Die Marokko-Krisen

scorpio schrieb:
Kiderlen- Wächter hatte das Placet von Wilhelm II. und Bethmann-Hollweg nur mit großer Mühe eingeholt, beide wollten von Marokko eigentlich nichtrs wissen und erst recht nicht deswegen das Risiko internationaler Verwicklungen eingehen

Bethmann Hollweg hatte Wilhelm II. bereits am 05.Mai 1911 eine Denkschrift Kiderlens vorgetragen, aus der das Ziel der geplanten Aktion ganz klar und unmissverständlich zum Ausdruck gebracht worden war.
Kiderlen notierte dazu, „Der Kaiser hat mein Programm (auch mit Schiffen für Agadir) vollauf gebilligt.“ Wilhelm hat in der Folgezeit seine Genehmigung für diese Aktion mehrfach wiederholt. (1)

Was in den Darstellungen zu dieser Krise häufig nur in den Fußnoten oder gar nicht erwähnt wird, ist die Tatsache, das es erneut Frankreich gewesen war, welches die Krise durch Vertragsbruch, genau wir schon 1905, eben durch die Inmarschsetzung von Truppen nach Fez, ausgelöst hatte. Auffällig ist auch, das die Rettung der Europäer in Fez schnell von der Tagesordnung verschwand.

Strategisch ging es den Franzosen auch darum, das die Entente ihre Lebensfähigkeit unter Beweis stellen sollte; immerhin war Marokko ja schon 1904 Frankreich in den Abmachungen zur Entente Cordiale zugesichert worden.
Des Weiteren sollte eine deutsche Annäherung an Petersburg und London hintertrieben werden. Es war nicht zuletzt Bethmanns Reichstagsrede, in der davon sprach, das Russland und das Deutsche Reich nicht an gegeneinander gerichtete Kombinationen teilnahmen sollten. Tschirschky berichtete, das diese Rede in Paris wie ein Bombe einschlug. (2) Auch der russische Botschafter Iswolski berichtete von der großen Bestürzung , die diese Rede in Paris ausgelöst hat. (3)

Die französische Öffentlichkeit forderte eine starke Regierung und die Festigung der Entente. Die Triple Entente müsse sich wieder stärker zusammenschließen und die Vorherrschaft Deutschlands in Europa zu bekämpfen wie der deutsche Botschafter Schön aus Paris berichtete.(4)

Unterdessen häuften sich die Klagen der Deutschen in Marokko wie der deutsch Konsul Maenss an Seckendorff am 16.02.1911 berichtet. Nicht nur dort kamen deutsch-französische Wirtschaftsprojekte nicht mehr zustande. Der Plan eine gemeinsame Eisenbahnstrecke von Deutsch-Kamerun nach Französisch-Kongo, die später über Belgisch-Kongo bis nach Deutsch-Ostafrika weitergeführt werden sollte, kam wegen französischer Einwände nicht mehr vom Fleck. (5)

Und der dem Deutschen Reich nicht gerade freundschaftlich verbundene Delcassè wurde wieder Kabinettsmitglied; diesmal als Marineminister.





(1) Jäkh, Kiderlen-Wächter, Bd.II, S.122
(2) Tschirschky an Bethmann 12.01.1911, PA Berlin
(3) Stieve, Der diplomatische Schriftwechsel Iswolskis,
(4) Schön an Bethmann am 16.01.1911
(5) Canis, Der Weg in dem Abgrund
 
Zuletzt bearbeitet:
Ein Akteur, der bisher ein wenig übersehen worden ist, war die USA bzw. ihr Präsident T. Roosevelt. Er hatte einen relevanten Einfluss auf das Resultat der ersten Marokko-Krise.

Im Rahmen der ersten Krise hatte KW II den Kontakt zu T. Roosevelt gesucht und ihn aufgrund seiner Kritik am klassischen Kolonialismus und seiner Päferenz für die „Open Door“ Politik für die deutsche Sache gewinnen wollen [alle Ausführungen beziehen sich auf: 1, S. 72ff].

In diesem Kontext schrieb der deutsche Botschafter in den USA, Speck von Sternburg, an Roosevelt, dass KW II jeden Rat von ihm zur Lösung des Konflikts als „Schiedsspruch“ akzeptieren würde. Und damit hatte Sternburg seinen diplomatischen Ermessensbereich überzogen, da er in diesem Sinne nicht legitimiert worden ist.

Roosevelt hatte seit der Venezuela-Krise eine gewisse Distanz zu den politischen Zielen des DR aufgebaut und durch den Wegfall, seit 1903, der Probleme der Grenzziehung zu Kanada ergab sich eine größere Nähe zu GB und somit auch zu Frankreich.

https://de.wikipedia.org/wiki/Venezuela-Krise

Vor diesem Hintergrund unterstützte Roosevelt die Forderung von Frankreich gegen das DR. Und Roosevelt überzeugte KW II, der Einigung mit Frankreich zuzustimmen. Dabei nutzte er den Brief von Sternburg als potentielles Druck mittel nur latent, ohne ihn direkt einsetzen zu müssen.

Anschließend gratulierte Roosevelt KW II zu seinem diplomatischen Erfolg und half den Frieden zunächst zu sichern.

1.Combs, Jerald A. (2012): The history of American foreign policy from 1895. 4th ed. Armonk, N.Y., London, Routledge


Es steht außer Frage, dass das Ziel Präsident Roosevelts der Erhalt des Friedens war, denn dieser war die unmittelbare Voraussetzung für seine Gleichgewichtspolitik.
Die USA sahen in Frankreich das erforderliche Gegengewicht zu England, zu dem man zu jener Zeit in Ostasien und Neufundland in Spannungen stand. Aber die USA sahen auch den Erhalt Frankreichs und Großbritanniens als unabdingbar an, damit diese eine deutsche Hegemonie in Europa verhindern können.
Die Sympathien Roosevelts galten in der Marokkokrise Frankreich, das ja immerhin die Krise durch glatten Vertragsbruch und Ignorierung des Deutschen Reichs ausgelöst hatte.
Das spielte aber mal wieder keine Rolle. Roosevelt agierte äußerst geschickt. Er wirkte auf Frankreich dahingehend ein, an der Konferenz teilzunehmen und sicherte ihnen auch den amerikanischen Beistand zu. Gegenüber den Deutschen bediente er sich einer schmeichelhaften Sprache, für die ja bekanntermaßen gerade Wilhelm II. sehr empfänglich war. Interessant ist auch, dass Roosevelt auf die Stimmung im Kongress überhaupt keine Rücksicht nahm, denn dieser wollte, dass sich die USA aus dieser Krise schlicht und ergreifend heraushalten.
Reichskanzler Bülow ließ Roosevelt im Zuge der Krise sogar ausrichten, „er werde, wenn nach Annahme der Konferenz durch Frankreich Spannungen entstehen sollten, allemal bereit sein, bei S.M. dem Kaiser diejenige Entscheidung zu befürworten, welche Präsident Roosevelt als praktisch und fair empfehlen wird. (1)
Die deutschen Staatsmänner haben Roosevelt und dessen Intentionen vollkommen falsch eingeschätzt und haben auf der Konferenz eine glatte Bauchlandung hingelegt.



(1) Große Politik, Band 20, Dokument 6744
 
scorpio schrieb:
Kiderlen- Wächters politisches Konzept unterschied sich zwar vorteilhaft von der unseligen Prestigepolitik Holsteins und Bülows
In der Marokkokrise von 1905 ging es nicht um Prestige. Ich zitiere hier einmal den bayrischen Gesandten in Berlin, den Grafen Lerchenfeld.
"Man hatte versucht, uns im Konzert der Mächte zu isolieren und lahmzulegen. Gegen diesen Versuch wurde mit Fug und Recht die Marokkoaktion eröffnet und mit Erfolg durchgeführt. Deutschland hat bewiesen, daß man es nicht ungestraft übersehen kann." (1)

Die Entente sollte gesprengt werden.

(1) Schöllgen, Die Macht in der Mitte Europas. Stationen deutscher Außenpolitik, S.58
 
In der Marokkokrise von 1905 ging es nicht um Prestige. Ich zitiere hier einmal den bayrischen Gesandten in Berlin, den Grafen Lerchenfeld.
"Man hatte versucht, uns im Konzert der Mächte zu isolieren und lahmzulegen. Gegen diesen Versuch wurde mit Fug und Recht die Marokkoaktion eröffnet und mit Erfolg durchgeführt. Deutschland hat bewiesen, daß man es nicht ungestraft übersehen kann." (1)

Die Entente sollte gesprengt werden.

(1) Schöllgen, Die Macht in der Mitte Europas. Stationen deutscher Außenpolitik, S.58


Da habe ich mich wohl missverständlich ausgedrückt. Mit Prestigepolitik meinte ich den Erwerb von über den Globus verstreuten, geographisch nicht zusammenhängenden Kolonialgebieten, die als potenzielle Absatzmärkte und Siedlungsgebiete für Auswanderer keine große Rolle spielten. Die deutschen Kolonien waren mit Ausnahme Togos Zuschussprojekte. ´Der Erwerb der deutschen Kolonien- auch auf Druck der öffentlichen Meinung- geschah im wesentlichen aus Prestigegründen, da nach Meinung vieler Zeitgenossen-nicht nur in Deutschland- Der Besitz von Überseekolonien notwendig war, um "Weltpolitik" zu betreiben.

Die Konzeption eines geographisch zusammenhängenden Kolonialreiches "Deutsch-Mittelafrika" das durch portugiesische Gebiete und womöglich Belgisch Kongo arrondiert und abgerundet werden sollte, war schon von einer anderen Dimension.

König Leopold II. Privatkolonie, die er nach seinem Tod 1908 dem belgischen Staat vermachte, hatte Leopold zu einem der reichsten Männer der damaligen Zeit gemacht. Außer Gummi und Elfenbein verfügte der Kongo u. a. über reiche Kupfervorkommen.
 
In der Summe durfte Frankreich, trotz seines eklatanten Vertragsbruchs, sich am 04.November 1911 als Sieger seiner expansiven Bestrebungen in Marokko fühlen.

Das wird nicht ohne Wirkung auf Italien geblieben sein. Noch im gleichen Jahr schritt Italien ja bekanntermaßen gegen die Integrität des Osmanischen Reiches in Libyen zur Tat. Auffallend war, wie geräuschlos Großbritannien und Frankreich hier auftraten. Nun ja, Italien hatte sich ja schon die französische Unterstützung für eine italienische Kolonie eingeholt.

Und in der Folge des brutalen italienischen Vorgehens entschloss sich dann auch der Balkanbund, der ja unter russischer Schirmherrschaft begründet worden war, auch zur Tat gegen das Osmanische Reich vorzugehen und sich der türkischen Herrschaft zu entledigen.
 
Zuletzt bearbeitet:
In der Summe durfte Frankreich, trotz seines eklatanten Vertragsbruchs, sich am 04.November 1911 als Sieger seiner expansiven Bestrebungen in Marokko fühlen.

Abgesehen von dem üblichen Imperialismus, durch den man sich hier in die Haare bekam, hatten wir oben in #14, 15, 41, 48 deutlich herausgearbeitet, dass es keinen "Vertragsbruch" gab, und das Deutsche Reich im imperialistischen Gerangel 1909 Frankreich den Boden quasi überlassen hatte.

Wie aus den Zitaten ersichtlich, kam der frz. Imperialismus sogar der deutschen Strategie entgegen, durch eine Zuspitzung "Kompensationen" aus der Krisenlösung zu verlagen.

Diese angestrebten Kompensationen hatten so denn auch nichts mit Marokko zu tun (wo sich deutsche Interessen faktisch nahe Null bewegten), sondern wie seit 1905 ging es um die Stützpunkt- oder Hafenfrage "zwischen Nordsee und Daressalam", woran Deutsche Seemacht und Weltgeltungsstreben sozusagen "krankten".
 
Der Text des deutsch-franösischen Abkommens von 1909 lautet vollständig:

„Die Kaiserlich deutsche Regierung und die Regierung der französischen Republik, beseelt von dem gleichen Wunsche, die Ausführung der Algecirasakte zu erleichtern, haben vereinbart, um in Zukunft jeden Grund zu Missverständnissen untereinander zu vermeiden, die Haltung, die sie den Bestimmungen dieser Akte gegenüber einnehmen, genau festzulegen.
Demgemäß erklären die Regierung der französischen Republik, ganz auf die Erhaltung der Unverletzlichkeit und Unabhängigkeit des Scherifenreiches bedacht, entschlossen, dort die wirtschaftliche Gleichberechtigung zu bewahren und infolgedessen die deutschen kommerziellen und industriellen Interessen nicht zu hindern,

und die Kaiserlich deutsche Regierung, keine anderen als wirtschaftliche Interessen in Marokko verfolgend, und andererseits anerkennend, daß die besonderen politischen Interessen Frankreichs dortselbst, eng mit der Sicherstellung der Ordnung und des inneren Friedens verbunden sind, und entschlossen, diese Interessen nicht zu hindern,
daß sie keine Maßnahme verfolgen und unterstützen werden, die geeignet ist, zu ihren Gunsten oder zugunsten irgendeiner anderen Macht ein wirtschaftliches Privilegium zu schaffen, und daß sie versuchen werden, ihre Staatsangehörigen in denjenigen Geschäften zu vereinigen, die diese unternehmen könnten.

Geschehen zu Berlin, am 9. Februar 1909.

(gez.) v. Schöen. (gez.) Jules Cambon“


Wichtig ist die unterstrichene Passage, denn das wollten die Franzosen nicht. Durch das Abkommen von 1909, wurde zwar die französische politische Vormachtstellung anerkannt, aber das militärische Eingreifen, aufgrund eines fingierten Hilferufes des Sultans, war sowohl ein Bruch des Abkommen von 1906, Algeciras Akte, als der Abmachung mit dem Deutschen Reich aus dem Jahre 1909. Klaus Hildebrand schreibt, dass der Bruch bestehender Rechtsverhältnisse dem Deutschen Reich den Anlass zum Eingreifen geliefert hätte. Thomas Nipperdey schreibt, dass die Franzosen wieder den bestehenden internationalen Vereinbarungen Rabat und Fes besetzten. Konrad Canis sieht eine flagrante Verletzung der Algeciras Akte von 1906.

Die Franzosen wollten in Wahrheit ein Protektorat über Marokko errichten und die Deutschen haben das durchschaut. Die Frage einer Kompensation wurde übrigens zuerst von Frankreich, namentlich in Französisch-Kongo, ventiliert.
Das die Deutschen in dieser Krise ebenfalls eine trübe Rolle spielten, steht gar nicht in Frage, nur Frankreich ist eben kein Unschuldslamm.
 
Zuletzt bearbeitet:
Das Madrider Abkommen vom Juli 1880, das von Frankreich, GB, Spanien, Belgien, den USA, Portugal, Schweden, Norwegen, Italien, den Niederlanden, Österreich -Ungarn und dem Deutschen Reich unterzeichnet wurde, garantierte den Signaturmächten eine "Politik der offenen Tür". Ein Handelsvertrag vom 1. Juli 1890 hatte diese Rechte noch weiter klargestellt. Völkerrechtlich war die Forderung der Reichsregierung nach einer Konferenz der Signaturmächte durchaus legitim. Neben Schneider- Creusot, dem Bankhaus Rothschild hatte Krupp und andere Vertreter der rheinischen Schwerindustrie Interessen an den Erzvorkommen Marokkos. Dennoch war am Vorabend der 1. Marokkokrise der Einfluss GBs am größten, und eine Einigung mit England hätte wohl zu einer problemlosen Übernahme Marokkos durch das Deutsche Reich geführt. In einer geheimen Zusatzklausel der britisch-französischen Entente war allerdings Frankreich die Übernahme Marokkos garantiert worden.

Die deutsche Diplomatie war einerseits recht gut über die Lage in Marokko informiert, doch zog man zu optimistische Schlüsse. Graf Metternich, Bülow und Holstein gingen davon aus, dass Italien an Tunis genug interesse habe, Spanien befürchte, von Frankreich ausgebootet zu werden und in Marokko leer auszugehen und GB schon wegen der USA in Marokko nicht eingreifen werde. Die USA, so glaubte Holstein, würden zwar Drohungen vermeiden, sich diplomatisch aber für eine Konferenz und politik der offenen Tür stark machen. es sollte Frankreich bei der konferenz von Algeciras eine diplomatische Niederlage bereitet werden, die es an der Entente zweifeln lassen sollte, und durch dieses "Game of Bluff" (Zitat Graf Metternich) hoffte man, die Triple Entente zu diplomatisch auszuhebeln, bevor sie richtig begonnen hatte.

Nach dem Sturz Delcasses wurde der deutschen Diplomatie allerdings der Wind aus den Segeln genommen, da der Finanzminister Rouvier eine Deeskalationspolitik betrieb und diese auch ernst meinte. Außerdem war das Comitee marocain so mächtig und präsent in Marokko wie zuvor und übte weiterhin großen Einfluss aus. Vor allem war es die Fehleinschätzung der britischen Politik, die Holstein zu der pessimistischen Äußerung gegenüber Bülow führte, "das England jetzt die Quittung präsentiert für das Krügertelegramm, die Burenkriegsepisode, die Flottenagitation und manches andere. Die franko-britische Entente werde in Marokko wahrscheinlich einen praktischen Erfolg verbuchen, der jeden Zweifel an der Entente beendet und Frankreich auf absehbare Zeit an Englands Seite bindet." (Holstein Geheime Papiere Nr. 903 S. 20)

Durch geheimdiplomatische Zusatzklauseln wurden internationale Abkommen zunehmend ausgehöhlt.
die deutschen Diplomaten machten bei der 2. Marokkokrise ziemlich genau die gleichen Fehler. Am Vorabend der 2. Marokkokrise hatten dort nur noch die Brüder Mannesmann größere wirtschaftliche Interessen. Kiderlen- Wächter spannte die Presse und selbst den Chef der Alldeutschen ein, für ein deutsche Marokko zu trommeln, während eigentlich Kompensationen in Mittelafrika geplant waren. Die Argumentation, es müsste die Sicherheit deutscher Staatsangehöriger verteidigt werden wurde als unaufrichtig, und der "Panthersprung" als ein rüder diplomatischer Faustschlag auf den Tisch wahrgenommen. Teile des deutschen Bürgertums u. a. Maximilian Harden in der Zukunft warfen Wilhelm II. und der deutschen Diplomatie vor, mit dem Säbel zu rasseln, aber bei Widerständen zurückzuweichen. Das Kompensationsangebot durch Teile des französischen Kongo blieb weit hinter den Erwartungen zurück.
 
und die Kaiserlich deutsche Regierung, keine anderen als wirtschaftliche Interessen in Marokko verfolgend, und andererseits anerkennend, daß die besonderen politischen Interessen Frankreichs dortselbst, eng mit der Sicherstellung der Ordnung und des inneren Friedens verbunden sind, und entschlossen, diese Interessen nicht zu hindern,...

Konrad Canis sieht eine flagrante Verletzung der Algeciras Akte von 1906.


Die von Canis behauptete "flagrante Verletzung" liegt nicht 1911 vor, sondern bereits im kollusiven Zusammenwirken der beiden imperialistischen Staaten Deutschland und Frankreich 1909, bei dem das Fell des Schwächeren bereits einvernehmlich zerlegt und geteilt wurde. Damit war die "Sache" geregelt.

Zwischen dem Deutschen Reich und Frankreich wurden - der übliche Imperialismus zu Lasten schwacher Dritter - 1909 zwei zentrale und definitive Absprachen getroffen, und ungeachtet der schwülstigen Diplomatensprache kann man das auf den Kern verdichten:

1. Der erste Teil ist nichts anderes als die Vereinbarung der Open-Door-Politik.
2. Der zweite Teil ist der endgültige deutsche Verzicht auf politische Einmischung.

Daraus folgte die klare - und zutreffende - deutsche Bewertung der Krise:
Röhl, Wilhelm II. - Der Weg in den Abgrund 1900 – 1914, etwa zitiert den Kaiser aus einem Telegramm an Bethmann vom 30. April 1911 wie folgt, S. 846: „[...] Uns kann es nur recht sein, wenn Franzosen sich mit Truppen und Geld tüchtig in Marokko engagieren, und ich bin der Ansicht, daß es nicht in unserem Interesse liegt, dies zu verhindern. ...“

Nun lohnt der Blick darauf, welche deutschen Interessen durch den französischen Imperialismus überhaupt auf dem Spiel standen.

Im Jahr vor der 2. Krise lagen die deutschen Marokko-Exporte 1910 bei rund 4,9 Mio. Mark, etwa 0,8 Promille der deutschen Gesamtexporte. Importe waren völlig vernachlässigbar. 1911/13 entwickelte sich das normal unter der französischen Vormachtstellung weiter: 1911: 12,5 - 1912: 19,1 - 1913: 9,7.
Ähnlich wie im Fall Transvaal, bei dem tangierte deutsche ökonomische Interessen als gefährdet und mit beinahe hysterisch Verdrängung befürchtet wurde, war da nichts dran.

Ergo: Teil 1 und deutsche Interessen sind in keiner Weise "verletzt" worden.*

Alle "Kompensationsanreden" im Spiel und in der von Deutschland eskalierten Krise der Imperialisten (Tenor: die Juli-Krise 1911 wird benutzt, um die bisherigen Frustrationen Fehlschläge in imperialer Weltpolitik als Scharte auszuwetzen) laufen ausschließlich unter dem oben von "Der Greif" angeführten moralischen Aspekt oder sind politisch-strategische Krisenbewältigungsbemühungen. Niemand pochte ernsthaft auf Vertragsrechte - wie auch, wenn es keine gab?

Man muss hier deutlich zwei Sachen unterscheiden:

- das eine ist der übliche, ordinäre Imperialismus der Großmächte der Zeit.

- das zweite ist eine Zuspitzung auf Weltkriegsszenarien und die von manchen so bezeichnete Urkatastrophe.


_______
* Im übertragenen Sinn einigen sich hier zwei "Einbrecher" darüber, wie sie die Beute im Erdgeschoss und ersten Stock zu teilen gedenken, wer den Haustürschlüssel bekommt, und wer den Fernseher.
 
Die II. Marokko-Krise wird meiner Einschätzung nach für das DR bedingt durch
• den Amtsantritt von Alfred Kiderlen-Wächter als Staatssekretär des AA Ende Juni 1910
• den Versuch, via der Zubilligung einer franz. Beherrschung Marokkos durch die dt. Reichsregierung die franz. Regierung verständigungsbereiter werden zu lassen
• den Versuch, via Marokko von Frankreich Kompensation in Form von "ertragreichen" und größerem (afrikan.) Kolonialgebiet zu erhalten
• den Versuch, mit der Kanonen-Boot-Politik auf die seit Mai /Juni 2011 verstärkte militärische Präsenz/Besetzung Marokkos durch die franz. Reg. wie auch der span. Regierung zu reagieren, mit der Marokko zwischen beiden Staaten aufgeteilt zu sein schien.
• den gründlich missratenen Versuch besonders Kiderlen-Wächters, mit Hilfe von reichsdeutscher Presse/Öffentlichkeit und den Alldeutschen "Druck" entstehen zu lassen, der bei den Verhandlungen um Kompensation die französ. Regierung /Unterhändler "verständiger" machen sollte
• den Versuch, die für die dt. Reichsregierung – und "Öffentlichkeit" - unbefriedigenden Ergebnisse der ersten Marokko-Krise vergessen zu machen
• den erneuten Versuch, die Entente zwischen franz. und britischer Regierung zu schwächen

Dass fast direkt im Anschluss an die Krise die italienische Regierung am September 1911 ungehindert von den Großmächten der Entente einen Kolonialkrieg in Nordafrika führen konnte, wirft vielleicht ein bezeichnendes Schlaglicht auf die verfahrenere/schwierigere Situation der reichsdeutschen Außenpolitik und ihrer Ambitionen im Unterschied zum ebenfalls neuen Nationalstaat Italien.
 
Niemand pochte ernsthaft auf Vertragsrechte - wie auch, wenn es keine gab?

Als Verhandlungssubjekt/Verfügungsmasse/Taktikmasse/Legitimationsaufhänger/ Glaubensgrundsatz waren sie durchaus vorhanden und relevant, nicht zuletzt in der Presse und "Öffentlichkeit" und damit wirksam, scheint mir.

Natürlich verstehe ich, was Du meinst.
 
Den sogenannten Bruch der Algecirasakte von 1906 kann man nun wohl doch annehmen, wie ich entlang Düffler u.a., Vermiedene Kriege, Die zweite Marokko-Krise 1911, S. 621, nachvollziehen kann.

Dabei geht es um die Besetzung Marokkos sowohl durch französische UND spanische Truppen. Die spanischen Truppen rückten unangekündigt ab Juni 1911 in den spanischen Einflusszonen ein, besetzten verschiedenen Städte etc.

Damit war die 1906 formal garantierte Souveränität und Integrität Marokko definitiv und unübersehbar beendet - und damit der Algeciras-Vertrag.

Die bei Düffler u.a., Vermiedene Kriege, S. 621, dazu angegebenen Belegstellen in den British Documents of the Origins of the War 1898 - 1914, Band VII (S. 191, 253, 61, 277, 283) sind valide und eindeutig. Grey notiert derweil S. 278 entsprechend das Thema eines "Preises" für die dt. Zustimmung zu den Vorgängen - das war am 1.6.1911 und die spanischen Truppen noch gar nicht in Marokko gelandet.

Der "Panthersprung" vom 1.7.1911 wurde ansonsten in der Pariser Hauptpresse relativ ruhig aufgenommen und vor allem als typisch deutsche, unangemessene wie unangebrachte Aktion betrachtet, so mein Eindruck von vor 3 - 4 Wochen.

In der französischen Presse begegneten mir zudem viele Berichte über die spanische Intervention in Marokko und die daraus resultierenden erheblichen Auseinandersetzungen zw. der spanischen und der franz. Regierung.

Die tatsächliche Spannungsphase mit Kriegsängsten entstand erst nach der Rede von GB-Finanzminister Lloyd George am 21.7. und der nachfolgenden unerhört scharfen Protestnote von Seiten des AA des Dt. Reiches (Kiderlen-Wächter) gegen die Rede bzw. ihre Intension.
 
. Niemand pochte ernsthaft auf Vertragsrechte - wie auch, wenn es keine gab?

Schon beeindruckend, welche namenhaften Historiker sich da alles so irren sollen und nur John Röhl den Durchblick hat.

Dass fast direkt im Anschluss an die Krise die italienische Regierung am September 1911 ungehindert von den Großmächten der Entente einen Kolonialkrieg in Nordafrika führen konnte, wirft vielleicht ein bezeichnendes Schlaglicht auf die verfahrenere/schwierigere Situation der reichsdeutschen Außenpolitik und ihrer Ambitionen im Unterschied zum ebenfalls neuen Nationalstaat Italien.

Italien hatte für sein brutales Vorgehen die Rückendeckung der Triple Entente und war auf dem Papier mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn verbündet.
Im Gegensatz zum unangenehmen Operieren der italienischen Außenpolitik im Jahre 1915, haben die Österreicher die günstige Lage 1911/12 nicht für sich ausgenutzt und auch keine Kompensation verlangt. Was für ein Unterschied!
 
Hallo Turgo, Du schreibst:

Italien hatte für sein brutales Vorgehen die Rückendeckung der Triple Entente und war auf dem Papier mit dem Deutschen Reich und Österreich-Ungarn verbündet.
Im Gegensatz zum unangenehmen Operieren der italienischen Außenpolitik im Jahre 1915, haben die Österreicher die günstige Lage 1911/12 nicht für sich ausgenutzt und auch keine Kompensation verlangt.

das Königreich Italien hatte das Glück oder Pech, aus nachvollziehbaren konkreten Gründen nicht als neue, ernsthaft konkurrenzfähige Großmacht zu gelten, salopp formuliert. Mit den "Großmächten" waren bis 1914 immer die 5 bekannten gemeint. Das Königreich und seine Politik wie Öffentlichkeit waren auch deswegen so vehement auf Kolonien aus, um endlich im "Konzert" ein wenig ernster genommen zu werden - lavierte aber auch halbwegs geschickt zwischen den beiden Blöcken, nutzte diesen Freiraum als "6. Rad".

Das mit der Kompensation Ö.-Ü. gegenüber dem Königreich Italien war halt schlecht möglich unter "Verbündeten" - viel Auswahl hatten das Dt. Reich und Ö.-U. bekanntermassen nicht. ;-)
Und die reichsdt. Politik bremste Ö.-U. Ambitionen in dieser Richtung, wenn ich mich nicht täusche, recht eindeutig.

Viele Grüße,

Andreas
 
Der Dreibundvertrag, ich meine es ist der Artikel 7, sah entsprechende Kompensation, für genau wie den vorliegenden vor.
Und Aehrenthal hat keines deutschen Drucks bedurft. Er verzichtete von sich aus.
 
Italien hätte 1915 nicht nur das Trentino, sondern auch Görz, Gradisca und Triest als "Freie Stadt" haben können, ohne am Isonzo Tausende von Menschenleben verheizen zu müssen. Die Donaumonarchie war schließlich auf Drängen der Deutschen zu diesen Kompensationen bereit, um Italiens Neutralität zu garantieren. Um der Donaumonarchie die Kompensation etwas leichter zu machen, war Deutschland bereit, Österreich-Ungarn das polnische Kohlerevier Sosnovice und notfalls einen Teil Schlesiens abzutreten, was in der deutschen Öffentlichkeit einen Sturm der Entrüstung heraufbeschworen hätte.

Daraus wurde aber nichts, am 26. April unterzeichneten Frankreich, GB, Russland, und Italien den Londoner Vertrag. Gegen die Zusage, binnen eines Monats aktiv in den Krieg einzutreten, forderte Italien Südtirol bis zum Brenner, Istrien samt den vorgelagerten Inseln, Görz, Gradisca, Triest, den Dodekanes und einen Großteil Dalmatiens. Am 23. Mai 1915 trat Italien, nachdem es die Entente und die Mittelmächte gegeneinander ausgespielt hatte in den Krieg ein und erklärte Ö-U den Krieg. Mit bekanntlich mäßigem militärischem Erfolg. Die Hoffnung der Entente, an der Südostflanke der Mittelmächte einen Coup zu landen, schlug fehl, was auf den Erfolg der Gorlice-Tarnow- Offensive zurückzuführen war. Rumänien, das nach dem Weltkrieg Siebenbürgen, die Bukowina, das Banat und Bessarabien erhielt, scheute daraufhin von einem Kriegseintritt zurück und trat erst 1916 nach dem Debakel der Brussilowoffensive 1916 auf Seiten der Entente in den Krieg ein.
 
Hallo Turgot,

Du schreibst:

Der Dreibundvertrag, ich meine es ist der Artikel 7, sah entsprechende Kompensation, für genau wie den vorliegenden vor.
Und Aehrenthal hat keines deutschen Drucks bedurft. Er verzichtete von sich aus.

Der Dreibund-Vertrag wurde 1911/1912 neu verhandelt zwecks Verlängerung, Aehrental war sei Anfang 1912 nicht mehr AA-Chef Ö.-U., Nachfolger war Leopold Berchthold.
Von daher war durchaus nicht erwünscht, dass Ö.-U. mit heiklen Forderungen die Verhandlungen gefährdete.

Liebe Grüße,

Andreas
 
Ja, aber der Inhalt der Kompensation hat sich mit der vorzeitigen Verlängerung nicht verändert.

Beispielsweise griffen italienische Kriegsschiffe das türkische Kanonenboot Tokat bei perveza, als an der Küste der europäischen Türkei, an. Das stand zum einem in Widerspruch zu der von italienischen Regierung abgegebenen Erklärung, den Krieg lokalisieren zu wollen und darüber hinaus zu Artikel 7 des Dreibundvertrages.

Es war Aehrenthal, der am 01.Oktober 1911 per Telegramm na Rom, Berlin und Konstantinopel seinen Unwillen massiv Ausdruck verlieh. Unter anderem brachte er auch zum Ausdruck, das dieses Vorgehen der Italiener eine Grundlage für Kompensationsforderungen Österreich-Ungarns bilden könnten.

Es war auch Aehrenthal, der Conrad ausbremste, damit dieser nicht militärisch gegen Italien vorgeht. Das hat Conrad temporär den Job als Generalstabschef gekostet.

Aehrenthal erlag am 17.Febraur 1912 einen langen, schweren Krankheit und war doch bis kurz vor seinem Ende für die auswärtige Politik seines Landes verantwortlich geblieben.
 
Ja, aber der Inhalt der Kompensation hat sich mit der vorzeitigen Verlängerung nicht verändert.

Beispielsweise griffen italienische Kriegsschiffe das türkische Kanonenboot Tokat bei perveza, als an der Küste der europäischen Türkei, an. Das stand zum einem in Widerspruch zu der von italienischen Regierung abgegebenen Erklärung, den Krieg lokalisieren zu wollen und darüber hinaus zu Artikel 7 des Dreibundvertrages.

Es war Aehrenthal, der am 01.Oktober 1911 per Telegramm na Rom, Berlin und Konstantinopel seinen Unwillen massiv Ausdruck verlieh. Unter anderem brachte er auch zum Ausdruck, das dieses Vorgehen der Italiener eine Grundlage für Kompensationsforderungen Österreich-Ungarns bilden könnten.

Kannst Du kurz erläutern, welche Wirkung der anzuwendende Artikel VII (mit seinem gleichlautenden Vorgänger bereits im öu-ital. Separatvertrag von 1887) bei Österreichs Vorgehen in der vorlaufenden bosnischen Annexionskrise hatte, unter Berücksichtigung der innen- und außenpolitischen Lage Italiens und den direkten Auswirkungen auf das italienische Vorgehen in Afrika?

Die Konfrontation bei Preveza mündete wie richtig dargestellt darin, dass Aehrenthal eine Positiv-Erklärung und Versicherung Italiens verlangte, Artikel VII zu beachten. Darauf folgte vertragsgemäß - nach diesem Scharmützel, dass mit der "Aufrechterhaltung des territorialen Status Quo" substantiell nichts zu tun hatte, und vielmehr überlagert wurde durch Schusswechsel italienischer Einheiten gegen österreichische Dampfschiffe, die sich auf dem Weg ins osmanische Albanien befanden - die italienische Anweisung, Seekämpfe in der Adria auf das Äußerste zu beschränken. Logischerweise konnte man sich in der Adria wegen der eigenen weit überlegenen Marine nicht als bedroht darstellen.
Bosworth, Italy - the least of the Great Powers
 
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