Immerhin ist doch festzuhalten, das Bethmann bereit war, die anvisierte britsche Neutralität der Engländer so auszugestalen, das diese nicht gelten soll, wenn das Deutsche Reich der Angreifer ist. Es ging hier also konkret nur um den Fall, das Deutschland angegriffen werden würde. Dem hätten die Briten eigentlich zustimmen können; nur sie wollten dies eben nicht. Die Deutschen wollte eine bestimmte Gegenleistung für Beschränkung ihrer Flottenrüstung, die die Briten nicht willens waren zu geben. Die beiden Mächte hatten schlicht zu unterschiedliche Interessen!
Hier könnte man auf eine rhetorische Frage zuspitzen: welche deutsche diplomatische Lageanalyse, welches Memorandum ging überhaupt von einee britischen Beistand-Automatik im Fall eines französischen Angriffs aus? Und: welche für den Fall eines russischen Angriffs auf Deutschland?
Doch wohl keine.
Das leitet zu der Frage über, was deutscherseits mit der Klausel eines (so ist es exakt übermittelt worden) "
unprovozierten Angriffs" gedacht war. Das ist ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. Haldane wies diese Idee völlig zutreffend als diplomatisch (für den Fall einer krisenartigen Zuspitzung!) nicht handhabbar zurück. Übrigens exakt dieses Problem hatte die Diplomatie GBs in der Julikrise 1914; was sich nicht auswirkte, da hier wieder der Fall 1 - der worst case - eintrat: der in allen Militärplanungen prognostizierte, angriffsweise Einmarsch Deutschlands mit der Masse seines Heeres in Frankreich mit dem Ziel der schnellen Vernichtung Frankreichs als Großmacht.
- Was also sollte die unpraktikable Formulierung Bethmanns?
- Gibt sein Memo vom 29.1.1912 darüber Aufschluss?
- Warum reichte es nicht, sich - ganz simpel - mit der provozierten diplomatischen Verwicklung zwischen Großbritannien, Russland und Frankreich für den Fall einer erfolgreichen deutsch-britischen Flottenverständigung zufrieden zu geben?
Dann weiter: die deutsche Seite hätte für das Zugeständnis einer reduzierten Flottenrüstung überhaupt nichts zu erwarten gehabt, aus zwei Gründen:
- der Rüstungswettlauf war 1912 aufgrund der etatisierten Programme und aufgelegten Neubauten faktisch bereits zugunsten Großbritanniens entschieden.
- budgettechnisch war man deutscherseits bereits ohnehin überfordert - weitere "Einnahmequellen" mündeten im innenpolitischen Streit mit den Ländern und dem Parlament, in der kommenden Konjunkturkrise waren Mittelkürzungen erwartbar, international hatte man bereits Schwierigkeiten in der Kreditaufnahme und zog immer weitere Kreise (bis zum New Yorker Kapitalmarkt, 80 Mio., unter schlechten Konditionen - man muss ja nicht allzu oft auf die Elaborate von Ferguson hinweisen, aber hier liegt er richtig: deutsche Anleihen wurden inzwischen schlechter als die kleinerer Länder wie Niederlande "prämiert").
Aus der Zwangsjacke heraus soll man nun etwas fordern?
Wie die britische Konsequenz aus der gescheiterten Aktion zeigt, musste man sich hier nichts abpressen lassen, sondern hatte eine Alternative. Das hatte nichts mit bösem Willen zu tun, sondern mit politisch-militärisch-ökonomischen Optionen. Trotzdem war die Position von Grey und dem Kabinett geformt, zwar nicht den wichtigen Interessenausgleich mit Frankreich und Russland an der imperialistischen Peripherie ("unverhandelbar" und völlig plausibel im nationalen Interesse), wohl aber schwere Friktionen in diesen Absprachen zu riskieren, falls man mit Deutschland zu einer Flottenabsprache käme.
Eine analytisch fundierte deutsche Außenpolitik hätte diesen (zumal extremen) Eckpunkt als conditio sine qua non im Interesse der Entspannung akzeptiert, zumal zu dem Zeitpunkt von Großbritannien weder ein Angriffskriegsinteresse gegen Deutschland, noch nicht einmal die Unterstüzung eines Angriffskriegsinteresses einer dritten Großmacht gegen Deutschland ausging.
Dieses Scheitern, diese verpasste Chance - Friktionen zwischen Großbritannien und Frankreich/Russland für eine Gegenleistung zu bekommen, die man in dem Zeitpunkt schon finanziell quasi nicht mehr in der Hand hatte: reduzierte Flottenrüstung - kann man nicht nur an Sturheit, Unzulänglichkeiten oder schlicht Dummheit von Tirpitz und Wilhelm festmachen. Es ist ein Fehler, der aus der Struktur dieses Kaiserreiches und auch seines Außenamtes resultierte, was Winzen (in: Dülffer, Bereit zum Krieg) mal mit viel Umschreibungen charakterisierte:
- Primat der Rüstung
- "gestörte" Risikoneigung: Krieg auch als Chance, also: Machtgewinn jenseits politischer Mittel
- fehlende Professionalität in Lageanalysen, Lageprognosen, und daraus zu entwickelnden Handlungsoptionen