Es ist der Verhaltenspsychologie seit langer Zeit bekannt, dass der Mensch dazu neigt, sich charismatischen Persönlichkeiten unterzuordnen. Unbewusst neigen wir dazu, ostentatives Selbstbewusstsein für berechtigt zu halten. Hitler verstand das sehr wohl. Er verstand – so beschämend und unangenehm sich das anhören mag –, dass Menschen geführt werden wollen. Und zwar gerade auch die Intelligenten, den Intelligenz geht mit Zweifeln einher, und die meisten Menschen sind dankbar dafür, wenn man ihnen ihre Zweifel abnimmt.
Dem würde ich grundsätzlich nicht widersprechen.
Allerdings sehe ich das Problem 1940/1941 weiterhin eher in einem durch schlechte Informationslage völlig falsch eingeschätzten Kräfteverhältnis.
Es wird ja sehr gerne auf den immensen Ressourcenreichtum der Sowjetunion, ihre große Bevölkerung etc. hingwiesen, die Frage vor der die Militärs 1940/1941 aber standen, war doch in ganz erheblichem Maße diejenige, wie weit dieses Potential denn überhaupt aktiviert werden konnte.
Und da war, neben der Größe der Potentiale überhaupt einiger Raum für Irrtümer.
Neben der Frage, was die Rüstungsindustrie in der Sowjetunion tatsächlich konnte und Informationslücken in diesem Bereich, wäre da z.B. der Unsicherheitsfaktor, ab wann diese Potentiale denn tatsächlich auch im Rahmen forcierter Rüstung ausgefahren wurden.
Das konnte man auf deutscher Seite schwer abschätzen, allerdings konnt eine Umstellung ein Jahr früher oder später hier schon einen erheblichen Unterschied machen.
Und es kommt doch einfach hinzu, dass es durchaus ganz objektive Gründe gab, die Sowjetunion tatsächlich massiv zu unterschätzen.
Schaut man sich die Geschichte der frühen Sowjetunion an, dann ließt die sich bis zu zweiten Weltkrieg, abgesehen von der einigermaßen ruhigen Periode mitte der 1920er Jahre wie eine Aneinanderreihung von Katastrophen.
- 1914-1917 1. Weltkrieg, Verlust eines Teils der einigermaßen modernen wirtschaftlichen Kapazitäten des Zarenreiches (Polen dauerhaft, Ukraine zeitweilig)
- 1917-1921 Bürgerkrieg, inklusive der Mangelerscheinungen nach nicht weniger als 7 Jahren Auseinandersetzung.
Außerdem Flucht/Ausweisung alter zaristischer Eliten, die dem neuen System nicht mehr genehm waren, womit allerdings in diversen Bereichen Fachwissen abhanden kam, was um so schwerer wiegen musste, als dass unter den 7 Jahren Krieg natürlich auch Ausbildung und Nachwuchs gerade von Funktionseliten und Experten litten.
- Folgend 1921-1928 Stabilisierung auf niedrigem Niveau, während der Phase der NEP nach dem Scheitern des ersten Versuchs ein Wirtschaftssystem nach sozialistischem Muster durchzupeitschein.
- 1929-1931 (grob) Zwangskollektivierung mit ihren Folgen bis 1933/1934, unter Anderem der verheerenden Hungersnot in der Ukraine.
- 1935/1936-1938 Zeit des großen Terrors, der vollkommen unnötig neben den militärischen Experten auch andere Bereiche traf und durch die willkührliche Inhaftierung/Exekution von Fachkräften in diversen Bereichen die Effizient der sowjetischen Wirtschaft jedenfalls mal nicht unbedingt verbesserte.
Und das sind ja alles Dinge gewesen, die Europa und der übrigen Welt durchaus nicht verborgen blieben.
In den 1920er Jahren gab es sogar internationale Hilfskampagnen um die schlimmsten Folgen der Lebensmittelknappheit in der Sowjetunion abzuwenden, auch in den 1930er Jahren scheint es (Applebaum: "Roter Hunger, Stalins Krieg gegen die Ukraine") Versuche von Hilfsaktionen von außen gegeben zu haben, gleichzeitig eine Welle der Empörung über das "Hungergetreide", dass die Sowjetunion trotz der Zustände in der Ukraine und anderen Teilen des Landes weiterhin exportierte.
Die Sowjetunion hatte also seit 1914 in den etwa 25 Jahren bis 1940 7 Jahre offener kriegerischer Auseinandersetzung erlebt (bis 1917 als Teil des Zarenreiches), unter schweren menschlichen Verlusten, Verlusten eines Großteils der bis dahin entwickelten Wirtschaft und gravierender Vernutzung des Transportsystems, sie hatte zweimal den (selbstverschuldeten) Verlust eines Großteils der vorhandenen Fachkräfte verkraften müssen, sowohl durch die Emigration und Ausweisung während des Bürgerkriges und des Beginns der Sowjetunion unter Lenin, als auch durch die späteren brutalen Säuberungen Stalins, sie hatte in dieser Zweit zwei Hungerperioden und eine komplette Umwälzung der landwirtschaftlichen Strukturen hinter sich, während sie mit der Industrialisierung bis weit in die 1920er Jahre hinein deutlich hiterherhinkte.
Bei einer solchen Vielzahl von einschneidenden Ereignissen in kurzer Zeit und das vor dem Hintergrund eines intransparenten Systems in einer sich zunehmend abschottenden Gesellschaft, dürfte es einmal nicht ganz einfach gewesen sein realistisch einzuschätzen, wo die Sowjetunion eigentlich wirtschaftlich mittlerweile angekommen war und welche militärischen Möglichkeiten daraus resultierten.
Da würde ich durchaus Sachprobleme ernst nehmen und als wahrscheinlichere Erklärungen betrachten wollen, als psychologische Effekte und ideologische Verblendung.