tatsächlich mündlich überlieferte Sagen?
Es ist ein wenig seltsam diesen uralten Thread zu reaktivieren - ich war nur auf Quellensuche. Aber es sticht mir eine irrtümliche Logik ins Auge, die eine Korrektur verlangt.
Aragorn schrieb:
Ich hab hier auch mal eine heimische Sage aus dem Oberhessischen zusammengetragen:
Ein Schäfer saß des Nachts noch vor seiner Hütte, da hörte er von weither Hufgetrappel und Hundegebell, seine eigenen Hunde jaulten dabei vor Angst. Nach ein paar Stunden, der Schäfer lag schon im Bett, da klopfte es an seiner Tür, und ein Knochen wurde in seine Hütte geworfen., dabei rief eine Stimme: “Du hast mir geholfen zu jagen, nun helf ’ mir nagen.“
Dann verschwanden Hufegetrappel und Hundegebell wieder.
Auch diese Sage könnte von Wotans wilder Schar handeln und aus längst vergangener Zeit überliefert sein, sie könnte sich aber auch erst viel später entwickelt haben.
Schon erstaunlich, wie lang sich uralte, mythologische Vorstellung bis in die Neuzeit erhalten konnten!!! *staun*
Mercy schrieb:
Gibt es da auch eine Quelle?
Aragorn schrieb:
Das ist natürlich erzählgut, dass von Generation zu Generation weitergegeben wird.
Aragorn schrieb:
Quatsch, das ist natürlich auch schriftlich überliefert, das Buch heißt:
" die Gemeinde Lohra und ihre 10 Ortsteile im Wandel der Jahrhunderte" und ist von einem gewissen Karl Huth geschrieben worden, der von der Gemeindeverwaltung damit beauftragt. Also,mir wurde es nicht mehr mündlich überliefert, ich musste es hier drin schon nachlesen. ich denke mal die Sage wurde noch bis ins frühe 20.Jahrhundert von Generation zu Generation weitererzählt, ab einem gewissen Zeitpunkt brach dann die Überlieferung ab. Ich denke mal, der Grund dafür, war die fortschreitende Industrialisierung auch der ländlichen Gebiete.
hyokkose schrieb:
Hier fehlt mir noch die logische Brücke: Was hat im frühen 20. Jahrhundert die Omas in den ländlichen Gebieten plötzlich davon abgehalten, ihren Enkeln Legenden und Märchen zu erzählen? Das Elektrizitätswerk? Die Bahnverbindung bis zum Nachbardorf? Die Werkzeugfabrik am Dorfrand?
(Danach schweift die Diskussion über Volksempfänger ab, was freilich im übertragenen Sinne auch des Pudels (!) Kern trifft ...)
Hallo zusammen, :winke:
Es wird immer wieder vermutet, dass in der Tiefe eines wie auch immer gearteten "Volkstums" derartige Sagen schlummern. Die Industrialisierung (= Moderne Gesellschaft, ab circa 1850) hätte sie verdrängt, verschüttet oder vergessen gemacht. Es gäbe kein rationales Bezugssystem, eine Quellenkritik sein nicht recht möglich. Dem ist eindeutig nicht so. Der obig genannte Gemeindeschreiber hatte ein Vorbild, einen literarischen Bezugspunkt. In diesem Fall (und in diesem Themenfeld wohl auch sonst des öfteren) landet man bei den
Gebrüder Grimm, "Deutsche Sagen", (Erstausgabe von 1816/1818):
http://gutenberg.spiegel.de/grimm/sagen/g173.htm
grimm bei gutenbergprojekt schrieb:
173. Der wilde Jäger und der Schneider
Ein Schneider saß einmal auf seinem Tische am Fenster und, arbeitete, da fuhr der wilde Jäger mit seinen Hunden über das Haus her, und das war ein Lärmen und Bellen, als wenn die Welt verginge. Man sagt sonst den Schneidern nach, sie seien furchtsam, aber dieser war es nicht, denn er spottete des wilden Jägers und schrie: »Huhu, huhu, kliffklaff, kliffklaff!« und hetzte die Hunde noch mehr an; da kam aber ein Pferdefuß ins Fenster hereingefahren und schlug den Schneider vom Tische herab, daß er wie tot niederfiel. Als er wieder zur Besinnung kam, hörte er eine fürchterliche Stimme:
»Wust du met mi jagen,
dan sost du auk met mi knagen!«
Ich weiß gewiß, er wird nie wieder den wilden Jäger geneckt haben.
Und hier wird jeweils das gleiche Motiv als "regionalen Sage" geschöpft:
Eine abgwandelte Version aus Kärnten/Österreich:
http://www.sagen.at/texte/sagen/oesterreich/kaernten/Graber/wilde_mann_jagd.html
ebenso eine aus Mohlsdorf in Thüringen:
http://www.mohlsdorf.de/sagen/sb-21.html
und Oberhessen als "Heimat" dieser Sage hatten wir ja schon.
Weder sind diese Sagen per se regional, noch per se mündliche Überlieferung, noch Teil eines allgemeinen "Volksgedächtnisses". Sie sind vielmehr Ausdruck der weiten Verbreitung der Grimmschen Werke (Märchen, Sagen, Mythologie). Die Frage müsste vielmehr umgekehrt lauten, "wie typisch industriell und modern war/ist die Verbreitung und Rezeption dieser Werke". Als Standartwerke deutscher Literatur/Volkskunde bestimmten sie maßgebend das Denken des deutschsprachigen Bürgertums ab der 2. Hälfte des 19. Jhds. Im 20. Jhd dürfte fast jedes Schulkinder damit in Berührung gekommen sein (Massenbuchdruck+Schulpflicht). Ein Monopol regional-hermetischer Erzähl-Tradierung ist damit seit Beginn des 20. Jhds definitiv nicht mehr gegeben. Eine zwangsläufige Herleitung einer mündlichen Überlieferung als spezifisch regionales oder garantiert vorindustrielles Kulturelement existiert seit mehr als 100 Jahren nicht mehr. (Und selbst davor - muss man sich vorindustrielle Tradierung tatsächlich als starr, ohne äußere Einflüsse, als hermetisch vorstellen? Ich denke nicht ...)
Die zweite Ebene der Kritik wäre in welchen Transformationen wurden die Grimmschen Werke/Aufzeichnungen verbreitet und wer hat sie sich zu Nutze gemacht. Zum Beispiel wer hat die Grimmschen Sammlung im Sinne einer völkischer Rezeption aufbereitet. (Im Augenblick weiss ich darüber zu wenig. Aber auffallend ist der Reflex um das vermeintlich verschüttete "germanische Ur-Wissen" schon. Wo es sich doch ganz gegenteilig um eine Zeit handelt in der industrielle "Masse" (in der Auffassung für Ware wie Mensch) und flächendeckender Zugriff (räumlich wie ideologisch) als bezeichnende Strategie entdeckt wurde.)
Zur "Exegese" der Sagen/Märchen/Mythen will ich im Augenblick nicht tiefer eingehen. Dazu fehlt mir im Augenblick ein Überblick und Gehalt, um sinnvoll das Erzählte von Erzählerkontext trennen zu können. Nur soviel, diese spezielle Sage spielt im Rahmen von "Wilde Jagd" über "Wilder Jäger" bis "Wilder Mann". Auch ist in den Versionen und ähnlichen Sagen eine Nähe zu "teuflischen" Aspekten offensichtlich. Inwieweit hier welche christlichen Bilder ihren Ausdruck finden ist mir im Augenblick jedoch noch unklar. Das Auftreten des "Wilden Mannes" ist freilich sehr spannend und wohl auch regional zu differenzieren (entgegen des Auftretens der Sage an sich, sie ist mittlerweile längstens "überall" hin verbreitet und potentielle Tradition.) Er steht wohl in Verbindung mit dem Bergbau, ich habe in Thüringen, Schwarzwald und in der Oberpfalz "vorgrimmsche" Bezüge gefunden. Zum Beispiel diese barocke Holzskulptur aus dem Egerland-Museum in Marktredwitz/Oberpfalz explizit kein Heiliger, sondern ein "wilder Mann". :devil:
http://www.egerlandmuseum.de/seiten/thema_mon_archiv/wildermann_08_03.htm
Mit freundlichen Grüßen, Martin