1]
s.o.

2. Die zerstörte Teilgruppe ist von ihrer Zahl her (quantitativ) so bedeutsam, dass die Überlebensfähigkeit der Gruppe als Ganzes zerstört wird.
Das klingt einleuchtend.

3. Der zerstörte Teilgruppe (z.B. Führungselite, Akademiker/Intellektuelle usw.) ist qualitativ so bedeutsam, dass die Überlebensfähigkeit der Gruppe als Ganzes zerstört wird.
Hier muß man vorsichtig sein. Wenn die Zerstörung der Elite dazu dient, daß Volk in seiner existenz zu zerstören, dann kann man dem zustimmen. Die Vernichtung der Elite kann aber auch militärisch Sinn machen, um die Widerstandsfähigkeit eines Volkes zu zerstören. Das muß aber nicht zwangsläufig nicht die Zerstörung des Volkes nach sich ziehen. Es kann aber auch über kurz oder lang zu einer Assimilierung führen. Ist Assimilierung Völkermord?

4. Die zerstörte Teilgruppe umfasst diejenigen Gruppenangehörigen, die sich in einem bestimmten geographischen Bereich befinden.
Diese Definition stützt gerade den Holocaust. Ich will ihr auch gar nicht widersprechen. Zu bedenken wäre aber, wie man einen geographischen Bereich definiert, Kontinent, Staat, Region, Stadt..... Was heißt zudem "zerstört"? Das ist alles sehr schwammig und insgesamt wenig hilfreich.
 
Was heißt ... "zerstört"? Das ist alles sehr schwammig und insgesamt wenig hilfreich.

Kannichnixdafür. Das ist Originaltext in Artikel 2 Anti-Genozid-Konvention ("genocide means any of the following acts committed with intent to destroy, in whole or in part, a national, ethnical, racial or religious group art") bzw. § 6 Völkerstrafgesetzbuch ("Wer in der Absicht, eine nationale, rassische, religiöse oder ethnische Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören..."), gefolgt von den von Maglor in #19 zitierten Punkten.

Zu bedenken wäre aber, wie man einen geographischen Bereich definiert, Kontinent, Staat, Region, Stadt...

Alle Varianten sind denkbar! Beispiele von Schabas:
(1) Zielgruppe der türkischen Regierung waren 1915 die Armenier innerhalb der türkischen Staatsgrenzen, nicht aller Armenier in der ganzen Welt. (In etwa gilt das auch für Ruanda 1995; beim Holocaust ist es nicht so eindeutig.)
(2) Durch eine (umstrittene) UN-Resolution wurde 1982 die Ermordung einiger hundert palästinensischer Flüchtlinge in den Lagern Sabra und Shatila (nahe Beirut) als "act of genocide" deklariert.
 
Was zur Frage (zurück)führt, welchen Wert eigentlich für Historiker ein Begriff hat, der sich auf eine so große Zahl von Sachverhalten/Taten anwenden lässt.

Aus meiner bisherigen Sichtung der Literatur würde ich sagen, dass es eine Definitionsfrage bleiben wird, was als Genozid unter einer historischen und / oder soziologischen Sicht definiert wird (vgl. Link zu den Definitionen).

Deutlich wird die inhaltliche Problematik beispielsweise an dem Begriff des „lokalen Genozids“, der für bestimmte Massentötungen im früheren Jugoslawien geprägt wurde. Oder wird auch deutlich an der zunehmenden Bedeutung des „cultural genocide“.

In Anlehnung an den Beitrag in #21 soll die folgende Lemkin-zentrierte Darstellung zum Genozid die obige Frage erneut aufgreifen und inhaltlich vertiefen.

Obwohl Lemkin Jurist war, diskutierte er das Konstrukt des Genozids teils unter historischen und teils unter soziologischen Gesichtspunkten und diese Sicht hat sein Verständnis geprägt. [7, S. 16]

Bei der Bestimmung, was aus seiner Sicht zum Genozid gehört, kann man die Mehrdimensionalistät der einzelnen Aspekte dieses Phänomens schnell erkennen. Im Zentrum des Genozids steht zunächst die komplette oder teilweise „Zerstörung“ einer Gruppe. Es wird dabei eine definierte Gruppe angenommen, die durch eindeutige Merkmale oder durch das soziale Zusammenleben definiert ist. Neben der physischen Bedrohung steht dabei die Beeinträchtiung der sozialen und politischen Reproduktion dieser Gruppe.

Die einzelnen Aktionen, sein sich militärisch oder andere administrative Eingriffe, ergänzen sich in ihrer Wirkung auf die Gruppe und wirken mehrdimensional(2, S. 76ff)

New conceptions require new terms. By "genocide" we mean the destruction of a nation or of an ethnic group. …Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate destruction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation. It is intended rather to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves.

Der Genozid verläuft dabei nicht unbedingt zeitlich begrenzt ab, sondern kann sich in der Intensität durchaus steigern. Das kann beispielweise dazu führen, dass spätere Opfer aus der betroffenen Gruppe nicht erkennen können, dass sie in einer „pre-genozidalen Phase“ leben. Die einzelnen Phasen der physischen Bedrohung der betroffenen Gruppe definiert er von rassistischer Diskriminierung, über die Bedrohung der Gesundheit und des Lebens dieser Gruppe bis hin zu einer gezielten massenhaften Tötung der Gruppe als höchste Steigerungsform direkter genozidaler Gewalt.

The physical debilitation and even annihilation of national groups in occupied countries is carried out mainly in the following ways 1. Racial Discrimination in Feeding 2. Endangering of Health. 3. Mass Killing.

Dieses „crippling“ als geplante Strategie zielt auf die soziale bzw. kulturelle Reproduktion der Gruppe ab und durch sie wird die kollektive Identität der Gruppe beschädigt. In dieser Sicht folgt er der zentralen Bedeutung von Kultur für die Reproduktion von sozialen Einheiten wie sie in Gesellschaften, Staaten, Nationen zusammen gefaßt sind.

In diesem Sinne resümiert Moses: „Consequently, he [also Lemkin]concluded „the destruction of cultural symbols is genocide. To destroy their function menaces the existence of the social group which exists by virtue of its common culture.“ [4]

Ähnlich betont Shaw die Zerstörung der kulturellen und sozialen Reproduktion als zentral für das Verständnis in der Theorie von Lemkin. [7]

The objectives of such a plan would be disintegration of the political and social institutions, of culture, language, national feelings, religion, and the economic existence of national groups, and the destruction of the personal security, liberty, health, dignity, and even the lives of the individuals belonging to such groups.

In diesem Zusammenhang listet Lemkin auch religiöse Orientierung auf, auf die ein Genozid abzielen kann und zu einer beschleunigten Desintegration der betroffenen Gruppe führt.

In Luxemburg, where the population is predominantly Catholic and religion plays an important role in national life, especially in the field of education, the occupant has tried to disrupt these national and religious influences

Zur Desintegration der Gruppe tragen zusätzlich Aktionen bei, die auf eine Schwächung traditioneller moralischer Standards oder von Gebräuchen abzielen. Auch diese Form schwächt die Kohärenz der betroffenen Gruppe und tragt zu einer weiteren Desintegration bzw. Auflösung bei.

In order to weaken the spiritual resistance of the national group, the occupant attempts to create an atmosphere of moral debasement within this [p. 90] group. According to this plan, the mental energy of the group should be concentrated upon base instincts and should be diverted from moral and national thinking. … The consumption of alcohol was encouraged, for while food prices have soared

Neben der Beeinträchtigung der sozialen, religiösen und kulturellen Reproduktion kommt die Überlegung hinzu, in aufeinander folgenden Phasen den Genozid ablaufen zu lassen. „Furthermore, genocides … have to be understood as processes. [5, Pos. 173] Und kann nicht an einzelnen Aktionen, so gewalttätig sie auch sein mögen, analytisch gebunden werden.

Vielmehr wird in der ersten Phase eine bestehende Gruppe und soziale Organisation destruiert und erst in der zweiten Phase wird die unterdrückte Gruppe teilweise oder komplett ausgelöscht bzw. sie wird durch die eigene Bevölkerung ersetzt. Somit gehört die Auslöschung aus der Sicht von Lemkin bzw. die Vertreibung als ein weiteres Element zum Genozid.

Genocide has two phases: one, destruction of the national pattern of the oppressed group; the other, the imposition of the national pattern of the oppressor. This imposition, in turn, may be made upon the oppressed population which is allowed to remain or upon the territory alone, after removal of the population and the colonization by the oppressor's own nationals

Der dritte Bereich, neben der unmittelbaren Existenz bzw. der kulturellen, der sozialen oder der politischen Reproduktion betrifft die Fähigkeit zur ökonomischen – auch landwirtschaftlichen – Reproduktion. Die Zerstörung der ökonomischen Grundlagen verändert dabei die kulturellen Grundlagen der Reproduktion der Gruppe bzw. Gesellschaft.

The destruction of the foundations of the economic existence of a national group necessarily brings about a crippling of its development, even a retrogression. The lowering of the standards of living creates difficulties in fulfilling cultural-spiritual requirements. Furthermore, a daily fight literally for bread and for physical survival may handicap thinking in both general and national terms.

Eine besondere Stellung nimmt dabei der Genozid ein, der im Kontext eines Krieges begangen wurde, und auf die Erringung einer überlegenen Position abzielt, unabhängig davon, wer den Krieg real gewinnt. In diesem Sinne zielt der Genozid auf die nachhaltige Schwächung des Gegners ab, die es ihm nicht ermöglicht nach dem Krieg eine soziales oder politisches Gebilde zu errichten, das dem des Vorkrieges in seiner Leistungsfähigkeit entspricht.

In diesem Kontext zielt der Genozid primär auf die „Eliten“ der unterdrückten Gruppe ab, da sie das kollektive Gedächtnis repräsentieren, das die kollektive Identität der unterdrückten Gruppe rekonstruieren könnte.

The enemy nation within the control …must be destroyed, disintegrated, or weakened in different degrees for decades to come. Thus the [suppressor]people in the post-war period will be in a position to deal with other ….peoples from the vantage point of biological superiority. ..In this respect genocide is a new technique of occupation aimed at winning the peace…

The destruction of the national pattern in the social field has been accomplished in part by the abolition of local law and local courts and the imposition of [the suppressor] law and courts, and also by [the adjustment] of the judicial language and of the bar [of the suppressor nation]. The social structure of a nation being vital to its national development, the occupant also endeavors to bring about such changes as may weaken the national, spiritual resources. The focal point of this attack has been the intelligentsia, because this group largely provides the national leadership and organizes resistance …In order to prevent the expression of the national spirit through artistic media, a rigid control of all cultural activities has been introduced.

Interessanterweise wirft Lemkin auch die Frage nach der Verantwortung für Genozide auf. Im Prinzip unterscheidet Lemkin dabei zwischen den unmittelbaren ausführenden Akteuren und den denen, die als „Schreibtischtäter“ die entsprechenden Feindbilder im Rahmen ihrer Ideologie ausformuliert haben.

4. The liability for genocide should rest on those who gave and executed the orders, as well as on those who incited to the commission of the crime by whatever means, including formulation and teaching of the criminal philosophy of genocide. Members of government and political bodies which organized or tolerated genocide will be equally responsible. [3]

Vor diesem Hintergrund wird auch deutlich, dass das Konzept des Genozids „Consequently, …attached great importance to the phenomenem of colonialism …“ und: „ It is therefore not surprising taht Lemkin himself wrote extensively on the destruction of indigenous peoples in the Americas and on atrocities commited by Europeans in Africa. [5, Pos. 210]

Und Jones ordnet die Studien von Lemkin dahingehend ein, dass er schreibt: „Many or most oft he examples he cites would be uncontroversial among a majority of genocide scholars today.“ [1, Pos. 1237]

An der Vielschichtigkeit der einzelnen Aspekte, die laut Lemkin zum Genozid gehören, wird deutlich, dass eine korrekte analytische Einschätzung von Genoziden an eine differenzierte soziale, kulturelle und politische Analyse gebunden ist.

Lemkin
Sec. II of Chap. IX from "Axis Rule in Occupied Europe," by Raphael Lemkin, 1944 - - Prevent Genocide International

Definitionen von Genoziden
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verwendete Literatur
1. Jones, A. (2010): Genocide: A Comprehensive Introduction: Taylor & Francis
2. Lemkin, Raphael (2008): Axis rule in occupied Europe. Laws of occupation, analysis of government, proposals for redress. 2nd ed. Clark, N.J.: Lawbook Exchange
3. Lemkin, Raphael; Jacobs, Steven L. (2011): Lemkin on genocide. Lanham, Md: Lexington Books.
4. Moses, Dirk A. (2013): Raphael Lemkin, Culture, and the Concept of Genocide. In: Donald Bloxham und A. Dirk Moses (Hg.): The Oxford handbook of genocide studies. Oxford, New York: Oxford University Press, S. 19–41.
5. Schaller, Dominik J.; Zimmerer, Jürgen (2013): The Origins of Genocide. Raphael Lemkin as a historian of mass violence. Hoboken: Taylor and Francis.
6. Schaller, Dominik J. (2005): Raphael Lemkin's view of European colonial rule in Africa. Retween condemnation and admiration. In: Journal of Genocide Research 7 (4), S. 531–538.
7. Shaw, Martin (2015): What is genocide? Second edition. Malden, MA: Polity Press.
 
Aus meiner bisherigen Sichtung der Literatur würde ich sagen, dass es eine Definitionsfrage bleiben wird, was als Genozid unter einer historischen und/oder soziologischen Sicht definiert wird (vgl. Link zu den Definitionen).
Ja, dass kann man als bereichernd oder dilemmatisch ansehen.

Gerade im angloamerikanischen Schrifttum ist ja die Zahl der Monographien und Handbücher zum Thema stark angestiegen, und natürlich nimmt jeder die Bürde auf sich, eine eigene Definition zu entwickeln – mit mal mehr, mal weniger Nähe zur tatsächlichen Handhabung des Völkerstrafrechts. In Fortführung Deiner Liste greife ich aus dem mir Vorliegenden heraus [1]:

8. Mark Levene: Genocide in the Age of the Nation-State. 2 vol. London 2005
9. Dinah L. Shelton (Ed.): Encyclopedia of Genocide and Crimes against Humanity. 3 vol. Farmington Hills, MI 2005
10. Dan Stone (Ed.): Historiography of Genocide. Houndmills 2008
11. Samuel Totten, William S. Parsons (Eds.): Centuries of Genocide. Essays and Eyewitness Accounts. 4rd Ed. New York 2013
12. Samuel Totten, Paul R. Bartrop: Dictionary of Genocide. 2 vol. Westport 2008
13. Eric D. Weitz: A Century of Genocide. Utopias of Race and Nation. 8th print. Princeton 2015

… die folgende Lemkin-zentrierte Darstellung
Im Prinzip finde ich diese Zentrierung verdienstvoll. Es ist ja eigentlich eine recht traurige Geschichte, wie später mit dem Autor umgegangen wurde. Er erlebte zwar die Verabschiedung der UN-Konvention, aber auch das Scheitern seiner Bemühungen, das eigene Land (USA) zur Ratifizierung zu bewegen.

Wer mehr darüber wissen will: Der von Dir genannte Reader (#5, S. 25-56) enthält ja auch eine Biographie; ausführlicher ist natürlich
14. John Cooper: Raphael Lemkin and the Struggle for the Genocide Convention. Houndmills 2008

Für die Hardcore-Leser noch der Hinweis, dass die gesamten Arbeitsmaterialien zur Konvention schon vor einigen Jahren publiziert wurden:
15. Hirad Abtahi and Philippa West (Eds.): The Genocide Convention. The Travaux Préparatoires. 2 vol. Leiden 2008


[1] Muss das sein? könnte jemand fragen. Nein, aber ein bisschen Imponiergehabe gehört halt dazu… :devil:
 
Die einzelnen Aktionen, seien sie militärisch oder andere administrative Eingriffe, ergänzen sich in ihrer Wirkung auf die Gruppe und wirken mehrdimensional (2, S. 76ff)
New conceptions require new terms. By "genocide" we mean the destruction of a nation or of an ethnic group. …Generally speaking, genocide does not necessarily mean the immediate destruction of a nation, except when accomplished by mass killings of all members of a nation. It is intended rather to signify a coordinated plan of different actions aiming at the destruction of essential foundations of the life of national groups, with the aim of annihilating the groups themselves.
Lemkin lässt diesem Zitat (S. 79) einen Abschnitt über „Techniken des Völkermords in verschiedenen Bereichen“ (S. 82-90) folgen:

  • Politische
  • Soziale
  • Kulturelle
  • Ökonomische
  • Biologische
  • Physikalische
  • Religiöse
  • Moralische
Du hast darauf aufmerksam gemacht, dass laut Lemkin hiervon auch Luxemburg betroffen war. Hierauf würde ich gern so genau wie möglich eingehen und habe zu diesem Behufe einen „Unter-Thread“ eröffnet:
http://www.geschichtsforum.de/f76/v-lkermord-luxemburg-1940-1944-a-52505/#post770209
 
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