Beziehungen Deutschland-Großbritannien 1890-1914

Die eskalierende Rolle der britischen Presse ist komplett ausgeblendet worden. Der Doggerbank-Zwischenfall spielte lediglich nur in den erste paar Tagen eine Rolle und danach ging auf auf das Deutsche Reich los, welches angeblich als drahtzieher für den ganzen Vorfall verantwortlich sei.
 
Die eskalierende Rolle der britischen Presse ist komplett ausgeblendet worden. Der Doggerbank-Zwischenfall spielte lediglich nur in den erste paar Tagen eine Rolle und danach ging auf auf das Deutsche Reich los, welches angeblich als drahtzieher für den ganzen Vorfall verantwortlich sei.

Wie ist diese Literatur einzuordnen?
Die deutsche Flotte in der englischen Presse, der Navy Scare vom Winter 1904/05
Metz, Ilse.
Published by Berlin, Emil Ebering, (1936)
 
Kann ich leider nichts zu sagen.

Es gibt aber ein Buch von Domminik Geppert, der Geppert von Beetles Link, welches sich mit deutschen und britischen Presse beschäftigt.

Pressekriege. Öffentlichkeit und Diplomatie in den deutsch-britischen Beziehungen 1896-1912
 
Da habe ich so meine Zweifel. Belgien war der Vorwand; man hätte einen anderen für die britische Öffentlichkeit gefunden.
Könntest Du das bitte erläutern?

Zum einen ist der Schritt von Wohlwollen (ich bezweifle nicht, dass einflussreiche Seiten Frankreich nahe standen) zum Krieg doch groß. Und zum anderen, wäre nicht die machtpolitische Verschiebung zugunsten Frankreichs UND Russlands gegen die britischen Interessen gegangen? Wie gesagt, im Falle einer Kriegserklärung Russlands und einen darauf folgenden Eingreifen Frankreichs.
 
Könntest Du das bitte erläutern?

Zum einen ist der Schritt von Wohlwollen (ich bezweifle nicht, dass einflussreiche Seiten Frankreich nahe standen) zum Krieg doch groß. Und zum anderen, wäre nicht die machtpolitische Verschiebung zugunsten Frankreichs UND Russlands gegen die britischen Interessen gegangen? Wie gesagt, im Falle einer Kriegserklärung Russlands und einen darauf folgenden Eingreifen Frankreichs.

Es ging um britsche Interessen und Verpflichtungen. Ich weise nur auf die Wichtigkeit von Indien und Persien in Zusammenhang mit Russland hin. Für die haltung des Foreign Office war also die Haltung Russlands maßgeblich, wie sie beispielsweise Sir Arthru Nicholson, der ständige Unterstaatssekretär zum Ausdruck brachte. "Russland ist eine furchtbare macht und es wird noch weiter erstarken. Wir wollen hoffen, dass unsere beziehungen zu ihm freundlich bleiben werden." (1) Darüber hinaus sind die Germnophobie von Nicholson und sicher auch Hilfsunterstaatssekretär Crowe in Rechnung zustelle. Crowe fragte, wie würde die Lage eines freundlosen England nach einem Sieg der Mittelmächte aussehen. Oder wie würden sich Frankreich und Russland verhalten, wenn sie ohne England siegen? Wie sähe es denn mit dem Mittelmeer und Indien aus?

Und Großbritannien ist gegnüber Frankreich die konkrete Verpflichtung eingegangen, einen Teil seiner Küsten im Kriegsfalle zu schützen.



(1) Die britischen amtlichen Dokumente über den ursprung des Weltkrieges Band XI, Nr.66
 
Wenn ich an die Haldane-Mission denke, dann kann ich Deine Festlegung der britischen Politik nicht nachvollziehen. Es gab verschiedene Strömungen und die Beteiligung im Krieg wäre ohne diverse deutsche Schritte doch bei weitem nicht automatisch gewesen.
Wie gesagt, weniger aggressive Flottenpolitik, keine Kriegserklärung an Frankreich und Russland und die Respektierung der belgischen Neutralität hätten es den Falken in London extrem schwer gemacht eine Beteiligung zu rechtfertigen.
 
Die Haldane-Mission war auch von britischer Seite nun nicht mit großem Interesse durchgeführt worden. Sie diente vielmehr der Ruhigstellung der innenpolitischen Kritiker als auch der Kabinettsmitglieder, die Deutschland nicht so negativ gegenüber standen. Dementsprechend hatte Haldane auch genau genommen nichts anzubieten.
 
Sie diente vielmehr der Ruhigstellung der innenpolitischen Kritiker als auch der Kabinettsmitglieder, die Deutschland nicht so negativ gegenüber standen.
Das ist aber doch genau der Punkt! Dies Leute hätten von deutscher Seite stärker umworben werden müssen anstelle die anderen einschüchtern zu wollen.
 
Das ist aber doch genau der Punkt! Dies Leute hätten von deutscher Seite stärker umworben werden müssen anstelle die anderen einschüchtern zu wollen.

Haldane sprach nicht einmal im Auftrage des britischen Kabinetts! Und man war nicht bereit irgendetwas zugeben. Schon in den Jahren zuvor wurden die Briten "umworben" und man kam ihnen in den Streitfragen wie beispielsweise Bagdadbahn weit entgegen. Das führte auch zur Entspannung des Verhätlnisses, abe mehr war definitiv nicht drinnen; das machte auch der der britische Außenminister immer wieder klar. Großbritannien war bedingt durch seine Interessen entsprechend gebunden und wollte dies auch bleiben!
 
Haldane sprach nicht einmal im Auftrage des britischen Kabinetts! Und man war nicht bereit irgendetwas zugeben. Schon in den Jahren zuvor wurden die Briten "umworben" und man kam ihnen in den Streitfragen wie beispielsweise Bagdadbahn weit entgegen. Das führte auch zur Entspannung des Verhätlnisses, abe mehr war definitiv nicht drinnen; das machte auch der der britische Außenminister immer wieder klar. Großbritannien war bedingt durch seine Interessen entsprechend gebunden und wollte dies auch bleiben!

Zunächst einmal ist die Haldane-Mission von Grey vorbereitend vor das Kabinett gebracht worden und dort abgestimmt worden. Schon nach den Gesprächen mit Ballin war klar, dass Grey nicht selbst würde reisen können, ebenso wenig der im Gespräch gewesene Churchill, da in dem Stadium der Sondierungen ansonsten internationale Spannungen mit einem argwöhnischen Frankreich oder Russland die Folge wären.

Statt dem gewünschten Ernest Cassel wurde es Haldane, was der Sondierungsbemühung keinen Abbrach tat.

Siehe hier:
http://www.geschichtsforum.de/709961-post571.html
http://www.geschichtsforum.de/710110-post574.html
http://www.geschichtsforum.de/594989-post7.html

Das Ganze im Kontext:

1911/1912 drängte die Royal Navy in Folge des Rüstungswettlaufes mit Deutschland auf die Quasi-Räumung des Mittelmeeres, da man dort nicht mehr länger wie zuvor 1/3 der Flotte halten, und nicht einmal aufgrund der eingeleiteten Rüstungen ein 1:1 gegen Italien/ÖU halten konnte. Das Foreign Office lehnte rigoros ab, da man dies als falsches, gewichtiges Signal gegen Russland abschätzte und sich außerstande sah, die Schlüsselrouten nach Indien durch das Mittelmeer aufzugeben. Dieser Strategiestreit ist der Hintergrund bei Grey, den Rüstungswettlauf mit Deutschland zu beenden.

Koloniale Zugeständnisse waren im Kabinett vorbesprochen, dazu kam es allerdings überhaupt nicht, weil die deutsche Seite ihre neuerlichen Flottenrüstungsvorlagen "aus der Tasche" zog.

Die deutsche Seite hätte von der Entspannung erheblich profitiert. Der Finanzhaushalt war erschüttert, man rutschte 1912/1913 in die Rezession ab. Internationale Anleihen waren nur mehr mit erheblichen Kursabschlägen für das Deutsche Reich realisierbar, es gab innenpolitischen Streit um neue Steuern für die Rüstungsträume der Luxusflotte (->Herwig), außerdem eine sich zuspitzende Rüstungskonkurrenz zum Finanzbedarf des Heeres. "Koloniale Zugeständnisse" wären da peanuts gewesen, völlig nachrangige Fragen, auch wenn man deutscherseits auf die Übernahme des portugiesischen Kolonialerbes zielte. Anzubieten hatte man deutscherseits, sich in Expansionsgelüsten gegen das Osmanische Reich (Berlin-Bagdad etc.) zurückzunehmen. Dass wäre auch für Grey angesichts der zugespitzten Strategiefrage nur ein sekundäres Feld gegenüber der Flottenrüstung gewesen (für GB war das anders als für Deutschen keine reine Finanzfrage, Geld hatte man genug, sondern eine Verteilungsfrage bei Etatkonkurrenzen).

Ergebnis: die Brüskierung in der Haldane-Mission führte zum zweiten strategischen worst-case nach 1907 (dem russisch-britischen Interessenausgleich, ein Desaster für die deutsche Außenpolitik): mit der weiter laufenden Flottenrüstung ergab sich die Konsequenz, dass man statt der Verständigung mit den Deutschen (über Flottengrößen) aushilfsweise der Verständigung mit Frankreich über die Flottenstationierungen nachgab und wegen der Nordseekonzentration der Royal Navy die Sicherung des Mittelmeeres (und damit faktisch der Indien-Route) Frankreich überlassen musste.

Ein geradezu dämlicher strategischer Fehler der deutschen Seite, im Umfeld von Tirpitz, und natürlich Wilhelm II. mit seinem Lieblingsspielzeug Flotte verursacht.

Die Haldane-Mission war auch von britischer Seite nun nicht mit großem Interesse durchgeführt worden. Sie diente vielmehr der Ruhigstellung der innenpolitischen Kritiker als auch der Kabinettsmitglieder, die Deutschland nicht so negativ gegenüber standen. Dementsprechend hatte Haldane auch genau genommen nichts anzubieten.
Was hätte man deutscherseits bekommen:
- als Wichtigstes: Finanzielle Spielräume
- als imperialistische Nebensächlichkeiten: britisches Nachgeben in Fragen deutscher Kolonialziele

Für Grey wäre eine solche deutsch-britische Verständigung außerdem außenpolitisch riskant geworden, die er hier in Abstimmung mit dem Kabinett anstrebte: die französische und russische Aufregung darüber - schließlich hätte Deutschland in der Konsequenz Ellenbogen-Freiheiten für Armeerüstung bekommen, und schon das politische Verständigungssignal hätte symbolisch schweres Gewicht erhalten und Vertragsspekulationen geweckt - wäre erheblich gewesen. Dazu braucht man nicht viel Phantasie.

Die Behauptung von Canis, die Haldane-Mission wäre britischerseits in der Funktion eines "Druckmittels" zu sehen, ist nicht belegbar. Das Gegenteil ist der Fall: die Haldane-Mission sollte - um eine historische Vorlage zu nutzen - eine "Aushilfe" zu schaffen. Dafür wären Friktionen mit Russland (das gerade ebenfalls bei GB auf ein Marineabkommen insistierte) und Frankreich zwingende Folge gewesen. Das schien Grey und dem Kabinett aber wohl noch beherschbar, und die vorzuziehende Möglichkeit gegenüber dem Quasi-Rückzug aus dem Mittelmeer und der peinlichen Abstützung auf die französische Flotte (abgesehen von der dadurch unerwünschten Verfestigung der Bindung).

Die deutsche Rumpel-Diplomatie, ohne strategisches Denken und damit ohne Ziel und Verstand, hat hier sozusagen ganze Arbeit geleistet.
 
Zuletzt bearbeitet:
Wie ist diese Literatur einzuordnen?
Die deutsche Flotte in der englischen Presse, der Navy Scare vom Winter 1904/05
Metz, Ilse.

Ich habe sie hier im Forum schon einige Male zitiert. Die Darstellung ist von 1936. Ist ganz interessant, trotz der einseitigen Presseauswertung.

Analysen der politischen Wirkungsmacht fehlen völlig. Grundlegende aktuelle Darstellungen, die sich auch mit den Scares beschäftigen, gibt es von Lambert, Brooks und Sumida.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Mission Haldanes ist an der Sturheit von Tirpitz und Wilhelm gescheitert. Die deutsche Rumpel-Diplomatie war an den Gesprächen praktisch gar nicht beteiligt. Später mehr.
 
Mir ging es nicht um die Mission und einige fokussierte Gespräche, deshalb die ausführliche Darstellung zur britischen Sichtweise und zu den deutschen politischen Optionen.

Es geht hier - um eine Phrase zu strapazieren - um die "große Linie", bzw. die Dynamik der ganzen Abläufe im Kontext. Dass die Gespräche in Punktbetrachtung im Wesentlichen an Wilhelm und Tirpitz gescheitert sind, hatte ich oben bereits geschrieben.

Die strategischen Überlegungen hätten aus dem Außenamt und vom Reichskanzler kommen müssen, um beeinflussen zu können. Diese Lageanalysen, Memoranden, Handlungsempfehlungen, Abschätzungen der Wirkungen der Optionen gab es nur rudimentär, schwammig, fehlerhaft oder gar nicht.
 
Ich frage micht, ob der Besuch Haldanes nicht ein wenig überbewertet wird. Grey hat schon im Vorfeld eindeutig klargemacht, das er nicht daran denke, irgendetwas an den Beziehungen zu Frankreich und Russland zu verändern. Grey war Anhänger von der Bindung an Frankreich und Russland und seine ganzen Berater verfolgten diesen Kurs mit großer Leidenschaft. Da war kein Blumentopf zu gewinnnen.

Damit war eigentlich die ganze Mission schon obsolet, denn Berlins Interesse zielte ja genau in die Richtung die die Neutralität Großbritanniens für den Fall einer militärischen Auseinandersetzung einzukaufen. Dazu war das Foreign Office aber nicht bereit und somit hatten die Briten eignetlich nichts wirklich wichtiges, aus Sicht von Tirpitz und Wilhem, zu bieten. Die Bündnisblöcke waren bereits zu erstarrt und damit war auch die Flexibilität flöten gegangen.

Die Briten witterten hinter dem Begriff Neutralität sofort das Hintertreiben der Beziehungen zu seinen Bündnispartners von deutscher Seite. Dabei wäre gerade dies für Bethmann als Argument gegenüber Tirpitz und Wilhelm so wichtig gewesen.

Es wäre natürlich von Tirpitz und Co. klug gewesen, nicht einfach so schnöde und kontraproduktiv zu reagieren, vielleicht auch einmal die vernünftigen Ratschläge des eigenen Botschafters Metternich nicht einfach zu ignorieren, sich ernsthafter um eine Verständigung zu bemühen. Hier hätte der Faktor Zeit vielleicht Resultate gezeigt.

Es steht auch die Frage im Raume, ob die britischen Entspannungsanzeichen,wobei man zwischen Parlament und Foreign Office unterscheiden muss, nicht auch in Zusammenhang mit den russischen Zumutungen in Persien zu tun hatten.


silesia schrieb:
Die strategischen Überlegungen hätten aus dem Außenamt und vom Reichskanzler kommen müssen, um beeinflussen zu können. Diese Lageanalysen, Memoranden, Handlungsempfehlungen, Abschätzungen der Wirkungen der Optionen gab es nur rudimentär, schwammig, fehlerhaft oder gar nicht.

Die britischen strategischen Überlegungen war auch nicht geeignet, eine Lösung zu erreichen. Und die Liberalen wollten auch dringend finanzielle Handlungspielräume für die im Wahlkampf versprochenen Sozialprogrammen.
Deine Werturteile sind mir ein wenig zu krass.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich denke, es ist zu kurz gegriffen, nur zu behaupten, die kaiserlichen Diplomatie war inkompetent. Von Tirpitz und Wilhelm will ich erst gar nicht anfangen; da gibt es sicher keine zwei Meinungen.

Immerhin ist doch festzuhalten, das Bethmann bereit war, die anvisierte britsche Neutralität der Engländer so auszugestalen, das diese nicht gelten soll, wenn das Deutsche Reich der Angreifer ist. Es ging hier also konkret nur um den Fall, das Deutschland angegriffen werden würde. Dem hätten die Briten eigentlich zustimmen können; nur sie wollten dies eben nicht. Die Deutschen wollte eine bestimmte Gegenleistung für Beschränkung ihrer Flottenrüstung, die die Briten nicht willens waren zu geben. Die beiden Mächte hatten schlicht zu unterschiedliche Interessen!
 
Ich denke, es ist zu kurz gegriffen, nur zu behaupten, die kaiserlichen Diplomatie war inkompetent. Von Tirpitz und Wilhelm will ich erst gar nicht anfangen; da gibt es sicher keine zwei Meinungen.
...
:D

Des Kaisers 'diplomatische Kunst' fand einen ihrer Gipfel in der Daily-Telegraph-Affäre.
Was vielleicht weniger bekannt ist: wenige Wochen vorher, im August 1908, fand ein Interview mit dem Journalisten der New York Times William Bayard Hale in Berlin statt.
..das enthielt soviele Indiskretionen, daß sich die Times verplichtet fühlte, vor der Veröffentlichung den amerikanischen Präsidenten zu konsultieren.
Der Kaiser hatte Hale gesagt, in den folgenden ein oder zwei Jahren müsse man mit einem Krieg der Vereinigten Staaten gegen Japan rechnen. Deshalb werde er einen Vertrag zwischen China, Deutschland und Amerika aushandeln, dessen Abschluß demnächst bekannte gegeben werden würde. Großbritannien bezeichnete er mit harten Worten als Verräter der weißen Rasse, da es sich mit Japan verbündet habe. 23) Deutschland werde bald gegen England Krieg führen müssen, ja dieser Zeitpunkt stünde kurz bevor.
Barbara Tuchman – die Zimmermann Depesche – Seite 55 (Hervorhebung durch mich)
Das ging nun so weiter, .. man werde die Moslems gegen die „Gelbe Gefahr“ bewaffnen und was noch alles.
Zwei Stunden lang mußte Hale den Wortschwall des Kaisers über sich ergehen lassen.
(Seite 56)
„Vorsichtshalber“ teilte Hale, vor der telegraphischen Übertragung an die Times, dem deutschen AA den Inhalt mit, „das fassungslos darauf reagierte“.
Schließlich wird, folgt man Tuchman, das Interview, welches ja ein Auflagenknüller sein musste, auf Empfehlung des amerikanischen Präsidenten nicht veröffentlicht.

Wie Du so schön bemerkst: „..es ist zu kurz gegriffen, nur zu behaupten, die kaiserlichen Diplomatie war inkompetent.“
Aber wie hervorragend kompetent hätte eine Diplomatie sein müssen, um die besondere Narrheit ihres Chefs auszugleichen?
 
Ich denke, es ist zu kurz gegriffen, nur zu behaupten, die kaiserlichen Diplomatie war inkompetent. Von Tirpitz und Wilhelm will ich erst gar nicht anfangen; da gibt es sicher keine zwei Meinungen.
Sicher, die später entscheidenden Punkte wurden gar nicht wahrgenommen.

Aber das ist doch gerade der Punkt: Die umgesetzte deutsche Diplomatie drehte sich trotz aller Warnungen nur um die eigenen Interessen, ein tatsächlicher Ausgleich mit anderen (britischen) Interessen wurde nicht gesucht, die Außenpolitik Bismarcks nicht einmal mehr verstanden, geschweige denn fortgesetzt.

Der deutsche Wunsch nach einer unabhängigen Außenpolitik musste in dem Moment zusammenbrechen, wo die Briten und die Russen ihre Gegensätze klären konnten. Also hätte nach 1907 reagiert werden müssen. Und zwar anders als mit der Daily-Telegraph-Affäre. Die Isolation Deutschlands war bereits vorher deutlich geworden.
 
Die Briten witterten hinter dem Begriff Neutralität sofort das Hintertreiben der Beziehungen zu seinen Bündnispartners von deutscher Seite. Dabei wäre gerade dies für Bethmann als Argument gegenüber Tirpitz und Wilhelm so wichtig gewesen.

Die Verwendung des Begriffes Bündnis ist, wie Du weißt, nicht zutreffend. Nicht für Frankreich, und erst recht nicht für Russland. Es gab Interessenausgleiche mit Frankreich und Russland, selbst diese mit unterschiedliche Bindungskraft, betreffend die imperialistische "Peripherie".

Es ist ein grundsätzlicher Fehler auch der deutschen Diplomatie, dieses als "Block" oder "Bündnis" zu kennzeichnen.

Angelpunkt der britischen Diplomatie auf dem Kontinent war es, eine Vernichtung Frankreichs als Machtfaktor nicht hinzunehmen. Das ist nicht Ausfluss irgendwelcher Bündnisbindungen, sondern originäres britisches Interesse in einer extremen Zuspitzung auf dem Kontinent, für das es keinerlei Verträge bedurfte. Dass dieses nicht hinnehmbar war, ist unmittelbar verständlich. Und dass das Deutsche Reich in einem Kontinentalkonflikt sofort mit der Masse seines Heeres Frankreich angreifen würde (Schlieffen-Plan), mit Mob-Fall und ohne weitere diplomatische Spitzfindigkeiten und Auslegungsgeplänkel über "provozierte Angriffe", war selbst der Aufklärung in den kleinen Niederlanden seit 1911 bekannt. So kam es denn auch im August 1914 - exakt die Situation, die in der britischen Positionierung 1912 vorhergenommen wurde.

Diese Position wurde anläßlich der deutscherseits zugespitzten Marokkokrisen, und dann erneut 1912 und in der Julikrise 1914 druch Großbritannien massiv, und ohne diplomatische Blumigkeiten deutlich gemacht (1912 führte das dann in kaiserlicher Empörung zum s.g. "Kriegsrat" vom Dezember). Das hätte Ausgangsgrundlage einer deutschen Außenpolitik sein müssen.

Umgekehrt gab es noch bis Ende Juli 1914 die deutliche Positionierung Greys gegenüber Frankreich, dass man in keinem Bündnis zu Frankreich stehe, und Frankreich nicht mit einem Automatismus kalkulieren könne.

Es steht auch die Frage im Raume, ob die britischen Entspannungsanzeichen,wobei man zwischen Parlament und Foreign Office unterscheiden muss, nicht auch in Zusammenhang mit den russischen Zumutungen in Persien zu tun hatten.
Das ist sicher ein irgendwie gearteter Beitrag, wobei es keinerlei Rolle für das vernünftige Ansinnen als solches spielt.
Kernaspekt der Vorstoßes ist jedoch wie oben beschrieben die britische Problematik und der Streit zwischen Foreign Office und Royal Navy, bei einem weiteren Rüstungswettlauf das Mittelmeer "entblößen" zu müssen, ein für die RN ungeheuerlicher Vorgang, und für das FO eine Schwächung gegenüber Russland.
 
Immerhin ist doch festzuhalten, das Bethmann bereit war, die anvisierte britsche Neutralität der Engländer so auszugestalen, das diese nicht gelten soll, wenn das Deutsche Reich der Angreifer ist. Es ging hier also konkret nur um den Fall, das Deutschland angegriffen werden würde. Dem hätten die Briten eigentlich zustimmen können; nur sie wollten dies eben nicht. Die Deutschen wollte eine bestimmte Gegenleistung für Beschränkung ihrer Flottenrüstung, die die Briten nicht willens waren zu geben. Die beiden Mächte hatten schlicht zu unterschiedliche Interessen!

Hier könnte man auf eine rhetorische Frage zuspitzen: welche deutsche diplomatische Lageanalyse, welches Memorandum ging überhaupt von einee britischen Beistand-Automatik im Fall eines französischen Angriffs aus? Und: welche für den Fall eines russischen Angriffs auf Deutschland?

Doch wohl keine.

Das leitet zu der Frage über, was deutscherseits mit der Klausel eines (so ist es exakt übermittelt worden) "unprovozierten Angriffs" gedacht war. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Haldane wies diese Idee völlig zutreffend als diplomatisch (für den Fall einer krisenartigen Zuspitzung!) nicht handhabbar zurück. Übrigens exakt dieses Problem hatte die Diplomatie GBs in der Julikrise 1914; was sich nicht auswirkte, da hier wieder der Fall 1 - der worst case - eintrat: der in allen Militärplanungen prognostizierte, angriffsweise Einmarsch Deutschlands mit der Masse seines Heeres in Frankreich mit dem Ziel der schnellen Vernichtung Frankreichs als Großmacht.

- Was also sollte die unpraktikable Formulierung Bethmanns?
- Gibt sein Memo vom 29.1.1912 darüber Aufschluss?
- Warum reichte es nicht, sich - ganz simpel - mit der provozierten diplomatischen Verwicklung zwischen Großbritannien, Russland und Frankreich für den Fall einer erfolgreichen deutsch-britischen Flottenverständigung zufrieden zu geben?

Dann weiter: die deutsche Seite hätte für das Zugeständnis einer reduzierten Flottenrüstung überhaupt nichts zu erwarten gehabt, aus zwei Gründen:

- der Rüstungswettlauf war 1912 aufgrund der etatisierten Programme und aufgelegten Neubauten faktisch bereits zugunsten Großbritanniens entschieden.
- budgettechnisch war man deutscherseits bereits ohnehin überfordert - weitere "Einnahmequellen" mündeten im innenpolitischen Streit mit den Ländern und dem Parlament, in der kommenden Konjunkturkrise waren Mittelkürzungen erwartbar, international hatte man bereits Schwierigkeiten in der Kreditaufnahme und zog immer weitere Kreise (bis zum New Yorker Kapitalmarkt, 80 Mio., unter schlechten Konditionen - man muss ja nicht allzu oft auf die Elaborate von Ferguson hinweisen, aber hier liegt er richtig: deutsche Anleihen wurden inzwischen schlechter als die kleinerer Länder wie Niederlande "prämiert").

Aus der Zwangsjacke heraus soll man nun etwas fordern?

Wie die britische Konsequenz aus der gescheiterten Aktion zeigt, musste man sich hier nichts abpressen lassen, sondern hatte eine Alternative. Das hatte nichts mit bösem Willen zu tun, sondern mit politisch-militärisch-ökonomischen Optionen. Trotzdem war die Position von Grey und dem Kabinett geformt, zwar nicht den wichtigen Interessenausgleich mit Frankreich und Russland an der imperialistischen Peripherie ("unverhandelbar" und völlig plausibel im nationalen Interesse), wohl aber schwere Friktionen in diesen Absprachen zu riskieren, falls man mit Deutschland zu einer Flottenabsprache käme.

Eine analytisch fundierte deutsche Außenpolitik hätte diesen (zumal extremen) Eckpunkt als conditio sine qua non im Interesse der Entspannung akzeptiert, zumal zu dem Zeitpunkt von Großbritannien weder ein Angriffskriegsinteresse gegen Deutschland, noch nicht einmal die Unterstüzung eines Angriffskriegsinteresses einer dritten Großmacht gegen Deutschland ausging.

Dieses Scheitern, diese verpasste Chance - Friktionen zwischen Großbritannien und Frankreich/Russland für eine Gegenleistung zu bekommen, die man in dem Zeitpunkt schon finanziell quasi nicht mehr in der Hand hatte: reduzierte Flottenrüstung - kann man nicht nur an Sturheit, Unzulänglichkeiten oder schlicht Dummheit von Tirpitz und Wilhelm festmachen. Es ist ein Fehler, der aus der Struktur dieses Kaiserreiches und auch seines Außenamtes resultierte, was Winzen (in: Dülffer, Bereit zum Krieg) mal mit viel Umschreibungen charakterisierte:

- Primat der Rüstung
- "gestörte" Risikoneigung: Krieg auch als Chance, also: Machtgewinn jenseits politischer Mittel
- fehlende Professionalität in Lageanalysen, Lageprognosen, und daraus zu entwickelnden Handlungsoptionen
 
Die Verwendung des Begriffes Bündnis ist, wie Du weißt, nicht zutreffend. Nicht für Frankreich, und erst recht nicht für Russland. Es gab Interessenausgleiche mit Frankreich und Russland, selbst diese mit unterschiedliche Bindungskraft, betreffend die imperialistische "Peripherie".

Es ist ein grundsätzlicher Fehler auch der deutschen Diplomatie, dieses als "Block" oder "Bündnis" zu kennzeichnen.

Sicher! Aber zwischen Großbritannien und Frankreich gab es durchaus militärische Absprachen. Darüber hinaus gab es Gespräche zwischen den Generalstäben. Und Russland und Frankreich waren durch die Militärkonvention von 1892/94 miteinander verbunden. Zwischen Russland und England fanden Gespräche mit der Zielsetzung einer Marinekonvention, nach der Liman Krise, statt. Und Großbritannien stand wegen Persien und Indien unter russischen Druck. Insgesamt wurde die Triple Entente als Block wahrgenommen und so sah auch die Frontstellung aus. Wobei Russland und Frankreich sich stets bemühten London ins Boot zu holen.
 
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