Poincaré besucht Russland im Juli 1914

Auch hier ist wieder Vorsicht mit McMeekin angebracht.

McMeekin füllt seine Thesen gern mal mit dem nebulösen Verweis auf die "fehlenden" Quellen auf. Das gilt aber für alle Seiten. Ich habe das hier im Forum schon mal ausführlich dargestellt. So kann man tief grübeln, warum keine amtlichen deutschen Dokumente über die Gespräche und Abstimmungen zur Entstehung des Blankoschecks "existieren", wo man doch sonst so schreibfreudig und Vermerk-versessen war.

Schmidt, Frankreichs Politik in der Julikrise, gibt detailliert Aufschluss darüber, warum diese Dokumente zum Petersburg-Besuch "verschwunden" resp. verloren gegangen sind, wer anschließend welche Memoiren und Tagebücher "frisiert" hat.
Er schließt mit der Feststellung, dass die Aussagen aus den Versatzstücken aller Beteiligten, einer ordentlichen Quellenkritik und auch dem kritischen Vergleich der Aussagen hinreichend rekonstruierbar sind. Gleiches gilt für die Standardwerke, die den Petersburg-Besuch eingehend abhandeln.

silesia,
Vorsicht ist bei diesem Thema stets angebracht.

Den Schmidt habe ich nach ca. 150 Seiten aufgegeben, weil ich leider nicht Französich kann, und er seine zahlreichen französischen Zitierungen nicht übersetzt.
Daher bitte ich Dich: was sagt er über die Ursache des Verschwindens dieser Papiere?
Denn es ist ja immerhin bemerkenswert, dass über ein solchen Staatsbesuch, der, folgt man McMeekin, sechs Monate lang vorbereitet wurde, keine Aufzeichnungen zu finden sind.
 
Der französische Botschafter Paléologue jedenfalls hatte sein Tagebuch frisiert; auch auf Intervention Poincares hin.

Bei der französischen Aktenedition ist zu beachten, das die Historker keinesfalls freie Hand bei der Auswahl der Dokumente hatten. Darüber hinaus wurde jeder Aktenband vor Publikation im Auftrage des Außenministerium kontrolliert. Trotzdem ist der Sammlung eine hohe wissenschaftliche Qualität zu bescheinigen.

Schmidt führt aus, das die Autoren der Documetns diplomatiques das Fehlen der entsprechenden Aufzeichnungen des Besuchs in Petersburg als anomalie bezeichnen. Denn so sind beispielsweise für das Jahr 1912 die Aufzeichnungen erhalten.

Aber auch die Inhaber der Nachlässe von Viviani, Poincare oder Palélogue waren nicht bereit den Herausgebern der französichen der Editionskommsission die persönlichen Aufzeichnungen der genannten Herren zur Verfügung zu stellen.

Schmidt schreibt auch, das erst durch die Öffnung des Nachlasses von Poincares die Quellenlage, zum Petersburgbesuch verbessert hat; aber nicht in gewünschten Umfang. Nur wie zuverlässig sind denn diese tatsächlich, wenn Poincare schon Palélogue veranlasst seine Aufzeichnungen zu manipulieren.
 
Zuletzt bearbeitet:
Schmidt berichtet auch, das Poincare mögicherweise auch Einfluß auf Sasnow sein Werk genommen hat. Denn er hat sich auf dem Höhepunkt der innerfranzösichen Auseinandersetzungen von Palélogue die Adresse von Sasnow verschafft.

Schmidt, Frankreichs Außenpolitik in der Julikrise 1914, S.36
 
http://www.geschichtsforum.de/f62/r...voraussetzung-und-der-eintritt-den-ww1-48326/
...
Wie bereits zwischen FRA und RUS Mittel Juli 1914 formuliert, ging man (zutreffend!) davon aus, dass das Deutsche Reich hinter einem österreichischen Angriff auf Serbien stehen würde, für den Russland (das eigentliche Ziel von Bethmanns Risikopolitik und von Deutschlands Blankoscheck, der eine antirussische Zielrichtung hatte) beistandspflichtig wird.
....

Woraus ergab sich eine Beistandspflicht Russlands gegenüber Serbien im Falle eines österreichischen Angriffs?
 
Woraus ergab sich eine Beistandspflicht Russlands gegenüber Serbien im Falle eines österreichischen Angriffs?

Ich meine hier keinen formellen Pakt, sondern die Positionierung Rußlands als Schutzmacht gegen den Versuch ÖUs, die Krise zur Liquidierung Serbiens zu benutzen (im Sinne der Worte Wilhelms) und Krieg einen Krieg zu beginnen.

Diese Positionierung erfolgte offen, so zB auch gegen Deutschland (Pourtales berichtete das ungeschminkt nach Berlin) und war selbstverständlich auch Frankreich bekannt.

Die Gründe für diesen strategischen Imperativ (um McMeekin zu zitieren) resp. die russische Positionierung gegen den Versuch auf dem Balkan und die Folgen des Attentats auf die Haltung der übrigen Balkanstaaten und des Osmanischen Reiches habe ich schon mal ausführlich dargelegt.
 
Der französische Botschafter Paleologue hatte Sasonow jeweils am 24.07 und erneut am 25.07. die unbedingte Unterstützung der russischen Balkanpolitik zugesichert.

Am 25.Juli unternahm Russland dann den ersten Schritt in Richtung Krieg, in dem die sogenannte Kriegsvorbereitungsperiode befohlen worden war. Wirksam wurde diese ab 26.Juli.

Das war höchst problematisch, denn die Kriegsvorbereitungsperiode umfasste den gesamten eben nicht nur die an der monarchie grenzenden Militärbezirke, sondern auch die an das Deutsche Reich grenzten. Das wurde natürlich auch von den Deutschen bemerkt.

Frankreich wurde über diesen Schritt am 26.Juli infomiert, verspürte aber keine Veranlassung mäßigend auf sein Verbündeten einzuwirken.

Am 28.Juli versicherte Paleologue Sasnow erneut Frankreichs Unterstützung. Das Am 28.07.hatte Wien Serbien den Krieg erklärt.

Am 29.Juli leiteten die Russen die Teilmobilmachung, die eigentlich technisch gar nicht möglich war, in die Wege. Bemerkenswert ist , das Poincare einen Teil seiner Tagebuchaufzeichnungen vom 29.07.1914 entfernt hat. Was soll man davon halten? Man könnte daraus schlussfolgern, das Poincare etwas zu verbergen hatte.

Am 30.Juli schickte der sozialisitsche Ministerpräsident Rene Vivani, der von Poincare in der Julikrise klar domminiert worden war, ein Telegramm nach Petersburg,welche eine Warnung enthält. Anlaß war wohl ein Telegramm Sasonows, in dieser berichtet, dass das Deutsche Russland aufgefordert hätte, seine Mobilmachung zu beenden. Sasonow aber wollte dies nicht und wollte eine Beschleunigung der Rüstung, da er wohl mit Krieg rechne.

Paleologue agierte aber im Sinne des französischen Präsidenten Poincare.

Sasonow schickte ein Kabel und dankte für die Versicherung, das man in vollem Umfange auf die bündnisunsterstützung Frankreichs rechnen können.
 
@silesia

Vielen Dank für den Hinweis. Schmidt habe ich schon vor Jahren teuer erworben.

@Köbis17

Es ist m.E. nach eine sehr deutschzentrische Sichtweise bei der Vorgeschichte des Ersten Weltkrieges und natürlich bei der Julikrise zu beobachten. So ist zum Beispiel bei den jüngsten Werken von Gerd Krumeich, Juli 1914. Eine Bilanz bei der Auswahl der Schlüsseldokumente fast nur deutsche Dokumente abgedruckt. Annika Mombauers Werk, Die Julikrise. Europa Weg in den Ersten Weltkrieg ist fast nur auf die Zentralmächte fixiert, ganz so als gäbe es in London, Paris und Petersburg keine maßgeblichen Akteure und vor allem keine, die Schuld auf sich geladen haben. Beispielsweise wird in der Summe gar nicht oder nur unzureichend die Rolle Poincares gewürdigt. Er kam 1912 in Amt und Würden und unter seiner Ägide änderte sich die bis dahin schon fühlbar entspanntere Verhältnis zwischen Paris und Berlin.

Poincares Staatsbesuch in St. Petersburg während der Julikrise könnte man durchaus als eine Art französischen Blankoscheck betrachten, jedenfalls hat er damit kräftig an der Eskalationsschraube gedreht.

Eigentlich gab es im Sommer 1914 keinen zwingenden Grund, einen europäischen Krieg vom Zaune zu brechen, der, und das hätte den Verantwortlichen bewusst sein müssen- fast zwangsläufig zu einem "Weltenbrand" eskalieren musste.

Die Dynamik ging aber vor allem von den Mittelmächten aus. Der Mord an Franz Ferdinand und seiner Gattin, die recht lieblos bestattet wurden, wurde funktionalisiert, um "mit Serbien abrechnen" zu können. Und wenn alles in die Binsen ging, hätte man ja immer noch glorreich untergehen können wie Franz Joseph I. sagte.

Ich ziehe es vor, von Verantwortung statt Schuld zu sprechen, und in diesem Punkt haben natürlich auch die Staatsmänner der Entente ein gerüttelt Maß an Verantwortung zu tragen. Verantwortung nicht nur für den Krieg, den eigentlich keine der europäischen Großmächte so geplant und gewollt haben, auch die Mittelmächte nicht, um den "Griff nach der Weltmacht" umzusetzen, sondern auch dafür, dass sie nicht in der Lage und willens waren, einen Verständigungsfrieden zu stiften und eine Friedensordnung zu entwerfen, die Europa dauerhaft befriedete. Sinn- und skrupellos wurden Hunderttausende meist junger Menschen verheizt, ohne dass eine Seite einem Sieg näher gekommen war.

Sieht man sich die Kriegspropaganda der Kriegsbeteiligten an, wird deutlich, dass dem Gegner praktisch das Menschsein abgesprochen wurde. Da nahmen sie sich alle nicht viel, von Lissauers Hassgesang und "Gott strafe England"- Phrasen bis zu den Produkten der Northcliff- Presse, die Adolf Hitler in "Mein Kampf" als Vorbild politischer Propaganda lobte.

Von Einkreisungsphobien, Abstiegsängsten und inneren Problemen motiviert, nahmen die Verantwortlichen den Krieg in Kauf und wollten ihn lieber früher, solange man noch glaubte, ihn siegreich beenden zu können.

Dabei trifft meiner Meinung nach, vor allem die reaktionären Monarchien große Mitverantwortung, die die Flucht nach vorne antraten und den Krieg als Mittel sahen, innere Probleme mit "Hurrapatriotismus" und medial geschürter Kriegsbegeisterung kompensieren zu können. Imperialistisch waren sie alle, die europäischen Großmächte, die Europa für den Nabel der Welt hielten und beanspruchten in Afrika die Zivilisation zu verbreiten und den Sklavenhandel zu bekämpfen. Die Kolonialisierten hatten keine Stimme, bei der Berliner Kongokonferenz, wo Leopold II., König der Belgier, das Kongobecken samt Boden- und Naturschätzen als Privatdomäne zugesprochen wurde, diskutierten die Teilnehmer allen Ernstes, wie man die "Neger" vor den Gefahren des Alkohols schützen sollte.

Kirchenvertreter nicht nur auf Seiten der Mittelmächte segneten nicht nur Waffen, sondern riefen dazu auf, den Feind zu vernichten wie der Erzbischof von Canterbury.

Von Einkreisungsphobien beseelt räumte das Deutsche Reich militärischen Erwägungen den Vorrang vor dem Primat der Politik ein und trug damit erheblich zur Eskalation bei.
 
Poincares Staatsbesuch in St. Petersburg während der Julikrise könnte man durchaus als eine Art französischen Blankoscheck betrachten, jedenfalls hat er damit kräftig an der Eskalationsschraube gedreht.
Diese Einschätzung teile ich vollkommen. Und die vor- bzw. frühzeitige russische Mobilmachung war absolut katastrophal. Und ich glaube nicht an den Blödsinn mit der Abschreckung, weil das unter den gegebenen Umständen gar nicht funktionieren konnte.

Ich will nicht die Schuld vom DR, vor allem Bethmanns wahnsinnige Risikopolitik, und ÖU verniedlichen, aber die anderen europäischen Großmächte, Großbritannien mit deutlichen Abstrichen, haben ebenfalls eine erhebliche Schuld zu schultern!
 
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Die Beiträge sind ja jetzt auseinander gerissen worden.

Im Thread Historiker habe ich ja Poincares Rolle am Vorabend des Weltkrieges erwähnt.

Er dehnte des casus foederis während seines Besuches 1912 in Petersburg erheblich aus. Er gestand Petersburg zu, das Frankreich auch dann auf der Seite Russlands kämpfen werde, wenn es im Verfolg seiner Interessen auf dem Balkan Krieg gegen Österreich-Ungarn führe. Das war nicht mehr defensiv, sondern ziemlich bedenklich, auch wenn erwähnt werden muss, das die Einschränkung galt, dass das Deutsche Reich an dem Kriege teilnahm. Wenn Russland also Österreich-Ungarn angreifen würde, dann war das Deutsche Reich gemäß den Bestimmungen des Zweibundes von 1879 verpflichtet, Wien beizustehen. Durch Poincare Großzügigkeit bekamen die Russen hierzu die Möglichkeit, denn die Franzosen würden ja militärisch auf Seiten ihres Verbündeten eingreifen. Das ist schon ein ganz schöne Ermutigung für die Russen gewesen und das ohne jede Not.
 
Im Thread Historiker habe ich ja Poincares Rolle am Vorabend des Weltkrieges erwähnt.

Er dehnte des casus foederis während seines Besuches 1912 in Petersburg erheblich aus. ... Das ist schon ein ganz schöne Ermutigung für die Russen gewesen und das ohne jede Not.

Wie schon öfters detailliert dargelegt, ist das nicht haltbar. Siehe zB #134.


Poincarre sagte den Russen schon einmal vorsorglich definitive Unterstützung zu; Bündnisfall war zwar nicht gegeben, das Russland nicht bedroht wurde und auch nicht angegriffen werden sollte, aber egal.
http://www.geschichtsforum.de/f62/r...voraussetzung-und-der-eintritt-den-ww1-48326/

Die Interpretation der vertraglichen Bindungen des Zweiverbandes ist in der Forschung höchst umstritten. Derzeitige Basis und sozusagen Ausgangspunkt des Streits ist die Analyse von George Kennan (siehe auch Schmidt, Julikrise und Keiger, France and the origins..., etc.).

Kennan hat herausgearbeitet, dass der Vertrag im Wortlaut der Artikel 1 und 2 widersprüchlich ist (ironisch mit "gegenseitiger Lüge" bezeichnet), außerdem und unbedingt (Artikel 2) gegenseitigen Beistand für den europäischen Krieg mit den Mittelmächten unabhängig von "Agression" oder Verursachung ansieht.

Anders als die Bedeutung des Vertrages für Russland ist der Vertragswert für Frankreich in einer existentiellen Lebensversicherung gegen den Konflikt mit dem Deutschen Reich einzuschätzen. Die 1912 (und 1909) bereits formulierte politische Linie der französischen Außenpolitik hatte die prinzipielle Vorstellung, dass eine Konfrontation von ÖU und RUS in jedem Fall die deutsche Mobilmachung auslösen würde.

Das ist wiederum der Bündnisfall gemäß Artikel 2.

Wie bereits zwischen FRA und RUS Mittel Juli 1914 formuliert, ging man (zutreffend!) davon aus, dass das Deutsche Reich hinter einem österreichischen Angriff auf Serbien stehen würde, für den Russland (das eigentliche Ziel von Bethmanns Risikopolitik und von Deutschlands Blankoscheck, der eine antirussische Zielrichtung hatte) beistandspflichtig wird.

Ein Teil der Literatur, der im Juli 1914 nun eine Erweiterung der Bündnispflichten FRAs gegenüber Russland sieht, bis hin zu einem französischen Blankoscheck, interpretiert diese Verträge ausschließlich politisch-formal, und übersieht außerdem die geänderten politisch-militärischen Rahmenbedingungen gegenüber 1894. Die Vertragsrealitäten und der materielle Gehalt des Vertrages werden vielmehr - üblich in der juristisch-vertraglichen Auslegung der Verpflichtungen - teleologisch ermittelt: Den europäischen Großmächten war 1914 völlig klar, dass eine Generalmobilmachung die äußerste diplomatische Krise, kurz vor einem möglichen Krieg, bedeutet. Dafür bestand die Beistandsverpflichtung nach Artikel 2 unabhängig vom Anlass.

Die teleologische Auslegung des Vertrages wird aus dem Schriftwechsel 1909 deutlich:

a) Erhaltung des Friedens und des militärischen Gleichgewichts in Europa (durch Abschreckung, eine vergleichbare Grundkonstellation wie die Bündnissysteme im Kalten Krieg)
b) Sicherung der gemeinsamen und dauerenden Interessen der beiden Länder (zu einzelnen Krisenfall definieren!).

Der materielle Gehalt des Vertrages bestand damit seit 1894 in einer Abwägung.

FRA hat zuvor in mehreren Krisen in genau dieser Abwägung signalisiert, es sehe den Bündnisfall nicht als gegeben an. Diese Abwägung musste im Juli 1914 anders ausfallen, in dem prognostizierten worst case: Krieg ÖU/RUS und sofortige Beteiligung des DR gegen RUS.

1914 war man sich klar, dass
a) das DR hinter der kriegskalkulierenden Haltung von ÖU "steckt"
b) dass wie 1911 (diplomatische "Blaupause" für die abschreckend-feste Haltung gegen das DR in Form der Mansion-House-Rede), somit ein Signal der Festigkeit gegenüber DR/ÖU den Krieg vermeiden würde
c) die Mittelmächte eine Interessenzone über Südosteuropa bis zu den Meerengen ausdehnen wollten (siehe Rose) und damit das europäische Gleichgewicht verschieben wollen.

In genau dieser Abwägung ist keine Ausdehnung/Erweiterung des Bündnisfalles des Zweiverbandes FRA/RUS gegeben, sondern die Anwendung seines Grundtatbestandes. Wie gesagt, diese Interpretation ist in der Literatur umstritten, ebenso wie die konträre Auffassung, nach dem Wortlaut des Vertrages sei eine Erweiterung des Bündnisregelungen vorgenommen worden.

Es ist daher sicher nichts dagegen einzuwenden, die Position der "Erweiterung der frz. Bündnispflichten" mit Verweis auf einige Autoren zu vertreten (die Position "französischer Blankoscheck" ist mE völlig überzogen, weil hier allein der Vorbehalt einstand, dass GB ebenfalls eine harte Haltung und ggf. Beistand garantieren würde).

Der Position sollte man allerdings der Klarheit halber anfügen, dass sie in den Detailforschungen zu dieser Frage keine herrschende Auffassung darstellt.
Ist diese Darstellung des Literaturstandes an irgendeiner Stelle unzutreffend oder unausgewogen?

Poincares Staatsbesuch in St. Petersburg während der Julikrise könnte man durchaus als eine Art französischen Blankoscheck betrachten, jedenfalls hat er damit kräftig an der Eskalationsschraube gedreht.

Die Darstellung eines frz. Blankoschecks geht an der Tatsache vorbei, dass es für den frz. Beistandsfall auf die zu dem Zeitpunkt völlig unsichere Rückendeckung Großbritanniens ankam. Wenn man schon plakativ von einem Scheck sprechen will, dann wäre dies ein "ungedeckter Blankoscheck".:D

Entschieden wurde in St. Petersburg, den Meldungen und Gerüchten über ein bevorstehendes, unannehmbares Ultimatum ÖU->SERB ...
[dessen Zweck die Herbeiführung eines Balkankrieges zur Eliminierung Serbiens mit deutscher Rückendeckung sein würde]
... durch ein klares Abschreckungssignal entgegen zu treten. Alternativ hätte man ein Appeasement erwägen können, dessen Erfolg vom Einlenken der Mittelmächte abhängig gewesen wäre. Hat man nicht

In der Literatur wird der These vom Blankoscheck insbesondere entgegen gehalten, dass die Unterstützung FRA für den Kriegsfall in klarer Weise davon abhing, ob Großbritannien diesen Abschreckungskurs mittragen würde.

Wie aus den diplomatischen Akten ersichtlich,
a) waren sich die russische und französische Seite bis zum Kriegsausbruch völlig unsicher, ob Großbritannien den Kurs unterstützen würde
b) war die frz. Unterstützung für den Fall völlig zweifelhaft, wenn Großbritannien den Kurs nicht stützen würde.

Die französische "decision for war" fiel nicht bereits unwiderruflich/vorbehaltlos in St. Petersburg, wie allen Beteiligten natürlich völlig bewusst war ...
[sonst hätte man wohl kaum andauert "nachgefragt", ob es eine Unterstützung auch tatsächlich gäbe],
... sondern im Zuge der Krise des Ultimatums und insbesondere bestärkt durch das deutsche Agieren - was aus frz. Sicht - zutreffenderweise - mit festen Willen zum Krieg gewertet worden ist, auf die nur eine feste abschreckende Antwort Sinn machen würde.

Hamilton/Herwig (Decisions for War: France) fassen das auf den Punkt wie folgt zusammen:
"Preventing war through a display of alliance strength was probably more hope than policy, but the Poincar ́e-Viviani mission took no military measures to insure against a failure of deterrence. The meetings in St. Petersburg appear to have been purely political, with no discussion of how to fight a war against the Germanic powers. In the absence of military conversations, the Russian military attach ́e quite reasonably asked Joffre on 28 July whether France would mobilize against Germany if Germany moved against Russia alone. Poincar ́e and Viviani had avoided the issue because war planning would have betokened political failure and, perhaps, encouraged Russia to act rashly. When the French leaders landed at Dunkirk on 29 July, both still believed that war would be avoided. The contrast between French promises of support and the absence of concrete plans made Russia nervous."
 
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Krumreich schreibt in seinem bedeutenden Werk „Aufrüstung und Innenpolitik in Frankreich vor dem Ersten Weltkrieg“ im Kapitel Strategische Planungen und Außenpolitik folgendes:
„ In dem Maße, wie sich die Unruhe der französischen Militärs hinsichtlich des russischen Verhaltens im Kriegsfall verstärkte, intensivierte die französische Regierung ihre Bemühungen, die Allianz, welche auch von ihr als nicht hinreichend stabil eingeschätzt wurde, um jeden Preis zu festigen. Mit Poincare war zu Beginn des Jahres 1912 ein Politiker an die Macht gekommen, der zutiefst überzeugt von den grundsätzlichen feindseligen Absichten Deutschlands, seine gesamte Politik darauf ausrichtete, Frankeich materiell und geistig für die drohende Krise bereit zu machen.“ Krumreich nennt als Quelle hierfür G.Wright, Raymond Poincare and the French Presidency.
Poincare war nicht gerade ein Glücksfall für die Beziehungen zwischen Frankreich und Deutschland, die sich sofort mit seinem Amtsantritt nachteilig entwickelten.
Poincares wichtigstes Anliegen war nicht die Beziehungen zum Deutschen Reich weiter auszubauen, nein das Gegenteil war der Fall, nämlich alles für die Allianz mit Russland und zu Deutschland nur das unbedingt nötige; am besten aber ignorieren. Krumreich schreibt, „Poincares Politik war, durch große Zugeständnisse in der Auslegung des casus foederis des Allianzvertrages Russland dazu zu bewegen, die politischen und militärischen Vereinbarungen nunmehr strikt einzuhalten. Eine der hier vertretenden Thesen ist, dass ein großer Teil der Außenpolitik Poincares aus dem Willen zu erklären ist, im Rahmen eine ohne Alternative konzipierten Politik der Absicherung gegen die hegemonialen Bestrebungen Deutschlands die russische Allianz bedingungslos zu verstärken, um den reibungslosen Ablauf der militärischen Abmachungen und damit die Effektivität des französischen Aufmarschplanes selber, der übrigens gemäß Krumreich eindeutig offensiv ausgerichtet war, sicherzustellen.“
Diesem Zwecke eben diente die Reise nach Petersburg im August 1912 und Poincare ging in seinen Zugeständnissen gegenüber den Russen extrem weit; nämlich die weiter oben genannte Zusicherung das Frankreich auch dann kämpfe, wenn Russland seine Balkaninteressen verfolge. Krumreich nennt hier als Quelle Albertini. Von Großbritannien ist hier allerdings keine Rede.

 
Der russische Botschafter in Paris Iswolski informierte seinen Außenminister Sasonow über ein Gespräch mit dem französischen Ministerpräsidenten Poincare unter dem Datum des 12.September 1912 folgendes mit:
„Sollte Russland eine militärische Intervention gegen Österreich-Ungarn einleiten müssen und sollte dies wiederum eine Intervention durch Deutschland nach sich ziehen, so erkenne die französische Regierung dies im Voraus als casus foederis an und würde nicht einen Augenblick zögern, die Verpflichtungen, die sie Russland gegenüber auf sich genommen hat zu erfüllen.“ (1)
Na, wenn das kein Blankoscheck ist.:D Die Russen wussten doch genau um die deutschen Verpflichtungen gegenüber Österreich-Ungarn, denn diese hat Bismarck im Zuge der Verhandlungen zum Rückversicherungsvertrag in Petersburg mitteilen lassen. Und insofern kann durchaus von einer aggressiveren französischen Außenpolitik gesprochen werden. Das ist doch eine klare Ansage des französischen Ministerpräsidenten und ich vermag hier nicht eine Abschreckungsstrategie, genauso wenig wie in der Julikrise, zu erkennen.

(1) Stieve, Schriftwechsel Iswolskis 2.Band, Dokument 429
 
Der russische Botschafter in Paris Iswolski informierte seinen Außenminister Sasonow über ein Gespräch mit dem französischen Ministerpräsidenten Poincare unter dem Datum des 12.September 1912 folgendes mit: [...]
Na, wenn das kein Blankoscheck ist.:D Die Russen wussten doch genau um die deutschen Verpflichtungen gegenüber Österreich-Ungarn, denn diese hat Bismarck im Zuge der Verhandlungen zum Rückversicherungsvertrag in Petersburg mitteilen lassen. Und insofern kann durchaus von einer aggressiveren französischen Außenpolitik gesprochen werden. Das ist doch eine klare Ansage des französischen Ministerpräsidenten und ich vermag hier nicht eine Abschreckungsstrategie, genauso wenig wie in der Julikrise, zu erkennen.

1. Eskalation und Ausweitung frz. Bündnispflichten im Juli 1914?
Diese nun von Dir vorgetragene Argumentation bestätigt zunächst einmal die Auffassung von Kennan und anderen, dass in der Juli-Krise 1914 während des Poincare-Besuchs keine materielle "Erweiterung" oder Modifizierung des frz.-russ. Beistandsabkommens abgegeben worden ist. Nach Deiner Argumentationsführung wird nunmehr eine solche Erweiterung oder Modifikation in Form des "Blankoschecks" FRA-RUS bereits um 2 Jahre vorverlegt und in das Jahr 1912 datiert.

2. Abschreckungsstrategie?
Anhand der Literatur ist im Forum breit diskutiert worden, was die krisen-diplomatische Ausgangslage für die Petersburger Gespräche gewesen ist:
a) Kenntnis vom bevorstehenden Ultimatum ÖU
b) herrschende Vermutung, dieses würde unannehmbar ausfallen
c) Ausgangspunkt: ÖU werde versuchen, einen Krieg zur Liquidierung Serbiens zu führen
d) diese Kriegsabsichten werden durch ein deutsches "backing" begünstigt und überhaupt erst möglich gemacht.
e) ein deutsches "backing" der ÖU-Kriegsabsichten werde durch eine abschreckende Haltung verhindert, die auf Grundlage der Beistandsabkommen erfolgt. DEU werde nicht den Großen Europäischen Krieg riskieren, wenn die Haltung der übrigen Großmächte dem gegenüber "fest" sein werde.
http://www.geschichtsforum.de/f62/k...d-russlands-vom-deutschen-blankoscheck-48521/
So wurde verfahren, Ziel war es, das Losschlagen ÖUs mit Einsetzen der Bündnismechansimen zu verhindern. Eine klassische Abschreckungsstrategie, wie vielfach in der Weltgeschichte exerziert. Ein frz. "backing" russischer "Präventivkriegsabsichten" war nicht Gegenstand des Kalküls, und die diplomatische Korrespondenz, die Dir ja bekannt ist, belegt die Unsicherheit Frankreichs darüber, die Unterstützung Russlands nur dann vornehmen zu können, wenn der Rückhalt Englands für diese Strategie gesichert sei. Allen Beteiligten war klar, dass diese Grundbedingung und Annahme zum Zeitpunkt des Petersburg-Besuches und Tage danach nicht gegeben war.

3. Zum Beistandsabkommen Stand 1912 auf Basis des von Dir zitierten Schriftwechsels.

Das Verständnis des kurzen Zitats wird nur aus dem Kontext ersichtlich. Dafür ist zunächst mal das Zitats "aufzubohren" und vollständig vorzutragen, um sich darüber klar zu werden, was hier eigentlich materiell angesprochen ist:

"Ferner sagte mir H. Poincare, dass nach seinen Informationen Österreich-Ungarn ... keinesfalls im Sandschak vordringen, wohl aber je nach dem Gang der Ereignisse sich gegen Serbien wenden werde. Das könne selbstverständlich nicht Russland gleichgültig lassen, und werde wahrscheinlich zu einem allgemeinen Kriege führen. ...

[Poincare zeichnet ein düsteres Bild der Krise mit der Gefahr eines sich ausweitenden Balkankrieges. Auslöser wird ein ÖU-Präventivkrieg gegen Serbien zwecks Beseitigung sein. Dieses entspricht nahezu der Lage im Juli 1914]

Auf meine Frage, ob er keinen Plan zur Verhütung all dieser Gefahren habe, antwortete mir H. Poincare, er sei außerstande, irgend etwas vorzuschlagen.... Die Ratschläge zur Mäßigung an die Balkanstaaten könnten kaum einen entscheidenden Einfluss ausüben.

Wenn trotz all dieser Ratschläge ein Balkankrieg ausbrechen würde, müsste so schnell wie möglich mit einem Vermittlungsvorschlag eingegriffen werden, und dabei würde es von großer Wichtigkeit sein, nicht das Terrain der allgemeinen europäischen Politik zu verlassen, und nach Möglichkeit jede Einzelintervention verhindern ....

[Poincare sieht hier klar die Eskalationsmöglichkeiten, wenn Einzelinterventionen die Bündnisketten in fataler Weise auslösen. Das ist krisenstrategisch das genaue Gegenteil von Blankoscheck]

Abschließend erklärte mir H. Poincare, die französische Regierung prüfe aufs ernsteste die Frage aller denkbaren internationalen Eventualitäten. Er gebe sich vollste Rechenschaft darüber, dass ... ein Angriff Österreich-Unganrns auf Serbien Russland zwingen könnte, seine passiv Rolle aufzugeben und zunächst seine Zuflucht zu einer diplomatischen Aktion und dann zu einer militärischen Intervention gegen die Türkei oder Österreich zu nehmen.
[Immer noch steht die Diplomatie vor dem Krieg als letztes Mittel - diplomatenseitig der übliche Vorbehalt gegen einen Automatismus]

Gemäß den Erklärungen, die wir von der französischen Regierung erhalten haben, ist uns bei einem derartigen Fall die aufrichtigste und energischste diplomatische Unterstützung sicher.

[bis dato: keine Rede vom frz. Blankoscheck militärischer Unterstützung. Der Kontext wird jetzt mit dem folgenden glasklar:]

Aber in dieser Phase der Ereignisse würde die Regierung der Republik nicht in der Lage sein, ... die für irgendwelche aktiven militärischen Maßnahmen notwendige Billigung zu erhalten. Wenn aber der Konflikt mit Russland ein bewaffnetes Eingreifen Deutschlands nach sich ziehen würde, so erkenne die französische Regierung dies im voraus als casus foederis an und würde nicht einen Augenblick zögern, die Verpflichtungen, die sie Russland gegenüber auf sich genommen hat, [sic!] zu erfüllen. Frankreich, setzte H. Poincare hinzu, ist unstreitig durchaus friedlich gesinnt, und wünscht oder sucht keinen Krieg, aber das Eingreifen Deutschlands gegen Russland würde sofort die Gesinnung ändern, und es ist als sicher anzunehmen, dass das Parlament ... in einem solchen Fall den Entschluss der Regierung, Russland eine bewaffnete Unterstützung zu gewähren, voll billigen würde."

Was Poincare hier garantiert, ist der Erhalt der "französischen Lebensversicherung" gegen den deutschen Versuch, einen Krieg ÖU/RUS zur präventiven militärischen Schwächung des Gegners Russland auszunutzen. Er stellt damit klar, dass man einer Beseitigung des frz. Bündnispartners nicht tatenlos zusehen werde und könne. [exakt von diesem Szenario ging die deutsche Diplomatie stets in gleicher Weise aus, weswegen beim Fall "Krieg mit Russland" nach Schlieffen-Moltke-Planung der Haupt- und Erstschlag sofort gegen Frankreich erfolgen müsse.] Gleichzeitig betont er diplomatische Lösung und stellt klar, dass Russland bei einem isolierten Balkankrieg mit ÖU keinerlei Unterstützung erwarten könne.

Zum Vergleich Dein verkürztes Briefzitat:

"Sollte Russland eine militärische Intervention gegen Österreich-Ungarn einleiten müssen und sollte dies wiederum eine Intervention durch Deutschland nach sich ziehen, so erkenne die französische Regierung dies im Voraus als casus foederis an und würde nicht einen Augenblick zögern, die Verpflichtungen, die sie Russland gegenüber auf sich genommen hat zu erfüllen."

Ergo ist auch dieses kein "Blankoscheck" (so wie das auch die Literatur darstellt):
1. es geht hier um einen deutschen Präventivkrieg gegen Russland
2. betont wird, dass eine diplomatische Lösung erfolgen müsse
3. Einzelinterventionen werden abgelehnt
4. Russland wird keine militärische Unterstützung bei einem Balkankrieg erhalten
5. Russland wird - gemäß dem Jahrzehnte bestehenden Abkommen, Unterstützung bei einem deutschen Angriff bekommen, da sonst die frz. Rückversicherung gegen eine potenzielle deutsche Hegemonie auf dem Kontinent in Gefahr gerät.
 
Zuletzt bearbeitet:
Poincares Staatsbesuch in St. Petersburg während der Julikrise könnte man durchaus als eine Art französischen Blankoscheck betrachten, jedenfalls hat er damit kräftig an der Eskalationsschraube gedreht.
...

Das ist der einzige Satz in Deinem Beitrag über den ich stolpere.
Der Staatsbesuch war ja schon vor der Julikrise festgelegt,
und die Julikrise selbst wird mit dem Besteigen des Rückfahrschiffes des Präsidenten und dessen Ministerpräsident, von Ö-U mit dem Ultimatum scharf geschaltet.
Und nun ist die erwartete und befürchtete Eskalation der Krise plötzlich real. Ich denke das macht schon einen erheblichen Unterschied.
Am 23. schiffen sich Poincare und Viviani für die Rückreise ein und am 29. werden sie Frankreich erreichen; und dann erst sichere Telegraphenverbindungen haben. (Otte - July Crisis S.209)
Am Morgen des 24. erlangt die Russische Regierung Kenntnis vom Ultimatum .

Der Staatsbesuch selber war natürlich kein Blankoscheck, denn dessen weit vorher erfolgte Verabredung konnte nicht im Zusammenhang mit der Julikrise stehen.
Ein anderer interessanter Aspekt ergibt sich aus der Behinderung des Informationsaustausches für Präsident und Ministerpräsident Frankreichs für lange sechs Tage,
und man wird vielleicht noch ein oder zwei Tage anschließen lassen, wenn man bedenkt, dass dieses Defizit erst mal aufgearbeitet werden muss.
Da aber kocht der Reaktor schon und ist am Durchgehen. (ist mir grad kein besseres Bild eingefallen)

Vor diesem Hintergrund fällt dem französische Botschafter in St. Petersburg Paleologue eine hervorgehobene Rolle zu, welche er in seinem, auf „Blankoscheck“ gerichteten, Sinne wahrnimmt. (ebenso Otte)
(In gewisser Weise das Gegenstück zum deutschen Botschafter Tschirschky in Wien, der ebenfalls seine eigene aggressive Außenpolitik verfolgt.)
 
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