Hier noch zwei Stimmen von jüdischer Seite zu der Begrifflichkeit:
Da „Pogrom“ für einen Gewaltakt steht, der von der Bevölkerung ausgeht, birgt er allerdings die Gefahr, die staatliche Planung und Lenkung der Gewaltaktionen am 9./10. November 1938 auszublenden. Die Bezeichnung „Kristallnacht“ (oder „Reichskristallnacht“), wie die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung die Terrorakte nannte, wurde in Deutschland lange als verharmlosend vermieden, da sie nur auf den entstandenen materiellen Schaden, die zerbrochenen Glasscheiben und Kristallleuchter, verweist. Irreführend ist auch der darin enthaltene Begriff „Nacht“, da die Gewaltakte am helllichten Tage weitergingen.
aus:
9. November 1938
und
Doch die Wortschöpfung »Reichspogromnacht«, seit den 80er-Jahren geprägt im Bemühen um politische Korrektheit und um eben der Verharmlosung aus dem Weg zu gehen, scheint mir künstlich.
»Reich-«, so kann man zwar argumentieren, benennt das zentral angeordnete und landesweite Geschehen. Doch diese monströse Vorsilbe, die so vielen Termini des NS-Staates vorangestellt war, in einem heutigen, eigens geschaffenen Begriff? Und wenn schon ein neuer Begriff, wieso dann weiter von einer »Nacht« reden, wo es sich doch, was Historiker immer mehr betonen, um mehrere Tage handelte, an denen Tag und Nacht die oben gelisteten Gräueltaten verübt wurden? Der Terminus »Pogrom« ist jedoch in vielem passend. Er ist schon in zeitgenössischen Quellen zu finden, auf jüdischer Seite, aber auch in der ausländischen Presse.
ZUSAMMENSPIEL Jedoch ist der Einwand von manchen Historikern beachtenswert, der Terminus bezeichne historisch eher spontane und meist regional begrenzte Gewaltausbrüche gegen Juden, nicht unbedingt staatlich organisierte. Im November 1938 hingegen handelte es sich um ein Zusammenspiel verschiedener Ebenen: um eine Steuerung und Manipulation von oben, aber auch um eine Initiative auf lokaler Parteiebene, eine aktive Beteiligung seitens Firmen-Belegschaften bis hin zu Schulklassen. Es handelte sich um ein Mitmachen, Anfeuern, Zuschauen und Gleichgültigkeit durch Teile der Bevölkerung. Dabei fand alles, bis auf die Plünderungen, auf Betreiben, mit Unterstützung und Billigung der obersten Machthaber statt.
Gegen den Terminus »Pogrom« spricht auch, dass es sich dabei um ein singuläres Geschehen handeln kann, während der November 1938 ein Schritt im Vernichtungsprozess der deutschen und europäischen Juden war.
und für mich die wichtige Aussage:
Meines Erachtens geht es eher darum – nicht anders als bei den Begriffen »Holocaust« und »Schoa« –, dass die Inhalte jeder Generation neu vermittelt, die Geschichten der Jüdinnen und Juden erzählt werden, ebenso die Motive und Taten der Täter. Empathie und Wissen, Lernen und Konsequenzen – die Intention ist bei jeglicher Benennung das Entscheidende, nicht der Terminus an sich.
aus:
Kristallnacht, Reichspogromnacht, Novemberpogrome?
Auch Pogrome des Mittelalters und der Neuzeit in Mittel- und Westeuropa werden so genannt.
Auch für antijüdische Ausschreitungen in der Antike wird mittlerweile der Begriff Progrom in einer Ausweitung der eigentlichen Bedeutung verwendet. In einer weiteren Ausweitung werden auch Ausschreitungen gegen andere Minderheiten als Progrom bezeichnet. Ich persönlich finde den Begriff Reichskristallnacht aber für passender, da man dann direkt an die Ereignisse des 9. November (und Folgetagen) 1938 denkt. Bei der großen Menge an Progromen in der Geschichte wird sonst dieses Progrom meiner Meinung als nur eines von vielen angesehen.
Dass bei der Reichskristallnacht oder Progromnacht nicht nur Fensterscheiben zerschlagen wurden, sollte eigentlich jedes Schulkind wissen.
Aber letztendlich ist das Wissen über diese Ereignisse wichtiger als die genaue Bezeichnung, für jede von den möglichen es jeweils Argumente dafür und dagegen gibt.
Während der Pogrom im Scheunenviertel 1923 lokal war und noch in etwa dem entsprach, was in früheren Zeiten passierte, waren die Pogrome von 1938 allumfassend - Deutschland, Österreich, selbst Danzig -, nur die deutsche Schweiz machte nicht mich.
Österreich war seit dem Anschluss 1938 Teil des Deutschen Reiches (auch wenn man in Österreich
ex post nach 1945 diesen Anschluß
ex tunc (1938) als ungültig ansah). Die Freie Stadt Danzig war zwar formell nicht Teil des Reichsgebiet, aber die dortige NSDAP war eng mit der Schwesterpartei im Reich verbunden und es fanden parallel ähnliche Entwicklungen wie im Reich statt. Die Deutschschweiz hatte zwar auch Nazi-Organisationen, aber die spielten nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ich konnte auf die Schnelle nicht einmal herausfinden, ob diese Parteien überhaupt nennenswert Stimmen bei Wahlen bekommen hat.