Habe gerade eine sehr umfangreiche Antwort zu schreiben begonnen, zwischendurch gefrühstückt, abgeschickt und dann war sie weg - ich hätte mich zwischenzeitlich abgemeldet. Tragisch...
Im Grunde war der Inhalt: Man kann auch druchaus Kritik an Bismarck anwenden.
Natürlich kann man das. Bei wem träfe dies nicht zu?
feif:
1. War er dafür verantwortlich, dass Deutschland nicht auf einer demokratischen Basis, sondern auf einen Krieg gegründet wurde.
Bismarck war kein Demokrat und er war auch nicht in einem demokratischen Umfeld "sozialisiert" worden. Er war ein Kind seiner Zeit und seines Umfelds. Und er war sicher auch ein Machtmensch.
2. Rief er 1871 in Versailles ein Deutschland mit imperialen Ansprüchen ins Leben.
Zunächst war er maßgeblich an der Reichsgründung "schuld". Aber ob er auch dafür Verantwortlich gemacht werden kann, dass dieses neu gegründete Reich imperiale Ansprüche geltend machen würde? Mit diesem Denken stand Deutschland damals außerdem nicht alleine da. Das war sozusagen das vorherrschende Denken innerhalb Europas. Auch bei den demokratischen Staaten.
3. Hasste er Demokratie und Sozialdemokraten, also im Grunde alles, was wir heute als politisch links verorten würden.
Das waren seine politischen Gegner. Und die liebt auch heute in unserer ach so aufgeklärten Zeit kaum ein Politiker.
4. Ließ er Parteien, respektive den Reichstag zu und gründete Sozialversicherung aufgrund seines Pragmatismus - um gewisse Leute ruhig zu stellen.
Parteien zuzulassen ist per se doch gar nicht so schlecht. Es gibt jedenfalls autoritärere Vorgehensweisen. Mit der Sozialversicherung wollte Bismarck zwei Fliegen mit einer Klappe erschlagen. Einerseits wollte er die Arbeiterschaft auf seine Seite ziehen und von der Sozialdemokratie entfremden (ruhig stellen passt da ganz gut). Andererseits war es ihm aber durchaus ein Anliegen, die sozialen Bedingungen der Arbeiterklasse zu verbessern. Die Sozialversicherung war seinerzeit revolutionär. Und auch an der Organisation und Ausgestaltung der Sozialversicherung war Bismarck durchaus nicht unbeteiligt. Die gesetzliche Unfallversicherung hätte man evtl. auch über eine Verbesserung des Haftpflichtschutzes der Unternehmer regeln können (nachdem sich diese Lösung als nicht so erfolgreich erwiesen hatte). Aber Bismarck erkannte, dass er so keine für ihn zufriedenstellende Situation erreichen konnte. Er sprach sich für eine öffentliche Einrichtung und nicht für eine private Versicherungslösung aus, weil man die Gesundheit der Menschen nicht zum Gegenstand von Gewinnen und Dividenden machen könne (sinngemäß, genau habe ich das jetzt nicht mehr im Kopf).
5. Entfachte er durch den Krieg gegen Frankreich einen Hurra-Patriotismus, der das Volk - so denke ich - für Expansionspolitik begeisterte.
Bismarck war eigentlich nicht unbedingt der Expansionspolitiker. Dass die Reichseinigung bei Nationalisten begeistert aufgenommen wurde ist auch verständlich. Von dem "Flickenteppich Deutschland" wollten viele Deutsche schon lange wegkommen.
6. Ließ er politische Gegner, die den Frieden forderten (Wilhelm Liebknecht, August Bebel et al) als Landesverräter internieren.
War wirklich Bismarck dafür verantwortlich? Mir fehlt da das Hintergrundwissen...
7. War er eine Art Notwaffe, als die man ihn eingesetzt hat, nachdem die 1862 angesetzten Wahlen von rechten Liberalen und der Fortschrittspartei gewonnen wurden. Er sollte den Machtwechsel im Namen des Junkertums verhindern.
Man versucht immer, seine politischen Ziele durch den Einsatz "geeigneter" Leute an den Schaltstellen zu erreichen und zu sichern. Bismarcks Einstellung und Qualifikation mag da Einigen recht gekommen sein.
8. Entsandte er Afrikaforscher wie Gustav Nachtigal oder Karl Peters, die aufgrund ihrer rohen Brutalität von den Eingeborenen als "Hängepeters" tituliert wurden. (Kennt übrigens jemand die Gute-Nacht-Lektüre "Die Weißen kommen" ?)
Hat wirklich Bismarck diese beiden entsandt? Er war ja nicht unbedingt ein Befürworter der Idee, dass Deutschland Kolonien erwerben sollte. Z. B. hatte das Deutsche Reich es abgelehnt, die "Mission" Peters unter seinen Schutz zu stellen. Nachtigal wurde übrigens nicht als "Hängepeters" tituliert. Er hatte mit Carl Peters auch sonst nicht so viel gemeinsam...
Einige dieser Punkte können sicherlich entkräftet werden. Wenn aber Bismarck aus ethischer Sicht bewertet werden soll, so war er gewiss kein Großer. Groß war er lediglich aufgrund seines persönlichen Formates, wenn auch mit konservativem Tunnelblick.
Den Tunnelblick möchte ich dir - ohne dich damit angreifen zu wollen - zurückgeben. :winke: Dein Urteil gründet sich meiner Einschätzung nach, was dich ehrt, auf deine persönlichen Überzeugungen, die mit denen Bismarcks wenig zu tun haben, insbesondere imHinblick auf Demokratieverständnis und den Wert von Frieden. Aber diese Beurteilung ist halt nicht wissenschaftlich. Man muss versuchen, Bismarcks Handeln aus seiner Zeit heraus und anhand der jeweils vorliegenden Situation erklären. Und da stellt man fest, dass Bismarck im Vergleich mit seinen Zeitgenossen nicht so schlimm war wie nach "heutigen" Maßstäben.
Viele Grüße
Bernd