Begriff "Reichskristallnacht"

Die Novemberpogrome werden im Jiddischen קריסטאָל נאַכט (qristāl nakht) und im Hebräischen ליל הבדולח (lajil ha-bədolaχ - Nacht des Kristalls) genannt. Auch in praktisch allen europäischen Sprachen wird entweder das deutsche Lehnwort Kristallnacht oder eine landessprachliche Entsprechung verwendet. Das Spanische und Katalanische geht einen Sonderweg, dort ist es die noche de los cristales rotos (Nacht der kaputten Kristalle), Katalanisch vermeidet den Begriff Kristall und ersetzt ihn durch Gläser: Nit dels Vidres Trencats. Dagegen Italienisch notte dei cristalli oder frz. unit de cristal. Griechisch Νύχτα των Κρυστάλλων, poln. Noc kryształowa und ukr. Кришталева ніч. In praktisch jeder Sprache wird der Begriff Kristallnacht verwendet.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrome_1938#/languages

Die semantische Diskussion, ob Kristallnacht verhöhnend sei, scheint in anderen Ländern nicht angekommen zu sein. Ich habe den Begriff als Berliner Schöpfung gelernt und zwar durchaus in einem Sinn, dem Unaussprechlichen (man wusste ja nicht, was noch kommen würde) mit Galgenhumor einen Namen zu geben, also nicht mit verhöhnender Absicht. Der verharmlosende Effekt - es sind eben nicht „bloß“ Scheiben zerschmissen worden (allein das ist schlimm genug) - ist allerdings nicht in Abrede zu stellen.

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Die Novemberpogrome werden im Jiddischen קריסטאָל נאַכט (qristāl nakht) und im Hebräischen ליל הבדולח (lajil ha-bədolaχ - Nacht des Kristalls) genannt. Auch in praktisch allen europäischen Sprachen wird entweder das deutsche Lehnwort Kristallnacht oder eine landessprachliche Entsprechung verwendet. Das Spanische und Katalanische geht einen Sonderweg, dort ist es die noche de los cristales rotos (Nacht der kaputten Kristalle), Katalanisch vermeidet den Begriff Kristall und ersetzt ihn durch Gläser: Nit dels Vidres Trencats. Dagegen Italienisch notte dei cristalli oder frz. unit de cristal. Griechisch Νύχτα των Κρυστάλλων, poln. Noc kryształowa und ukr. Кришталева ніч. In praktisch jeder Sprache wird der Begriff Kristallnacht verwendet.
https://de.m.wikipedia.org/wiki/Novemberpogrome_1938#/languages

Die semantische Diskussion, ob Kristallnacht verhöhnend sei, scheint in anderen Ländern nicht angekommen zu sein. Ich habe den Begriff als Berliner Schöpfung gelernt und zwar durchaus in einem Sinn, dem Unaussprechlichen (man wusste ja nicht, was noch kommen würde) mit Galgenhumor einen Namen zu geben, also nicht mit verhöhnender Absicht. Der verharmlosende Effekt - es sind eben nicht „bloß“ Scheiben zerschmissen worden (allein das ist schlimm genug) - ist allerdings nicht in Abrede zu stellen.

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Es scheint ein Charakteristikum des Menschen zu sein, Massaker etwas euphemistisch und mit einer Dosis schwarzen zynischen Humors zu umschreiben.

Da ist dann von der "Vesper von Ephesus", der "Sizilianischen Vesper" der "Brügger Frühmette" oder der "Bartholomäusnacht" -auch "Bluthochzeit" genannt- die Rede und Tillys Zerstörung Magdeburgs ging als "Magdeburger Hochzeit" in die Geschichte ein.
 
Ergänzend zu oben\gestern: Die judenspanische Wikipedia hat keinen eigenen Artikel zu den Novemberpogromen, im Artikel zu Elias Canetti orientiert sie sich aber am spanischen Begriff, die judenspanische Wikipedia hält Artikel in Quadratschrift und Lateinschrift vor; der Artikel zu Elias Canetti ist nur in Lateinschrift, dort heißt es im Unterschied zum Spanischen (cristales) kristales.

Tja, was ist die Konsequenz aus der Erhebung? Soll man daraus ein Traditionsargument („man hat schon immer Kristallnacht gesagt“) ableiten? Oder das Mehrheitsargument „machen doch alle so“? Nein, sicher nicht! Man kann mit ein wenig Problembewusstsein jeden Begriff überdenken, und kann (und sollte) auch etablierte Begriffe immer mal wieder auf den Prüfstein stellen.

Es scheint ein Charakteristikum des Menschen zu sein, Massaker etwas euphemistisch und mit einer Dosis schwarzen zynischen Humors zu umschreiben.

Den Sprechern dritter Sprachen kann man, obwohl der Begriff in den meisten Sprachen eine Lehnübersetzung ist, aber oft auch, wenn als deutsches Lehnwort verwendet, in seinen Einzelteilen durchaus verständlich (das Wort Kristall ist in den meisten Sprachen identisch entlehnt, der Begriff Nacht ist indoeuropäisch und daher intellegibel), nachsehen, dass sie Kristallnacht sagen. Wobei dort vermutlich oft noch weniger klar ist, was sich hinter dem Begriff für ein Leid verbirgt (in der älteren Literatur war von 36 Morden die Rede, mittlerweile von mehreren hundert Morden noch während der Novemberpogrome und mehreren hundert aus den Novemberpogromen resultierenden Selbstmorden. Hinzu kommen die in Sachsenhausen und Buchenwald an dort im Nachgang der Novemberpogrome in Geiselhaft gehaltenen verübten Morde, so dass allein die Todesopfer im vierstelligen(!) Bereich zu suchen sind. (Rechnungen beziffern etwa 400 Morde direkt im Rahmen der Pogrome, 400 Selbstmorde in den nachfolgenden Wochen und eine unbekannte Zahl an Toten in Dachau und Sachsenhausen, Schätzungen sprechen von 1.300 bis 1.500 Todesopfern.)

Gerade als Leute, die wir die Sprache der Täter sprechen und ein Teil von uns mit einiger Wahrscheinlichkeit Täter zu seinen Vorfahren oder Verwandten zählen muss (mein Großonkel war Parteimitglied), sollten mit dem Bewusstsein da herangehen, dass der Begriff Kristallnacht bagatellisierend und verharmlosend wirken oder sogar bewusst mit dieser Absicht eingesetzt werden kann. Aber: man sollte den Begriff auch nicht verteufeln, zumal keiner der alternativen Begriffe, auch Novemberpogrome nicht, über Kritik vollkommen erhaben ist. Für die Sprecher des Hebräischen ist der Begriff Kristallnacht offenbar in Ordnung. Hier beißt sich die Katze jedoch in den Schwanz: Gerade als Leute, die wir die Sprache der Täter sprechen...
 
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hier noch ein Artikel zu dem Begriff: Nachgefragt - Warum ist der Begriff "Kristallnacht" verschwunden?

Ich bin mit dem Begriff Reichskristallnacht aufgewachsen. Mit diesem Begriff wußte man sofort, dass damit die gewaltsamen Übergriffe gegen Juden und ihr Eigentum im November 1938 gemeint waren. Ich kann mich noch an die Lektüre im Deutschunterricht von Damals war es Friedrich erinnern, in dem die Ereignisse hautnah geschildert wurden (Damals war es Friedrich – Wikipedia ). Eine Verharmlosung habe ich in dem Begriff nicht gesehen.

Den Begriff Novemberprogrom finde ich aber problematisch, weil Progrom - ein Wort russischen Ursprungs - für mich mit den Ausschreitungen gegen Juden in Osteuropa (speziell vor dem Ersten Weltkrieg und im Zarenreich) verbunden sind. Da geht für mich ein wenig der Zusammenhang mit Nazideutschland verloren.

Aber Begrifflichkeiten ändern sich im Laufe der Zeit.
 
Den Begriff Novemberprogrom finde ich aber problematisch, weil Progrom - ein Wort russischen Ursprungs - für mich mit den Ausschreitungen gegen Juden in Osteuropa (speziell vor dem Ersten Weltkrieg und im Zarenreich) verbunden sind. Da geht für mich ein wenig der Zusammenhang mit Nazideutschland verloren.
Sehe ich nicht so: Auch Pogrome des Mittelalters und der Neuzeit in Mittel- und Westeuropa werden so genannt. Sie unterscheiden sich von den Pogromen der Nazizeit nur im Umfang: Während der Pogrom im Scheunenviertel 1923 lokal war und noch in etwa dem entsprach, was in früheren Zeiten passierte, waren die Pogrome von 1938 allumfassend - Deutschland, Österreich, selbst Danzig -, nur die deutsche Schweiz machte nicht mich.

Sollte das Wort Pogrom je auch der Bezeichnung für Pogrome im Jahr 1938 verschwinden, wäre das nichts anderes als Geschichtsklitterung.
 
Sehe ich nicht so: Auch Pogrome des Mittelalters und der Neuzeit in Mittel- und Westeuropa werden so genannt. Sie unterscheiden sich von den Pogromen der Nazizeit nur im Umfang: Während der Pogrom im Scheunenviertel 1923 lokal war und noch in etwa dem entsprach, was in früheren Zeiten passierte, waren die Pogrome von 1938 allumfassend - Deutschland, Österreich, selbst Danzig -, nur die deutsche Schweiz machte nicht mich.

Sollte das Wort Pogrom je auch der Bezeichnung für Pogrome im Jahr 1938 verschwinden, wäre das nichts anderes als Geschichtsklitterung.

In diesem Punkt würde ich zustimmen. Der Begriff hat sich aus dem Russischen sowohl in der Umgangssprache wie auch in der Geschichtswissenschaft durchgesetzt. Der Terminus wird nicht bloß auf Exzesse im Zarenreich, sondern auch auf die Judenmassaker während des Kosakenaufstands von Bogdan Szmelnicki im 17. Jahrhundert oder auch auf Pogrome im Mittelalter etwa während des 1. Kreuzzugs angewendet. Im Englischen ist wohl eher von "riots" oder "massacres" die Rede, im Französisch ist aber die Bedeutung ähnlich wie im Deutschen und Pogrom ist als Fremdwort in die deutsche Sprache übergegangen und zwar war die Bedeutung keineswegs beschränkt auf das zaristische Russland.
 
Im Englischen ist wohl eher von "riots" oder "massacres" die Rede,
"Kristallnacht or the Night of Broken Glass, also called the November pogrom(s) was a pogrom against Jews"
Kristallnacht - Wikipedia

Ansonsten hört man auf deutsch auch öfter "Verfolgungen" oder "Ausschreitungen" anstatt Pogrom, isb. wenn es um die Zeit vor dem 20. Jahrhundert geht:
Judenverfolgungen zur Zeit des Ersten Kreuzzugs – Wikipedia
Hep-Hep-Krawalle – Wikipedia

Edit: Ich finde den Begriff "Novemberpogrom" übrigens wenig zutreffend. Es gab bestimmt einige Pogrome im Monat November, so dass u.U. Verwechslungsgefahr besteht. "Reichspogromnacht" erscheint mir da eindeutiger.
 
dass der Begriff Kristallnacht bagatellisierend und verharmlosend wirken oder sogar bewusst mit dieser Absicht eingesetzt werden kann.
https://de.wikipedia.org/wiki/Kristallnaach
daraus:
(...) Das Lied parallelisiere die Novemberpogrome mit verschiedenen problematischen Aspekten der Gegenwart und erhebe jene so „zu einer Metapher für jede Art von unmenschlichem Verhalten“. Damit trage BAP zu einer Historisierung des Nationalsozialismus bei und verkürze die Ursachen der Pogrome.[13][14]
 
Hier noch zwei Stimmen von jüdischer Seite zu der Begrifflichkeit:

Da „Pogrom“ für einen Gewaltakt steht, der von der Bevölkerung ausgeht, birgt er allerdings die Gefahr, die staatliche Planung und Lenkung der Gewaltaktionen am 9./10. November 1938 auszublenden. Die Bezeichnung „Kristallnacht“ (oder „Reichskristallnacht“), wie die nichtjüdische Mehrheitsbevölkerung die Terrorakte nannte, wurde in Deutschland lange als verharmlosend vermieden, da sie nur auf den entstandenen materiellen Schaden, die zerbrochenen Glasscheiben und Kristallleuchter, verweist. Irreführend ist auch der darin enthaltene Begriff „Nacht“, da die Gewaltakte am helllichten Tage weitergingen.​

aus: 9. November 1938

und

Doch die Wortschöpfung »Reichspogromnacht«, seit den 80er-Jahren geprägt im Bemühen um politische Korrektheit und um eben der Verharmlosung aus dem Weg zu gehen, scheint mir künstlich.​

»Reich-«, so kann man zwar argumentieren, benennt das zentral angeordnete und landesweite Geschehen. Doch diese monströse Vorsilbe, die so vielen Termini des NS-Staates vorangestellt war, in einem heutigen, eigens geschaffenen Begriff? Und wenn schon ein neuer Begriff, wieso dann weiter von einer »Nacht« reden, wo es sich doch, was Historiker immer mehr betonen, um mehrere Tage handelte, an denen Tag und Nacht die oben gelisteten Gräueltaten verübt wurden? Der Terminus »Pogrom« ist jedoch in vielem passend. Er ist schon in zeitgenössischen Quellen zu finden, auf jüdischer Seite, aber auch in der ausländischen Presse.

ZUSAMMENSPIEL Jedoch ist der Einwand von manchen Historikern beachtenswert, der Terminus bezeichne historisch eher spontane und meist regional begrenzte Gewaltausbrüche gegen Juden, nicht unbedingt staatlich organisierte. Im November 1938 hingegen handelte es sich um ein Zusammenspiel verschiedener Ebenen: um eine Steuerung und Manipulation von oben, aber auch um eine Initiative auf lokaler Parteiebene, eine aktive Beteiligung seitens Firmen-Belegschaften bis hin zu Schulklassen. Es handelte sich um ein Mitmachen, Anfeuern, Zuschauen und Gleichgültigkeit durch Teile der Bevölkerung. Dabei fand alles, bis auf die Plünderungen, auf Betreiben, mit Unterstützung und Billigung der obersten Machthaber statt.

Gegen den Terminus »Pogrom« spricht auch, dass es sich dabei um ein singuläres Geschehen handeln kann, während der November 1938 ein Schritt im Vernichtungsprozess der deutschen und europäischen Juden war.​

und für mich die wichtige Aussage:

Meines Erachtens geht es eher darum – nicht anders als bei den Begriffen »Holocaust« und »Schoa« –, dass die Inhalte jeder Generation neu vermittelt, die Geschichten der Jüdinnen und Juden erzählt werden, ebenso die Motive und Taten der Täter. Empathie und Wissen, Lernen und Konsequenzen – die Intention ist bei jeglicher Benennung das Entscheidende, nicht der Terminus an sich.​

aus: Kristallnacht, Reichspogromnacht, Novemberpogrome?

Auch Pogrome des Mittelalters und der Neuzeit in Mittel- und Westeuropa werden so genannt.

Auch für antijüdische Ausschreitungen in der Antike wird mittlerweile der Begriff Progrom in einer Ausweitung der eigentlichen Bedeutung verwendet. In einer weiteren Ausweitung werden auch Ausschreitungen gegen andere Minderheiten als Progrom bezeichnet. Ich persönlich finde den Begriff Reichskristallnacht aber für passender, da man dann direkt an die Ereignisse des 9. November (und Folgetagen) 1938 denkt. Bei der großen Menge an Progromen in der Geschichte wird sonst dieses Progrom meiner Meinung als nur eines von vielen angesehen.

Dass bei der Reichskristallnacht oder Progromnacht nicht nur Fensterscheiben zerschlagen wurden, sollte eigentlich jedes Schulkind wissen.

Aber letztendlich ist das Wissen über diese Ereignisse wichtiger als die genaue Bezeichnung, für jede von den möglichen es jeweils Argumente dafür und dagegen gibt.


Während der Pogrom im Scheunenviertel 1923 lokal war und noch in etwa dem entsprach, was in früheren Zeiten passierte, waren die Pogrome von 1938 allumfassend - Deutschland, Österreich, selbst Danzig -, nur die deutsche Schweiz machte nicht mich.

Österreich war seit dem Anschluss 1938 Teil des Deutschen Reiches (auch wenn man in Österreich ex post nach 1945 diesen Anschluß ex tunc (1938) als ungültig ansah). Die Freie Stadt Danzig war zwar formell nicht Teil des Reichsgebiet, aber die dortige NSDAP war eng mit der Schwesterpartei im Reich verbunden und es fanden parallel ähnliche Entwicklungen wie im Reich statt. Die Deutschschweiz hatte zwar auch Nazi-Organisationen, aber die spielten nur eine sehr untergeordnete Rolle. Ich konnte auf die Schnelle nicht einmal herausfinden, ob diese Parteien überhaupt nennenswert Stimmen bei Wahlen bekommen hat.
 
Österreich war seit dem Anschluss 1938 Teil des Deutschen Reiches (auch wenn man in Österreich ex post nach 1945 diesen Anschluß ex tunc (1938) als ungültig ansah). Die Freie Stadt Danzig war zwar formell nicht Teil des Reichsgebiet, aber die dortige NSDAP war eng mit der Schwesterpartei im Reich verbunden und es fanden parallel ähnliche Entwicklungen wie im Reich statt.
Ich finde es wichtig, zwischen Deutschland, Österreich und Danzig zu unterscheiden, denn während in Kurhessen und Magdeburg-Anhalt die ersten Pogrome schon am 7. November nachmittags begannen und sich am nächsten und übernächsten Tag auf ganz Deutschland ausweiteten, begannen diese in Österreich und Danzig erst am 10. bzw. 12. November. Das deutet auf eine Aufforderung seitens Goebbels hin, so nach dem Motto: Warum macht ihr nicht mit? Oder sie wurden erst aktiv, als die Medien über die Ereignisse in Deutschland berichteten.

Zitat aus Wikipedia:

In Österreich begannen sie erst am 10. November; sie verliefen dort noch heftiger.
(…)
Nationalsozialisten in der Freien Stadt Danzig begannen ihre Angriffe auf die örtlichen Juden sogar erst am 12. November.
 
Das deutet auf eine Aufforderung seitens Goebbels hin, so nach dem Motto: Warum macht ihr nicht mit?

Das deutet eher auf taktische Bedenken der regionalen NSDAP-Gliederungen und der damit verbandelten Organisationen hin.

Österreich war erst seit dem März 1938 an Deutschland angeschlossen. Zwar wird man die vorausgegangene austrofaschistische de-facto Diktatur Dollfuß-Schuschnigg sicherlich nicht als besonders freundlich gegenüber den jüdischen Einwohnern Österreichs betrachten können, aber die Nürnberger Rassengesetze von 1935 und die zunehmende Repression und Terrorisierung der jüdischen Bevölkerung in Hitler-Deutschland waren ein anderes Kaliber.
Die Bevölkerung dessen was vor März 1938 Deutschland war, hatte seit Machtantritt der Nazis fünf Jahre Zeit, sich an die sich graduell immer weiter verschärfenden Repressionen gegen Personen, die vom Regime als Juden betrachtet wurden, zu gewöhnen.
Für die Bevölkerung Österreichs, kam das aber weniger graduell, sondern viel abrupter, umso wahrscheinlicher musste es den Statthaltern des Regimes in den österreichischen Gauen erscheinen, dass extreme judenfeindliche Maßnahmen hier auf wesentlich größeres Unverständnis stoßen würden, als im älteren Reichsgebiet, wo die Bevölkerung länger Zeit hatte abzustumpfen und sich in der NS-Diktatur und ihren Spielregeln einzurichten.

Von dem her wäre es nicht unwahrscheinlich, wenn die NS-Gauleiter in Österreich und die lokalen SA- und SS-Funktionäre hier erstmal abwarteten, wie die österreichische Bevölkerung auf die Pogrome im alten Reichsgebiet reagieren würde.
Wahrscheinlich gaben sie dann selbst den Startschuss zu Übergriffen auch in den österreichischen Gauen als sich abzeichnete, dass die bisherigen Prgrome jedenfalls nicht zu besonderer Unruhe in der Bevölkerung führten.


Danzig ist insofern ein völlig anderes Thema, als dass Danzig nicht nur nicht Deutschland war, sondern hier auch auf internationale Befindlichkeiten Rücksicht genommen werden musste, wollten die Nazis mit ihren Gewaltaktionen nicht unerwünschte Reaktionen auslösen.

Danzig stand unter Mandat des Völkerbunds, was die Möglichkeit mit sich brachte, dass bei Gefährdung der öffentlichen Ordnung die Garantiemächte sich bemüßigt hätten sehen können, dort militärisch zu intervenieren.
Außerdem konnten Gewaltexzesse in Danzig natürlich für die polnische Regierung einen Vorwand liefern, zu behaupten dort polnische Bürger schützen zu müssen und das Gebiet deswegen zu besetzen, möglicherweise mit dem Ziel den Status von Danzig dauerhaft zu Gunsten Polens zu verändern.
Außerdem konnte das NS-Regime in Danzig nicht in der Weise die freie Presse und Berichterstattung unterdrücken und die Berichterstattung über die Pogrome entsprechend seiner Propagandavorstellungen gestalten, schon weil es anders als im Reichsgebiet hier internationale Pressevertreter nicht einfach durch Verweigerung der Einreise und Einschränkung der Bewegungsfreiheit und Präsentation Potemkinscher Dörfern einschränken und manipulieren konnte.

Da es wiederum weder im Interesse der Deutschen, noch der Danziger NSDAP sein konnte, entweder dem Völkerbund und den Garantiemächten des Versailler Vertrags oder aber der polnischen Regierung einen Grund zu liefern das Danziger Gebiet zu besetzen, wird man davon ausgehen können, dass in Sachen Pogrom von Seiten der Danziger NSDAP eher auf die Bremse getreten wurde, mindestens bis klar war, dass sich die internationalen Reaktionen auf Protestnoten und empörte Berichterstattung beschränken würden.
 
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Was ich mich schon länger frage, ist ob die Bezeichnung "Kristallnacht" auf den jüdischen Hochzeitsbrauch anspielt, während der Trauung ein Glas zu zertrümmern. Das zerstörte Glas soll an die Zerstörung des letzten Jerusalemer Tempels durch die Römer erinnern.
 
Was ich mich schon länger frage, ist ob die Bezeichnung "Kristallnacht" auf den jüdischen Hochzeitsbrauch anspielt, während der Trauung ein Glas zu zertrümmern. Das zerstörte Glas soll an die Zerstörung des letzten Jerusalemer Tempels durch die Römer erinnern.

Davon habe ich noch nichts gelesen, dagegen spricht m. E., dass dieser Begriff wohl im nicht-jüdischen Volksmund geprägt wurde.



hier n0ch zu den Vor- und Nachteilen der jeweiligen Begrifflichkeiten:

Reichspogromnacht, Pogromnacht oder Kristallnacht? Darum ist die Wortwahl wichtig
 
Was ich mich schon länger frage, ist ob die Bezeichnung "Kristallnacht" auf den jüdischen Hochzeitsbrauch anspielt, während der Trauung ein Glas zu zertrümmern.
offtopic: Steht der Polterabend in irgendeiner Verbindung zu diesem jüdischen Hochzeitsbrauch. Dort wird ja kurz vor der Hochzeit ordentlich Porzellan zerdeppert, was angeblich dem Paar Glück bringen soll.
 
offtopic: Steht der Polterabend in irgendeiner Verbindung zu diesem jüdischen Hochzeitsbrauch. Dort wird ja kurz vor der Hochzeit ordentlich Porzellan zerdeppert, was angeblich dem Paar Glück bringen soll.
Das ist aber missverständlich formuliert.
Ein Zusammenhang mit der Kristallnacht und dem Polterabend besteht selbstverständlich nicht.
Ob ein Zusammenhang zwischen jüdischem Hochzeitsbrauch und deutschem Polterabend besteht, weiß ich nicht, halte es aber für möglich. Es gibt ja vieles Jüdisches in unserer Sprache und unseren Gebräuchen. Man denke an fromme Wünsche wie guten Rutsch (von rosch ha shanah) oder hazlacha uwracha > Hals- und Beinbruch
 
Das ist aber missverständlich formuliert.
Ein Zusammenhang mit der Kristallnacht und dem Polterabend besteht selbstverständlich nicht.
Das habe ich auch nicht geschrieben.
Ob ein Zusammenhang zwischen jüdischem Hochzeitsbrauch und deutschem Polterabend besteht, weiß ich nicht,
Sondern genau das:
Steht der Polterabend in irgendeiner Verbindung zu diesem jüdischen Hochzeitsbrauch
Ich hätte besser am Ende ein Fragezeichen, anstatt eines Punktes setzen sollen. Das ist missverständlich, ok.
 
Da habe ich dann missverständlich formuliert. Speziell auf deinen Beitrag bezog sich zunächst nur der erste Satz. Der Rest dann auf die Beiträge von maglor, Carolus und dir.
 
Steht der Polterabend in irgendeiner Verbindung zu diesem jüdischen Hochzeitsbrauch. Dort wird ja kurz vor der Hochzeit ordentlich Porzellan zerdeppert, was angeblich dem Paar Glück bringen soll.
Die Übereinstimmungen sind nicht so groß.
Der Polterabend ist bekanntlich vor der Hochzeit und traditionell wird dabei große Mengen von Porzellan und andere Keramik zertrümmert, während Glas dabei Tabu ist.
Während der jüdischen Hochzeit wird jedoch direkt nach der Trauung ein einzelnes Weinglas vom Bräutigam zertreten oder an der Wand der Synagoge zertrümmert. Einige Synagoge haben sogar einen speziellen Hochzeitsstein zu diesem Zweck.
Beim Polterabend sollen die Scherben Glück bringen, während die Scherben während der Schuppa an ein Unglück, nämlich die Zerstörung des Jerusalemer Tempels erinnern sollen.
Beide Bräuche sind durchaus unterschiedlich.Eventuell hat der jüdische Brauch jedoch ebenfalls seine Ursprünge im Aberglauben und Bezugnahme zur Zerstörung des Tempels ist eine gelehrte Umdeutung eines ursprünglich abergläubischen Brauches, vgl. Blogbeitrag des jüdischen Museums Münchens.

Wie der Begriff "Reichskristallnacht" entstand ist weitgehend unklar. Das lässt durchaus Raum für meine Spekulationen.

Das Wort Kristall wird in Deutschland für hochwertiges Glasgeschirr, insbesondere für Trinkgläser verwendet. Es gibt auch das Kompositium Kristallglas. Es handelte sich hierbei um ein hochwertiges Trinkgefäß oder eine besonders harte Glassorte, die für dekorative Trinkgefäße, Vasen und Kronleuchter verwendet wird, jedoch nicht für Fensterglas.
Eine andere Name der "Kristallnacht" ist "Nacht der zerbrochenen Gläser". Glas als Material hat im Deutschen eigentlich keinen Plural. Der Plural kommt nur bei Gegenständen vor wie etwa den gleichnamigen Trinkgefäßen (das Glas, die Gläser!) und bei Komposita wie Uhrgläsern, Stundengläsern u.a. Glas als pars pro toto für Fenster ist unüblich, schon gar nicht im Plural.

Zurück zum jüdischen Hochzeitsbrauch:
In der ursprünglichen Variante wurde das Weinglas am Hochzeitsstein der Synagoge zertrümmert. Die Glasscherben liegen danach in der Synagoge herum.
Diese Handlung soll an die Zerstörung des Tempels erinnern.
Die "Kristallnacht" von 1938 ist vor allem die Zerstörung der Synagogen. Glasscherben an oder in einer Synagoge können den Betrachter an eine jüdische Hochzeit erinnern. Oder eben an den zerstörten Tempel. Allerdings lautet die Bezeichnung "Kristallnacht" und eben nicht Feuernacht, Todesnacht etc., was die Verbrechen viel anschaulicher beschreiben würde. Dass der Begriff "Kristallnacht" poetisch ist, ist allgemein bekannt.
 
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Ich bin offenbar nicht der einzige Mensch mit dieser Assoziation.
Dank Google habe ich auf der Homepage einer jüdischen Gemeinde in Kanada folgendes Zitat des dortigen Rabbiners gefunden:

"When I officiate a wedding and instruct the groom to break the glass, I often mention the night of broken glass as an example of the broken pieces in Jewish history. At the same time, I mention that the broken glass under the Chuppa is a symbol of the eternity of the Jewish people, the Jewish spirit, and the Jewish resolve to celebrate Jewish life."
https://www.beby.org/rabbim?post_id=1124448


Die Entscheidung des Begriffs wird dadurch leider nicht aufgeklärt. Es ist zumindest eine mögliche Deutung.
 
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