Die Sowjetunion, die 2+Vier-Verträge & NATO-Osterweiterung

Neuberts Vorlage war ja auch schon mehrere Seiten lang - für die reine Info, Gorbatschow habe die deutsche Einheit beim Fototermin mit Modrow morgens am 30.1.90 in Moskau nicht mehr in Zweifel gezogen, waren und sind die Vorlagen zur Unterrichtung, welche gemeinsam von Referatsmitarbeitern ausgearbeitet werden, nicht gedacht, entsprechend auch Lambachs Vorlage. Die Vorlagen waren/sind Rückschauen, Bewertungen, Einschätzungen der Implikationen, die sich aus Gorbatschows Äußerung wahrscheinlich und möglicherweise auf allen möglichen Ebenen und Bereichen ergeben und ergeben könnten. Daher der reguläre Dienstweg zum Chef, welcher stets mindestens einen Tag beanspruchte.

Undenkbar, dass reine News-Meldungen solchen Kalibers wie Gorbatschows Bemerkungen in einer gemeinsamen Arbeit von Referatsmitarbeitern, die ja dauert, in einer Vorlage versteckt werden und auf die "reguläre Dienstreise" geschickt werden.:D Insofern führt Sarotte's entsprechender Abschnitt in Not one inch regelrecht in die Irre und löst zumindest bei mir Verwunderung aus.....

Für die Meldung über Gorbatschows Bemerkung hatte es die Agenturmeldungen gegeben, die garantiert die Äußerungen Gorbatschows am Morgen des 30.1.90 beim Fototermin für die Presse in Windeseile gleicher Stunde, gleichen Tags verbreitet haben. Man kann sicher sein, dass Genscher als BRD-Außenminister und oberster Chef des Bonner AA umgehend am 30.1. davon Kenntnis erhalten hatte.
Das AA hat üblicherweise eine Nachrichtenabt., die direkt auch mit dem laufenden Strom von Agentur- und Pressemeldungen verbunden ist.
 
Zuletzt bearbeitet:
Die Tagesschau präsentierte noch am 30.1.90 in der 20h-Sendung, im Rahmen der Berichterstattung über den Modrow-Besuch in Moskau als ersten Beitrag, per Film-Aufnahme den vollständigen O-Ton Gorbatschows zur deutschen Einheit, samt Übersetzung, den er beim PresseFototermin vor Beginn der Gespräche abgegeben hatte.

Am nächsten Morgen, 31.1. hatten diverse Tageszeitungen die Story auf der Titelseite.
 
Die Tagesschau am 31.1.90 berichtet u.a. von Genschers Tutzinger Vorschlägen. Wieben verliest, Genscher habe sich auf einer Tagung der evang. Akademie Tutzing besonders gegen eine Ausweitung des militärischen NATO-Gebietes nach Osten gewandt, da dies das Sicherheitsbedürfnis der Sowjetunion berühren und damit die deutsch-deutsche Annäherung blockieren würde.

Sowohl der Bezug auf die militärischen NATO-Strukturen wie auch auf die deutsch-deutsche Annährung zeigen hinreichend, da damit im Beitrag der militärische Status des DDR-Gebietes gemeint war.

Dem folgt ein Einspieler mit O-Ton von Genscher in Tutzing:

Interviewer:
Herr Minister, keine militärische Ausdehnung der NATO auf des Gebiet der DDR, aber auch kein neutralisiertes Gesamtdeutschland, wie soll das Ihrer Meinung nach zusammen gehen?

Genscher:
Deutschland wird Mitglied sein in der NATO, aber die Streitkräfte der NATO werden in dem Raum bleiben, in dem sie heute stehen; d.h., auf dem Gebiet der heutigen Bundesrepublik Deutschland.

Der Interviewer fragt nun, ob Genscher diese Vorstellungen mit seinen Kollegen in der NATO abgesprochen habe. Genscher gibt zurück, nein, das sei ein deutscher Beitrag zu kooperativen Sicherheitsstrukturen in Europa und der NATO gehe dabei ja nichts verloren, [...] die deutsche Einheit sei nicht zu haben, wenn es zu einer Kräfteverschiebung zwischen West und Ost komme. [...]

Nur der letzte Satzteil mit der Kräfteverschiebung lässt sich mit vertiefter Kenntnis als Hinweis auf Genschers Vorstellungen verstehen, dass es nicht nur um den militärischen Status des DDR-Gebiet ging.
 
Baker bemerkt bei seinem Gespräch mit Gorbatschow am 9.2.90 im Moskau u.a. (Q: Galkin u.a., Michail Gorbatschow und die deutsche Frage (2011), S. 312):

Wir verstehen, dass es nicht nur für die Sowjetunion, sondern auch für die anderen europäischen Länder wichtig ist, Garantien dafür zu haben, dass – wenn die Vereinigten Staaten ihre Anwesenheit in Deutschland im Rahmen der NATO aufrechterhalten – die Jurisdiktion oder militärische Präsenz der NATO in östlicher Richtung um keinen einzigen Zoll ausgedehnt wird. Wir sind der Meinung, dass die Konsultationen und Beratungen im Rahmen des „2+4“-Mechanismus Garantien dafür geben müssen, dass die Vereinigung Deutschlands nicht zu einer Ausdehnung der militärischen Organisation der NATO nach Osten führt.
Dies sind unsere Überlegungen.

Auch hier ist der (wohl praktisch) ausschließliche Zusammenhang mit der deutschen Einheit bzw. mit dem DDR-Gebiet eindeutig genug:
  • sofern weitere Aufrechterhaltung der Anwesenheit der USA in Deutschland im Rahmen der NATO, ohne weitere östliche Ausdehnung
  • der Rahmen des 2+4-Mechanismus sind die geplanten Gespräche der Alliierten und der beiden Deutschland über die äußeren Bedingungen zur Herstellung der deutschen Einheit
  • eine Vereinigung Deutschland ohne Ausdehnung der militärischen Organisation der NATO nach Osten
Der letzte Satz, 'Dies sind unsere Überlegungen' entfällt sowieso konsequent im Neuen Narrativ.
 
Obwohl hier teilweise bereits weiter oben referiert, nochmals retour zur anderen überlieferten Stelle des Gesprächs Baker-Gorbatschow vom 9.2., welches durchweg im Neuen Narrativ referiert und als Beleg für das angeblich 'gebrochene Versprechen', die NATO grundsätzlich künftig nicht nach Osten auszudehnen, notiert wird. (Q: Galkin u.a., Michail Gorbatschow und die deutsche Frage (2011), S. 315 f.)

M. S. Gorbacˇev:
[...]
Ich würde Sie bitten, dem Präsidenten zu sagen, dass wir mit
Ihnen Kontakt halten sowie Informationen und, wenn erforderlich, Ideen zu diesem Problem austauschen wollen.

J. Baker:
Das werde ich unbedingt tun. Ich möchte, dass Sie verstehen: Ich sage nicht, dass wir der Welle der Emotionen nachgeben sollen. Aber ich glaube, dass die innere Integration Deutschlands bald eine Tatsache sein wird. Unter diesen Bedingungen ist es unsere Pflicht vor den Völkern, unsere Pflicht um des Friedens in der Welt willen, alles Mögliche zu tun, um solche äußeren Mechanismen zu schaffen, die die Stabilität in Europa gewährleisten. Deshalb habe ich den genannten Mechanismus [2+4-GesprächsMechanismus zur Herstellung der äußeren Bedingungen der deutschen Einheit, Anm. von mir] vorgeschlagen.
Was den ökonomischen Preis der Vereinigung angeht, so wird diese Frage wahrscheinlich im Verlaufe des Wahlkampfs erörtert werden. Aber ich denke, sie wird vom emotionalen Überschwang, vom Drang der Menschen, sich zu vereinigen und zusammen zu sein, überspült werden.
Ich möchte Ihnen eine Frage stellen, auf die Sie jetzt nicht unbedingt eine Antwort geben müssen. Vorausgesetzt, die Vereinigung findet statt, was ist für Sie vorzuziehen: Ein vereinigtes Deutschland außerhalb der NATO, vollkommen selbstständig und ohne amerikanische Streitkräfte oder ein vereinigtes Deutschland, das seine Verbindungen zur NATO aufrechterhält, aber unter der Garantie, dass die Jurisdiktion oder die Streitkräfte der NATO sich nicht über die derzeitige Linie nach Osten ausbreiten?


M. S. Gorbacˇev:
Wir werden dies alles durchdenken. Wir beabsichtigen, alle [S. 316] diese Fragen auf der Führungsebene gründlich zu erörtern. Selbstverständlich ist es klar, dass eine Ausdehnung der NATO-Zone inakzeptabel ist.

J. Baker: Wir stimmen dem zu.

M. S. Gorbacˇev:
Es ist durchaus möglich, dass in der Lage, wie sie sich jetzt gestaltet, die Anwesenheit der amerikanischen Streitkräfte eine mäßigende Rolle spielen kann. Es ist möglich, dass wir mit Ihnen gemeinsam darüber nachdenken müssen, wie Sie gesagt haben, dass ein geeintes Deutschland vielleicht Wege zur Aufrüstung, wie das nach Versailles der Fall war, zur Schaffung einer neuen Wehrmacht, suchen wird. In der Tat, wenn es sich außerhalb der europäischen Strukturen befindet, dann kann sich die Geschichte wiederholen. Das technische und industrielle Potential gestattet es Deutschland, dies zu tun. Wenn es im Rahmen der europäischen Strukturen existiert, dann kann man diesen Prozess verhindern. Über alles dies muss man nachdenken.


Auch der vorlaufende Gesprächsabschnitt thematisierte ausnahmslos und direkt die deutsche Einheit, so wie der hier zitierte dies fortsetzt. Der größere, der unmittelbare und direkte Kontext belegt eindeutig genug, es ging und ging immer noch von Seiten Bakers um den Vorschlag der Nicht-Ausweitung der militärischen Strukturen der NATO auf das DDR-Gebiet im Zusammenhang mit einer kommenden deutschen Einheit, bei welchem das neue Gesamtdeutschland nach Bakers Vorschlag Mitglied der NATO ist, bleibt oder wird.

Die inhaltlich Konsistenz, wie die Bedeutung der Formel von der Nicht-Ausweitung der NATO nach Osten im damaligen Kontext überwiegend gemeint gewesen war, verstanden und medial rezipiert/transportiert wurde, wird durch die vorstehenden Beiträge und diesen Beitrag hinreichend sichtbar.

Genscher war der einzige der involvierten Spitzenakteure, welcher von sich aus gelegentlich und aus dem Kontext heraus identifizierbar/unterscheidbar eine generelle Nicht-Ausweitung der NATO vorschlug, natürlich immer vor dem Hintergrund mit seinen sonstigen Positionen:
  • Gesamtdeutschland in der NATO
  • Ablehnung eines neutralen Gesamtdeutschland
  • DDR-Gebiet nicht in der Militärstruktur der NATO
Die Formel der Nichtausweitung der NATO nach Osten nutzte Genscher wenige male ohne zusätzliche/weitere Differenzierung für beides, jedoch wiederum immer aus dem Kontext eindeutig erschließbar.
Diesen verifizierungsfähigen Kontext blendet das Neue Narrativ entsprechend aus.
 
Die von Genscher in der Tutzing-Rede am 31.1.90 u.a. vorgetragene Idee,

es sei Sache der NATO zu erklären, eine Ausdehnung des NATO-Territorium nach Osten, also näher an die Grenzen der Sowjetunion heran, werde es nicht geben,

steht im betreffenden Abschnitt nicht alleine, denn er enthält darauffolgend wenige Sätze weiter ebenso Genschers explizite Ansicht, dass Vorstellungen, dass das Gebiet der DDR in die militärischen Strukturen der NATO einbezogen werden sollten, die deutsch-deutsche Annäherung blockierten.

Nicht nur, aber auch medial wurde damals praktisch ausnahmslos die Forderung Genschers, das DDR-Gebiet nicht in die militärischen Strukturen der NATO einzubeziehen, rezipiert, transportiert und verbreitet.

Und eben nicht nur medial wurde damals durchwegs die Formel der Nichtausweitung der NATO nach Osten mit der Nichtausweitung der militärischen Strukturen der NATO auf DDR-Gebiet identifiziert.

Das Thema der Zukunft des militärischen Status, der militärischen Zugehörigkeit des DDR-Gebietes in einem geeinten Gesamtdeutschland war damals die größte, schwierigste, brennendste und strittigste Frage. Sowohl das Gebiet der BRD wie der DDR waren die militärisch mit weitem Abstand wichtigsten Staaten der jeweiligen Militärbündnisse, konventionell, Truppen, atomar, militärstrategisch, teils auch politisch.

Nichts und niemand von den bedeutsamen Akteuren damals griff Genschers in diesem großen Zusammenhang leicht missverständliche Forderung nach einer (NATO-)Zusage der generellen Nichtausweitung des NATO-Territoriums von sich aus auf. Die Neutralisten nicht, die Einheitsgegener oder Wiedervereinigungsgegner (Günther Grass) nicht, schon gar nicht sozialistisch moderate oder orthodoxe Kräfte und Akteure nicht. Bahr nicht, Modrow, Brandt nicht usw. usw. usw. Die Medien praktisch auch nicht.
 
Wüsste man es nicht anders, bzw würde man es nicht anders vermuten, könnte man einige Behauptungen des Neuen Narrativs als Teil einer langfristig angelegten u. zentral gesteuerten Diskreditierungsstrategie unter 'kritisch'-wissenschaftlichem Mäntelchen verstehen. Aktuell mit etwas Brisanz aufgeladen & bedauerlich.
 
Falin, der zu den Beteiligten an den Treffen und Verhandlungen zum Komplex der deutschen Einheit und den ausgeprägt orthodoxen kommunistischen Akteuren und scharfen Kritikern der Vorstellung einer NATO-Mitgliedschaft Gesamtdeutschlands und Gorbatschows Kompromiss-Kurs ab Mai 1990 gehörte, notierte in einer Aufzeichnung für Gorbatschow mit Datum 18. April 1990, 'Fragen zur Deutschlandpolitik', u.a.:


Es erscheint dringend geboten, mit aller Entschiedenheit die sowjetische Position vor allem in den folgenden Fragen zum Ausdruck zu bringen:
[...]
2. Der militärische Status eines geeinten Deutschland. Allem Anschein nach hat der Westen beschlossen, in dieser Hinsicht eine Entscheidungsschlacht zu führen. Nach einer anfänglichen Verwirrung, während der einzelne, nicht unattraktive Ideen geäußert wurden (Rückzug der BRD aus der militärischen Organisation der NATO; gleichzeitige Beteiligung Deutschlands an der NATO und am Warschauer Pakt; Schritte zur Rüstungsbegrenzung auf deutschem Territorium, die das gesamteuropäische Tempo überschreiten sollten; eine mögliche, teilweise Entnuklearisierung Deutschlands u.a.) lässt sich von Woche zu Woche eine Verschärfung des Vorgehens von USA und BRD, aber auch der Führung des Atlantischen Blocks beobachten.
[S. 372]
Genscher denkt weiterhin ab und an über ein Forcieren der Entwicklung in Richtung einer europäischen kollektiven Sicherheit nach, in der „NATO und Warschauer Pakt aufgehen“ würden. Von ihm stammen auch Äußerungen darüber, dass die Abrüstung zum „Kern“ des gesamteuropäischen Prozesses werden müsse. Aber auf Genscher hört außer den westdeutschen Sozialdemokraten und linken Parteien in einigen Ländern des „Gemeinsamen Marktes“ kaum jemand.
Es stellt sich die Frage der Beteiligung Deutschlands an der NATO „in vollem Umfange“. Allein der Gedanke an einen Ausschluss des deutschen Territoriums aus der Infrastruktur des Blocks wird abgelehnt. Wenn früher in der Propaganda die Betonung auf eine „Kontrolle“ über ein künftiges vereintes Deutschland gelegt wurde, so bezieht man sich jetzt darauf, dass die Erhaltung der Effizienz des Bündnisses als „Faktor der Stabilität“ in Europa wichtig sei. Vor Kurzem wurde die Beteiligung Deutschlands an der NATO als „zwischenzeitliche Variante“ bezeichnet. Seit einiger Zeit jedoch präsentiert man sie als langfristige Lösung. Während sie bis März dieses Jahres den Preis für das „Zugeständnis“ – keine Ausdehnung des Wirkungsbereichs der NATO auf die DDR – angehoben haben, so begannen sie vor ungefähr einem Monat in ihrem Umfeld zu äußern, dass diese Verpflichtung in „Krisensituationen“ nicht anwendbar sei.

Unterstreichungen von mir. Falin erwähnt nirgends, wie ebenso wenig in seinen zwei Büchern Politische Erinnerungen (1993) und Konflikte im Kreml (1997), es habe zuvor ein Zusage, ein verbindliches Angebot oder Ähnliches der generellen Nichtausdehnung der NATO nach Osten gegeben, von 'westlichen' Politikern/NATO-Akteuren.

Q: Galkin/Tschernjajew, Michail Gorbatschow und die deutsche Frage (2011), S. 371 f.
 
Die NATO war in der 1. Hälfte des Jahres 1990 u.a. intensiv und reichlich damit beschäftigt, in Relation zur SU/WP:

  • Abrüstungsgespräche zu diversen Arten der Atomwaffen
  • Abrüstungsgespräche zu konventionellen Waffen und Truppen (Wien I + II)
  • Gespräche zu weiteren Atomwaffentest-Moratorien
  • Gespräche zur Nichtweiterverbreitung von Atomwaffentechnik, Technik zur Herstellung von Atomwaffen fähigem Uran
  • Gespräche zu B- und C-Waffen (Verbot, Einschränkung, Nichtproduktion usw.)
  • Open Sky: Gespräche und Verhandlungen über gegenseitige Kontrollflüge zur Überprüfung militärischer Rüstung
Der Besuch des US-Außenministers Baker Anfang Februar 1990 in Moskau war als Arbeitsbesuch geplant und durchgeführt worden, ursprünglich geplant nur zum Themenkomplex der Abrüstung, Nichtverbreitung, Moratorium, B- und C-Waffen.
 
@andreassolar erstmal vielen Dank für deine material- & facettenreiche Darstellung!

Es mutet zumindest mich geradezu grotesk an: da lebt man hier schon seit ein paar Jahrzehnten (das gilt wohl für fast alle hier) und hat mehrmals "Geschichte live" quasi miterlebt, weil sie in diesem Zeitraum passiert, und - hat währenddessen vieles gar nicht bemerkt...
meine Wenigkeit: als Pennäler Falklandkrieg (hä? wo ist das??), später die Jugoslawienkriege, Wiedervereinigung, Golfkriege, Zerfall der UDSSR, ...(da war noch viel mehr)... "Spezialoperation" - zu meiner Schande muss ich gestehen, dass ich während dieses Zeitraums keines der erwähnten historischen Ereignisse akribisch verfolgt habe, sondern nur wahrgenommen hatte, was "die Nachrichten" und die Tageszeitung so meldeten. An das Entsetzen "jugoslawischer" Kommilitonen und später Kollegen erinnere ich mich, dass da Familien ethnisch-religiös entzweit wurden, dass die einen hier bleiben durften, die anderen abgeschoben wurden. Die Gorbi-Begeisterung & Wiedervereinigung: so wie ich das mitbekam, ging es erstmal darum "wann endlich" (böse Presse über den Zweifler Lafontaine), dann Grenzöffnung, dann Genscher Rede, Jubel, Tränen, Willkommen, wir sind ein Volk, Begrüßungshunni, blühende Landschaften Kohl, Treuhand - - - - hä, was: Nato? Blabla wo Militär wo nicht? Wen juckt denn das: wir sind ein Volk, darum geht's, was kümmert uns der andere Kram? ...verdammt, teuer wird's, Soli, DDR Mark Umtausch Querelen, Ossi-Wessi Animositäten, Gauck Behörde Stasiaufarbeitung - - und weshalb ich das alles scheinbar ohne Bezug zum Fadenthema so ausbreite: was du alles akribisch auflistest, das hatte ich währenddessen so gut wie nicht, d.h. wenn überhaupt, dann nur marginal am Rande, wahrgenommen (und ich vermute, dass es bei vielen so war)

Eine Art Indiz für dieses nicht-wahrnehmen:
Aber auf Genscher hört außer den westdeutschen Sozialdemokraten und linken Parteien in einigen Ländern des „Gemeinsamen Marktes“ kaum jemand.
Es stellt sich die Frage der Beteiligung Deutschlands an der NATO „in vollem Umfange“. Allein der Gedanke an einen Ausschluss des deutschen Territoriums aus der Infrastruktur des Blocks wird abgelehnt. Wenn früher in der Propaganda die Betonung auf eine „Kontrolle“ über ein künftiges vereintes Deutschland gelegt wurde, so bezieht man sich jetzt darauf, dass die Erhaltung der Effizienz des Bündnisses als „Faktor der Stabilität“ in Europa wichtig sei. Vor Kurzem wurde die Beteiligung Deutschlands an der NATO als „zwischenzeitliche Variante“ bezeichnet. Seit einiger Zeit jedoch präsentiert man sie als langfristige Lösung.
...auf Genscher hörte und schaute man beim wiedervereinigen und bei Slowenien, das diplomatische Gezerre war eher Hintergrundrauschen...

Ist das nur mein subjektiver, sicherlich alltäglich-ahistorischer Privateindruck, oder bin ich damit nicht ganz allein?

Dann eine zweite Frage, weil sich so viel heterogenes Material angesammelt hast: könntest du bitte kurz die beiden unterschiedlichen Narrative, um die es hier geht, darstellen (ich nehme an: die einen sagen der Russe wusste und billigte eine sich abzeichnende Nato Osterweiterung in der Phase seiner Schwäche, die anderen sagen der Russe ist da übern Tisch gezogen worden) und klären, welches Narrativ anhand der Quellen tatsächlich zutrifft? Denn diese humorige Bemerkung
Wüsste man es nicht anders, bzw würde man es nicht anders vermuten, könnte man einige Behauptungen des Neuen Narrativs als Teil einer langfristig angelegten u. zentral gesteuerten Diskreditierungsstrategie unter 'kritisch'-wissenschaftlichem Mäntelchen verstehen. Aktuell mit etwas Brisanz aufgeladen & bedauerlich.
trifft zwar sicher zu, vermeidet aber eine direkte Stellungnahme.
 
Die aktuell wiederholt auflebende Diskussion um mögliche verbindliche Zusagen 'westlicher' Entscheidungsträger bzw. von Regierungschefs und Regierungsangehörigen der drei westlichen Alliierten, den früheren westlichen Siegermächten über das besiegte NS-Deutschland, gegenüber den Führungsspitzen der sowjetischen Regierung in den Begegnungen und Treffen besonders im Rahmen der Gespräche und Diskussionen, Erörterungen und Verhandlungen zur Zukunft der beiden deutschen Staaten über eine Nicht-Erweiterung der NATO nach Osten, zeigt einmal mehr, dass substanzielle historische bzw. geschichtswissenschaftliche Kenntnisse eine gute Grundlage bieten, die damaligen komplexen Situationen und Entwicklungen differenziert zu verstehen und darstellen zu können.

Für einen Zeitgenossen jener Jahr überraschen gewisse Darstellungen zum Thema, die seit Jahren wiederholt, neu vertieft und aufgerollt werden, mit auffallenden Lücken zum damaligen Kontext, gerne verbunden mit unilateralen Sichtweisen.

Entlang des Themas dieses Fadens geht es in diesem Beitrag erneut um vermeintliche Versprechen/Täuschung der Moskauer Führung bzw. ein vermeintlicher, gewisser Bruch mit diplomatischen Gepflogenheiten, besonders auf der Ebene zwischen Moskau und Washington D.C. wegen der schon genannten, nicht abgesprochenen Äußerungen von US-Außenminister Baker am 9. Februar 1990 in Moskau oder auch Genschers Ende Januar 1990, allesamt vor Beginn des gemeinsamen Beschlusses der Außenminister der beiden Deutschland sowie der Vier Mächte in Ottawa am 13.2.1990, in den 2+4-Konferenzen die äußeren Aspekte der Herstellung der deutschen Einheit sowie Sicherheitsfragen der Nachbarn zu erörtern, gefallen.

Natürlich gehört die Recherche der Entstehung und Geschichte dieser Legendenbildung zum Grundwerkzeug/Handwerkszeug substanzieller wissenschaftlicher Arbeit.
Die russo-sowjetische Legendenbildung über vermeintlich gebrochene Versprechen bei den 2+4-Verhandlungen oder womöglich auch davor, setzt in der zweiten Hälfte der 1990er Jahren ein. So auch meine ungefähre Erinnerung.

Soweit meine Absichten. Das Schlagwort vom Neuen Narrativ ist nur eine Krücke, an welcher das angeblich gebrochene Versprechen oder Fast-Versprechen des Verzichtes einer generellen NATO-Ostausweitung in den ersten Monaten des Jahres 1990 durch die Landschaft humpelt.

trifft zwar sicher zu, vermeidet aber eine direkte Stellungnahme.
Zu was? Was zu belegen war, ist belegt worden.
 
Die Ausgaben der NATO-Review allgemein für 1990 wie besonders für die erste Hälfte des Jahres 1990 erwähnen Tutzing nie und die Nichtausweitung des NATO-Gebietes nach Osten stets nur in Zusammenhang mit dem Gebiet der DDR.

Genschers Bemerkung zu einem generellen Verzicht auf die NATO-Ausweitung nach Osten wird nirgends erwähnt & referiert.
 
Molotov's Proposal that the USSR Join NATO, March 1954

Zusammenfassung zu Molotovs Memo selbst:

In this memorandum to the Soviet Presidium, Foreign Minister Molotov proposes that the Soviet Union publicly state its willingness to consider joining NATO. He explains that the proposal is intended to disrupt the formation of the European Defense Community and the rearmament of West Germany, and also limit the United State's influence in Europe.
(Übersetzung via deepl: In diesem Memorandum an das sowjetische Präsidium schlägt Außenminister Molotow vor, dass die Sowjetunion öffentlich ihre Bereitschaft erklärt, einen NATO-Beitritt zu erwägen. Er erklärt, dass dieser Vorschlag die Bildung der Europäischen Verteidigungsgemeinschaft und die Wiederaufrüstung Westdeutschlands stören und den Einfluss der Vereinigten Staaten in Europa begrenzen soll.)​


Vojtech Mastny, Die NATO im sowjetischen Denken und Handeln 1949 bis 1956, in: Vojtech Mastny und Gustav Schmidt, Konfrontationsmuster des Kalten Krieges 1946 bis 1956 (2003), S. 381-471, hier S. 433 f.

[…] Molotov stellte sich in einem Gespräch mit Dulles am 6. Februar [Berliner Außenministerkonferenz 25.1.-18.2.1954] taub gegenüber dessen Hinweis, daß sich die Sowjetunion sicherer fühlen müsse, wenn Westdeutschland in der EVG statt in der NATO wäre, da die EVG die Stärke der nationalen Streitkräfte ihrer Mitglieder effektiver beschränken würde. Der sowjetische Außenminister reagierte auch nicht auf die Erklärung seines amerikanischen Amtskollegen, daß die Vereinigten Staaten bei einem Nichtzustandekommen der EVG den westdeutschen Beitritt zur NATO unterstützen würden. Er ignorierte beide Optionen und legte der Konferenz vier Tage später einen derart absurden Vorschlag für ein europäisches kollektives Sicherheitsabkommen vor, daß die westlichen Vertreter »laut auflachten«.

Dieser Vorschlag lief darauf hinaus, daß die europäischen Staaten einen auf 50 Jahre angelegten Vertrag unterzeichneten, der nicht nur die Sowjetunion als Ganzes einschloß, sondern auch — wie aus Molotovs Aufzählung der 32 zukünftigen Signatarstaaten hervorging — ihre angeblich souveränen zugehörigen »Republiken«. Dagegen sollte den Vereinigten Staaten lediglich ein mit China zu teilender Beobachterstatus zugestanden werden. Während der Vertrag allen europäischen Staaten offenstehen sollte — was aus Moskauer Sicht bei EVG und NATO nicht zutraf -, sollte er ihre anderen vertraglichen Verpflichtungen nicht beeinträchtigen, mit Ausnahme jener, die gegen seinen Geist verstießen — wie dies in sowjetischen Augen bei der NATO der Fall war. Der amerikanische Präsidentenberater Jackson war überrascht, daß sich Molotov eine recht günstige Gelegenheit entgehen ließ. Er hätte einräumen können, daß er mit der NATO, aber nicht mit der EVG leben könne. Denn damit hätte er ohne Zweifel die EVG mit den Franzosen und Deutschen torpediert. Statt dessen wählte er die extremste Position überhaupt, indem er forderte, der Plan zur Gründung der EVG müsse aufgegeben und die NATO aufgelöst werden; die USA sollten im Hinblick auf die europäischen Angelegenheiten lediglich Beobachterstatus erhalten, und alle möglichen regionalen Verteidigungsbündnisse müßten verboten werden. Molotovs Vorschlag wurde auch nicht akzeptabler dadurch, daß er vier Tage später hervorhob, ihn lediglich

[S. 434] als »direkte Alternative zur EVG« und nicht als Versuch zur Abschaffung der NATO gemeint zu haben.
Der Sache näher kam der sowjetische Außenminister, als er deutlich zu verstehen gab, daß seine Regierung dazu beitragen könnte, den Indochina-Krieg zu be-enden, wenn sich nur Frankreich gegen die EVG stellen würde158. Alles, was Mo-lotov bis zum 15. Februar zugestanden hatte, lief auf die Bereitschaft hinaus, über eine Aufwertung der Beteiligung der USA und Kanadas an dem von ihm vorgeschlagenen Sicherheitspakt als Vollmitglieder, anstatt als Beobachter zu diskutie-ren159. Er reflektierte über die vermeintliche Ähnlichkeit der NATO mit dem Antikominternpakt, der aus seiner Sicht den Zweiten Weltkrieg herbeigeführt hatte"50. Angesichts dieser Haltung waren die intensiven Bemühungen des britischen Außenministers Anthony Eden, Molotov in privaten Gesprächen von dem absolut defensiven Zweck der NATO zu überzeugen, reine Zeitverschwendung?
In einer geheimen Rede vor dem ZK der KPdSU am 2. März 1954 gab Molotov seiner Überzeugung Ausdruck, daß die NATO scheitern würde, und zwar aufgrund des von der westlichen öffentlichen Meinung ausgeübten Drucks nach einer Verbesserung der Beziehungen zur Sowjetunion162. Weniger optimistisch war er aber im Hinblick auf das zu erwartende Ergebnis der Berliner Konferenz, und er hatte auch nichts anzubieten, was eine geeignete Basis für eine Diskussion mit dem Westen hätte abgeben können. Statt dessen ließ er seine Mitarbeiter einen Vorschlag für eine »gesamteuropäische Sicherheitskonferenz« ausarbeiten, der die Ratifizierung der EVG vereiteln sollte, indem insbesondere an deren Gegner in der französischen Nationalversammlung appelliert wurde.
Dem ergebnislosen Ende der Konferenz folgte von sowjetischer Seite am 31. März 1954 der bizarre Vorschlag, der NATO einen »wirklich defensiven Charakter« zu geben und über einen Beitritt der Sowjetunion zusammen mit ihren osteuropäischen Satellitenstaaten zum Bündnis zu diskutieren. Diese Idee wurde am 27. Juli erneut vorgebracht.
[...]​
 
Der Hintergrund und die dominante Motivation der Moskauer Akteure war damals der Versuch, die Etablierung und Stabilisierung der NATO, der BRD, des us-amerikanischen Einfluss und des nichtsowjetischen, 'westlichen Lagers' usw. zu schwächen, um die Etablierung, Stabilisierung der sowjetischen Herrschaft und Dominanz sowie der mit der UdSSR verbundenen Regime östlich der BRD zu festigen, fortzusetzen.
 
Diese Manöver, seinerzeit, war schon damals so durchschaubar, dass man in den USA mit Recht nicht darauf einging! Diese Vorschläge hätten nichts anderes bedeutet, als dass die SU über kurz oder lang Europa beherrscht hätte.:rolleyes: Schon der Gedanke, ist absolut abwegig. Die Sowjetunion und die westlichen Staaten, waren Gesellschaftlich und kulturell dermaßen entgegengesetzt dem Kommunismus, dass das nie funktioniert hätte.

Die Prinzipien der Nato waren mit der ideologischen Grundlage der SU unvereinbar. Der alte Molotow, muss nicht ganz zurechnungsfähig gewesen sein, als er diesen Vorschlag machte. Die Westmächte, hatten spätestens seit 1948 begriffen, was gespielt wurde! Und wem das noch nicht reicht, der konnte in China sehen, was bevor gestanden hätte, wäre man auf diese Art des Appeasements eingegangen. Sollten dann noch irgendwelche Zweifel vorhanden gewesen sein, brauchte man nur nach Korea zu schauen.

Außerdem, war ja auch noch bekannt, dass derselbe Herr Molotow, seinerzeit mit Herrn Ribbentrop gewisse Verträge abgeschlossen hatte. Ich kann mir nicht vorstellen, dass man in GB, F, und USA so dämlich gewesen wäre, auf ihn hereinzufallen. Mal abgesehen davon, dass so ein Deal in Westdeutschland niemals akzeptiert worden wäre.
 
Jene Tutzinger Rede von BRD-Außenminister Hans-Dietrich Genscher am 31.1.1990 war im wahrsten Sinne auch als große Rede konzipert worden. Sie dürfte nicht nur 15-20 A4-Seiten lang gewesen sein, leider war mir bisher nur eine englische Version zugänglich, Genschers Büro hat sie gleichen Tags in verschieden Hauptsprachen diversen Botschaften und Außenministerien zustellen lassen.

In vertraulichen Hintergrundgesprächen waren zudem in den zwei vorhergehenden Tagen wichtige DiplomatieKorrespondenten in Bonn bereits auf die kommende Rede eingestimmt worden.

Die WEU verbreitete ebenfalls am 31.1. die wohl von Genschers Büro angefertige Übersetzung seiner Rede....doch anscheinend und passend nicht das NATO-HQ.

Die vollständige, deutschsprachige TutzingRede Genschers wird übrigens gerade im Rahmen des Neuen Narrativs praktisch nie, soweit mir ersichtlich, als Quelle herangezogen...stets werden lediglich die Auszüge oder Zitate aus anderen Veröffentlichungen rezipiert, welche wiederum gerne noch weiter ge- und verkürzt wieder gegeben werden.

Und selber konnte ich trotz aller wochenlangen Bemühungen bisher nur die von der WEU am 31.1.90 verbreitete englische Version auftreiben, die war aber dennoch natürlich sehr hilfreich.
 
Ich habe auf YouTube eine interessante Dokumentation über die 2 + 4 Verhandlungen gefunden. Sie stammt aus dem Jahr 2019. Und erklärt vieles sehr genau.
 
Im Interview mit der taz erklärt die Historikerin Sarotte die wechselhafte Geschichte Osteuropas in den 1990ern.
Historikerin über Nato-Osterweiterung: „Die Ukraine im Stich gelassen“

Als entscheidenen Wendepunkt hin zur NATO-Osterweiterung sieht Sarotte die Hiwendung Russlands zur Gewalt in der blutigen Verfassungskrise von 1993 und im ersten Tschetschenienkrieg ab 1994. Erst diese Eskalationen trieben die osteuropäischen Staaten in die NATO.
 
Im Frühjahr/Sommer 2023 fand meinerseits eine vielfache Überarbeitung & Erweiterung des WP-Lemmas 'NATO-Osterweiterung' vor allem in den Abschnitten 3.1, 3.2 und 3.3 statt, mit diversen Nachweisen.
 
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