Die wave-of-advance-Theorie

Man kann es offensichtlich nicht oft genug wiederholen: gesprochene Sprache und vererbte Gene sind zwei ganz verschiedene Paar Schuh!

@ El Quijote: Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch "Bildatlas der Sprachen - Ursprung und Entwicklung der Sprachen dieser Erde (im Original "The Atlas of Languages")" gelesen (Comrie, Matthews, Polinsky 1996). Darin wird argumentiert, die genetische Abstammung und die Sprachverwandtschaft gingen im Grundsatz miteinander einher, ausgenommen Sprachübernahmen nach Eroberungen und ähnliche Situationen. Hälst Du das im Grunde für falsch oder meinst Du die besagten Ausnahmesituationen?
 
Natürlich werden Sprachen in erster Linie von Eltern an ihre Kinder weitergegeben. Das steht vollkommen außer Frage. Und zwischen Eltern und Kindern besteht unbestritten eine genetische Verwandtschaft (selbst wenn wir davon ausgehen, dass Adoptivverhältnisse schon in der Frühzeit existiert haben, dürften diese dennoch vorwiegend auf reellen Verwandtschaftsbeziehungen beruhen). Aber es gibt eben kein Gen, welches besagt: Dieser Sprecher spricht eine finno-ugrische und jener eine nilo-saharauische Sprache. Welche Prozesse auch immer dazu führen, dass eine Population die Sprache einer anderen annimmt und die ursprüngliche Sprache verdrängt wird, ob bewusst sprachpolitische oder unbewusst soziolinguistische: das sind Prozesse die stattfinden - bis heute! Heute sind es insbesondere Eingeborenensprachen, die verschwinden*. Die meisten Indianer in Südamerika können ihre Muttersprachen nicht mehr, obwohl die Großeltern sie noch sprechen (ich habe einen Freund, der ist Mexikaner, dessen Großmutter einen Maya-Dialekt spricht. Er kann ihn nicht mehr - aus Prestigegründen - was er sehr bedauert. Seine Großmutter hingegen spricht nur sehr gebrochen Spanisch). Das Ausnahmeland schlechthin (obwohl auch in Peru die indigenen Sprachen politisch gefördert werden und einen hohen sozialen Status unter den Quechua und Aymara etc. genießen) ist Paraguay. Hier haben die Jesuiten frühzeitig einem spanischen Sprachkolonialismus entgegengewirkt (gar nicht unbedingt mit diesem speziellen Ziel) indem sie zur Missionierung der Guaraní deren Sprache lernten. Heute können mehr Paraguayanos Guaraní sprechen, als Spanisch, die europäischstämmige Bevölkerung inklusive.
Die wave-of-advance-Theorie (eigentlich müsste man korrekterweise von Hypothese sprechen), um die es hier im Thread geht, besagt, dass das Indoeuropäische sich mit der Technik des Ackerbaus verbreitet habe. Also zunächst über die Worte, die mit dem Ackerbau zu tun hatten und die dieser Sprachgruppe ein Prestige verliehen, welches die mit der neuen Technik Beglückten dazu veranlasste, diese Sprache ganz zu übernehmen. Ich persönlich glaube allerdings, dass die wave-of-advance-Hypothese so noch nicht ganz stimmig ist. Die neolithische Revolution ist mir ein wenig zu früh.

*Aber nicht nur. In Europa erleben wir gerade einen Prozess der Wiederbelebung ausgestorbener europäischer Sprachen und Dialekte.
 
Ich habe vor ein paar Jahren ein Buch "Bildatlas der Sprachen - Ursprung und Entwicklung der Sprachen dieser Erde (im Original "The Atlas of Languages")" gelesen (Comrie, Matthews, Polinsky 1996). Darin wird argumentiert, die genetische Abstammung und die Sprachverwandtschaft gingen im Grundsatz miteinander einher

Diesen Ansatz kenne ich aus dem Kreis Cavalli-Sforza/Greenberg/Ruhlen. Greenberg und Ruhlen sind bzw. waren Linguisten, deren (methodisch mangelhaft untermauerte und somit auf sehr wackligen Füßen stehenden) Thesen unter Fachkollegen mehr als umstritten sind.

Ich hatte das schon einmal kommentiert: http://www.geschichtsforum.de/213266-post6.html

Allerdings möchte ich mir über Bernard Comrie und seine Co-Autoren kein Urteil erlauben, bevor ich mich mit deren Argumentation auseinandergesetzt habe.

Als Test empfehle ich Dir, die Klassifikation der amerikanischen Sprachen anzusehen. Wenn dort behauptet wird, sämtliche Sprachen Amerikas gehörten drei Familien an ("Amerind", "Na-Dene" und "Eskimo-Aleut"), dann ist das von Greenberg/Ruhlen abgekupfert und sehr mit Vorsicht zu genießen.


ausgenommen Sprachübernahmen nach Eroberungen und ähnliche Situationen. Hälst Du das im Grunde für falsch oder meinst Du die besagten Ausnahmesituationen?

Nun ja, da es wohl kaum jemals einen Staat oder Volk gegeben hat, das weder erobert hat noch erobert wurde und es wohl kaum eine Sprachgrenze gibt oder gegeben hat, die tausend Jahre oder gar länger stabil geblieben ist, wird diese "Ausnahme" eher die Regel sein.

Auf jeden Fall hat man dann immer eine Ausrede parat, warum es vorn und hinten nicht stimmt, wenn man mal ins Detail schaut.
 
Was ist mit den Ariern?

Hallo,

ich wollte mal nach den Ariern fragen? Habe neulich gelesen, dass einst ein indo-germanisches Volk in das Gebiet des heutigen Irans eingewandert ist - und ihm seinen Namen gegeben hat -> Iran = Land der Arier...

Ist das so richtig? Abgefahrene Sache....
 
Hallo,

ich wollte mal nach den Ariern fragen? Habe neulich gelesen, dass einst ein indo-germanisches Volk in das Gebiet des heutigen Irans eingewandert ist - und ihm seinen Namen gegeben hat -> Iran = Land der Arier...

Ist das so richtig? Abgefahrene Sache....

Das stimmt. Arier gehören zur indoiranischen Gruppe der indogermanischen Sprachfamilie (u. a. Meder, Perser).

Erste Spuren der Arier finden sich im kleinasiatischen Raum: Schriftliche Quellen belegen, dass das mesopotamische Mitannireich im 14. und 15. Jahrhundert v. Chr. eine arische Oberschicht besass. Nach dem Zusammenbruch ihrer Herrschaft wanderten die Arier um das 12. Jahrhundert v. Chr. nach Osten und drangen aus iranischem und afghanischem Gebiet in den Nordwesten Indiens vor. Sie eroberten zunächst den Punjab, dann weitere Teile Indiens. Die arische Kultur überlagerte diejenige der autochthonen Bevölkerung. Die Entstehung des Kastensystems ist ein Ausdruck dafür, dass eine Trennung zwischen der arischen Oberschicht und der ursprünglichen Bevölkerung bestehen blieb.

Arier ? Wikipedia

Innenministerium NRW - Arier
 
thx

Toll, danke für die Antwort und die Links, vor allem der des Innenministeriums NRW ist sehr interessant. Ich bin ziemlich neu hier und versuche, mir einen Überblick über die Entstehung der Zivilisation im Mittelmmerraum zu verschaffen, was garnicht so einfach ist :)

Als Laie wird einem ja oft suggeriert: Erste Hochkulturen in Mesopotamien & Ägypten - alles andere viel später. Was ja auch stimmt. Aber umso mehr hat es mich überrrascht zu erkennen, welch großen Anteil und Einfluß unsere kulturellen und sprachlichen Vorfahren in Form der Hethitier und eben von dir genannten anderen Völkern auf eben jene Region, die als Wiege der Zivilisation gilt, hatte. Als Geschichtsinterresierter find ich das ziemlich lössig! :)

Und als ich folgendes las, hats mich förmlich umgehauen (von terrax.de zur entschlüsselung der hethitischen sprache):
"
Übersetzung von "Nu Ninda-an e-ez-za-at-te-ni wa-a-tar-ma e-ku-ut-te-ni":

Das Wort "Ninda-an" bedeutet in vielen altorientalischen Sprachen "Brot". Bei der Entschlüsselung entdeckte der Forscher plötzlich ein Wort, das dem Englischen ähnlich war. Eine Erkenntnis, die ihn auf die indo-europäische Sprachfamilie brachte.
"Wa-a-tar" entspricht dem altsächsischen "Watar", zu deutsch "Wasser" oder dem englischen "water". Das Wort "ez-za" erinnerte ihn an das althochdeutsche Wort für essen: "ezzan", das fast identisch klingt. Kombiniert ergaben die Worte einen Sinn. So konnte er den ganzen Satz verstehen. Vermutlich hat er sich die Worte extra aufgeschrieben.
Im "nu" vermutete er das lateinische "nunc" für "jetzt". Ninda-an kannte er also für Brot. E-ez-za-at-te-ni für essen. "Wa-a-tar" interpretierte er als "Wasser". Das "e-ku-ut-te-ni" am Ende setzte er mit dem lateinischen "aqua" gleich. Es könnte "trinken" heißen, zumindest als Verb und in Verbindung mit dem Wort "Wasser".
So hatte Hrozny den Sinn des Satzes verstanden: "Jetzt isst du Brot und trinkst du Wasser." Damit hatte er den ersten hethitischen Satz seit 3000 Jahren übersetzt."


Wie abgefahren!


Eins aber verstehe ich nicht:


Genetische Studien, die auch Renfrew wiederlegten, haben gezeigt, dass die indo-germanisierung zwar kulturell voll eingeschlagen hat - aber eben nur kulturell. Genannte Genanalysen zeigten, dass die europäische Bevölkerung noch heute zu gut 80 % von der autochthonen Bevölkerung Europas abstammt, eine breite Vermischung mit gar genetischer Dominanz seitens der Kurganesen hat es wohl nicht gegeben. Ähnlichiches hast du ja in Bezug auf das indische Kastenwesen angedeutet.

Folglich stammt unser europides Auftreten zum Großteil von der autochthonen Bevölkerung Europas. Untersuchungen von Mumien aus der Taklamakan-Wüste, die den indo-germanischen Tochaern zugeschrieben werden, legen ein ähnliches Aussehen der indo-germanen nahe (also, zumindestens nach Wikipedia).
Was mich nun interressiert ist, ob und inwieweit ein Verwandtschaftsverhältnis der Indogermanen mit der autochthonen Bevölkerung Ureuropas bekannt ist, von wem die autchthone Bevölkerung abstammt und wie lange es braucht, bis sich physische Merkmale wie hellere Haut/hellere Haare/hellere Augen/Körpergröße und Milchverträglichkeit etablieren?
Weißt du da zufällig näheres?


mfg
 
Eins aber verstehe ich nicht:


Genetische Studien, die auch Renfrew wiederlegten, haben gezeigt, dass die indo-germanisierung zwar kulturell voll eingeschlagen hat - aber eben nur kulturell. Genannte Genanalysen zeigten, dass die europäische Bevölkerung noch heute zu gut 80 % von der autochthonen Bevölkerung Europas abstammt, eine breite Vermischung mit gar genetischer Dominanz seitens der Kurganesen hat es wohl nicht gegeben. Ähnlichiches hast du ja in Bezug auf das indische Kastenwesen angedeutet.

Folglich stammt unser europides Auftreten zum Großteil von der autochthonen Bevölkerung Europas. Untersuchungen von Mumien aus der Taklamakan-Wüste, die den indo-germanischen Tochaern zugeschrieben werden, legen ein ähnliches Aussehen der indo-germanen nahe (also, zumindestens nach Wikipedia).
Was mich nun interressiert ist, ob und inwieweit ein Verwandtschaftsverhältnis der Indogermanen mit der autochthonen Bevölkerung Ureuropas bekannt ist, von wem die autchthone Bevölkerung abstammt und wie lange es braucht, bis sich physische Merkmale wie hellere Haut/hellere Haare/hellere Augen/Körpergröße und Milchverträglichkeit etablieren?
Weißt du da zufällig näheres?


mfg

Mit dem Thema "Dailamiten" hat das ja alles nichts zu tun, vielleicht kan ein Mod die Beiträge ab "Was ist mit den Ariern" in eine der fünfzig Indoeuropäer-Diskussionen verschieben.

Vielleicht eines zur Klarstellung: "Indoeuropäer" bezieht sich allein auf die Sprache. Sprache ist nichts, was genetisch vererbt wird, weshalb die indoeuropäischen Iraner oder Inder auch nicht annähernd so blond sind wie die nicht-indoeuropäischen Finnen und Esten.

Da die Ur-Indoeuropäer archäologisch nicht faßbar sind, kann man sie auch nicht mit der autochthonen Bevölkerung Europas genetisch vergleichen.
 
@ El quijote: Bei der Einführung neuer Konzepte (z.B. im Rahmen der Einführung des Ackerbaus - könnten aber ebensogut Motorfahrzeuge und Helikopter sein) wird zusätzliches Vokabular benötigt, um diese neuen Gegenstände und das, was sie tun, zu beschreiben. Heute googeln wir, simsen und haben ein Handy. Es ist wesentlich einfacher, das Vokabular um einige zig Wörter zu erweitern, als die quasi mit der Muttermilch aufgesogene Sprache über Bord zu werfen und durch eine fremde Sprache zu ersetzen. Alternativ ist auch der Effekt zu beobachten, daß mit Bordmitteln neue Wörter gemacht werden. Wo wir im Deutschen das lateinische Wort finestra zu Fenster angepaßt haben, sagen die Engländer window, was wohl schlicht ein wind hole und somit ein Windloch ist, in das dann später mal ne Glasscheibe kam.

Die Verbreitung von Eroberer-Sprachen, z.B. Spanisch und Englisch in den beiden Amerikas ist sicherlich mit ungeheurer Gewalt erfolgt. Eroberer haben ein Interesse, die einheimischen Sprachen zu unterdrücken, damit sie besser verstehen, was gesprochen wird. Mitunter ist dies auch eine Frage der Ideologie. So waren bis vor kurzem die kurdischen Sprachen in der Türkei bei Strafe verboten, weil Kurden und ein historisches Kurdistan nicht in das radikal-nationalistische Konzept der Republik Türkei passen.

Andererseits benötigt eine zentrale Verwaltung eine einheitliche Sprache (ein bleibendes großes Problem der EU aber auch in Spanien). Deshalb gibt es die Tendenz, daß Händler und Oberschichten eine vorherrschende Sprache lernen. Daß diese Sprache jedoch zur Volkssprache wird, steht auf einem ganz anderen Blatt. In Deutschland etwa ist das Hochdeutsch zunächst durch das Schulwesen und dann im Turbo-Tempo durch Radio und später das Fernsehen verbreitet worden (wobei leider die vielen regionalen Sprachen und Dialekte auf der Strecke bleiben). In einer Gesellschaft ohne zentrales Schulwesen, ohne Zeitungen, Radio und Fernsehen kann ich mir nicht vorstellen, warum die breite Bevölkerung eine fremde Sprache übernehmen sollte, ohne daß mit anhaltender und drakonischer Gewalt nachgeholfen würde.

Die in der wave-of-advance-Theorie vorgeschlagene Übernahme der Sprache eines technisch überlegenen Volkes hätte aber in einem steinzeitlichen Szenario stattfinden müssen, also unter Analphabeten mit wenig oder ganz ohne zentrale Führung. Dies könnte ich mir dann noch vorstellen, wenn eine weit größere Menge von Ackerbauern eingefallen wäre, die Einheimischen marginalisiert hätte und diese quasi bettelnd vor den Türen gestanden hätten. Dann wäre aber archäologisch zu beobachten, daß eine Bevölkerung weitgehend von einer anderen ersetzt wurde, nicht daß eine Bevölkerung sich entwickelt hätte.
 
@Hans
ich will nicht auf alles eingehen, was Du schreibst... das würde zuviel werden.

Nur dies:
Faustkeil,Ackerbau, Schmiedekunst, Hubschrauber... Ich denke, Du unterschätzt die intellektuelle Komplexität, die mit einem Technologietransfer verbunden ist. Ein Handy zu bedienen oder sogar mit dem Notebook im Internet zu surfen, ist Kinderkram. Es geht darum, wie man Handys oder Notebooks baut oder eine Software wie MS-Office programmiert.

Es gab mal im Rahmen der experimentellen Archäologie den Versuch, Leuten beizubringen, wie man ein Faustkeil schlägt. Vormachen reichte nicht! Jemand, der nicht solide Vorkenntnisse hat, versteht gar nichts. Er versteht nur - und kann es nur dann lernen! - wenn es sprachlich erklärt wird. Dies ist übrigens ein wesentliches Argument, den frühen Handwerkern Sprachfähigkeit zuzugestehen.

Wie willst Du jemandem Ackerbau und Viehzucht beibringen? Wann genau muss gesät werden, was überhaupt, wie viel Vorrat für den Winter, dreschen, mahlen, was als Mahlstein nehmen, Vorsicht vor Mäuse, Stiere kastrieren, Melken, Butter, Käse......

Jemand, der das lernen will, geht in die Lehre! Das erste, was er lernt ist die Sprache seines Meisters. Wer im 19.Jh. Koch werden wollte, lernte als erstes Französisch! O.k. dann ist er zweisprachig. Werden seine Nachfahren in den alten Dialekt zurückfallen? Warum sollten sie - sie wären ja von der "Kultur" abgeschnitten!
 
Zuletzt bearbeitet:
@deSilva, das ist ja prinzipiell richtig. Bei der "Geschwindigkeit" mit der sich die Landwirtschaft ausbreitete, ist das aber nicht zwingend nötig - weil es viele Generationen dauerte. Ein "Siegeszug" war das wahrlich nicht, es wird erhebliche Widerstände gegeben haben. Gemessen an Jägern, bedeutet das schlechte Gesundheit, Abhängigkeit von lokalen Gegebenheiten und schwere körperliche Arbeit. Wer tauscht das freiwillig gegen das ungebundene Nomadenleben eines Jägers und Fischers. Die Völkerkunde hat belegt, dass selbst in kargen Gegenden (Kalahari) vier Stunden Zeitaufwand den Lebensunterhalt decken. Davon können wir nur träumen, erst recht ein früher Landwirt.
 
Wurde nicht schon die höhere Geburtenrate bei den Bauern erwähnt? Bei dem langsamen Vorrücken der Bauern-Gruppen wird es ein Nebeneinander der verschiedenen Gruppen gebeben haben, voneinander Lernen und skeptisches Abwarten, letzendlich hatten aber die Bauern mehr Kinder und damit könnten sich auch bei der Sprache nach einigen Generationen neue Mehrheitsverhältnisse ergeben haben.
 
Ganz richtig, aber das ist eine andere Baustelle: Wird Landwirtschaft betrieben, um die zu (!) stark angewachsene Bevölkerung weiterhin ernähren zu können, oder kann die Bevölkerung anwachsen, weil (!) man Landwirtschaft betreibt?

Letztendlich setzt sich die fruchtbarere Population durch, und das ist die Ackerbau treibende...

Der Zeitfaktor spielt mMn da überhaupt keine Rolle.
 
Die Verbreitung von Eroberer-Sprachen, z.B. Spanisch und Englisch in den beiden Amerikas ist sicherlich mit ungeheurer Gewalt erfolgt.

Die Gewalt bestand vornehmlich in der physischen Ausrottung indigener Völker. Gegen die Sprachen als solche haben die Eroberer jahrhundertelang meines Wissens kaum etwas unternommen. Warum auch?


Eroberer haben ein Interesse, die einheimischen Sprachen zu unterdrücken, damit sie besser verstehen, was gesprochen wird.

Das beste Mittel, zu verstehen, was gesprochen wird, ist: Die Sprache zu erlernen, in der gesprochen wird. Es nutzt ja nichts, den Indios das Sprechen zu verbieten - man muß ihnen erst einmal Spanisch und Englisch beibringen.

Angenommen, wir beide dringen dank einer unschlagbaren Waffe mit Gewalt in ein Dorf ein und machen uns dort zu Herrschern über die Dorfbewohner. Wir haben zwei Alternativen:
a) Wir investieren endlos viel Zeit und Mühe zu investieren, um die Dorfbewohner Deutsch zu lehren, bis sie von allen so perfekt beherrscht wird, daß wir ihnen ihre Muttersprache verbieten können.
b) Wir investieren unsere Zeit dazu, die Sprache der Dorfbewohner zu lernen. (Wir können uns dann immer noch zu zweit auf Deutsch verständigen, das die Dorfbewohner nicht verstehen.)


In einer Gesellschaft ohne zentrales Schulwesen, ohne Zeitungen, Radio und Fernsehen kann ich mir nicht vorstellen, warum die breite Bevölkerung eine fremde Sprache übernehmen sollte, ohne daß mit anhaltender und drakonischer Gewalt nachgeholfen würde.

Um ein Volk zum Erlernen einer neuen Sprache zu zwingen, ist ein zentrales Schulsystem und drakonische Gewalt (zumindest deren wirksame Androhung) erforderlich.

Die in der wave-of-advance-Theorie vorgeschlagene Übernahme der Sprache eines technisch überlegenen Volkes hätte aber in einem steinzeitlichen Szenario stattfinden müssen, also unter Analphabeten mit wenig oder ganz ohne zentrale Führung. Dies könnte ich mir dann noch vorstellen, wenn eine weit größere Menge von Ackerbauern eingefallen wäre,

Du hast das Szenario der wave-of-advance-Theorie anscheinend ziemlich mißverstanden. Vielleicht schaust Du Dir noch einmal den Eingangsbeitrag und die Beiträge meiner Vorredner an. Ich will es selber auch noch einmal versuchen:
Überall da, wo eine kleine Gruppe von Ackerbauern in das (extrem dünn besiedelte) Gebiet bisheriger Sammler-und-Jäger-Gruppen vorstößt, vermehrt sich die Einwanderergruppe binnen kurzer Zeit so stark, daß die Sammler und Jäger entweder verdrängt werden oder selber mit dem Ackerbau beginnen - und sich dann natürlich selber vermehren, wobei der Bevölkerungsüberschuß wiederum in neue Gebiete bisheriger Sammler und Jäger vordringt, wo sich das Spiel wiederholt...
 
Die Gewalt bestand vornehmlich in der physischen Ausrottung indigener Völker. Gegen die Sprachen als solche haben die Eroberer jahrhundertelang meines Wissens kaum etwas unternommen. Warum auch?
...
Du hast das Szenario der wave-of-advance-Theorie anscheinend ziemlich mißverstanden. Vielleicht schaust Du Dir noch einmal den Eingangsbeitrag und die Beiträge meiner Vorredner an. Ich will es selber auch noch einmal versuchen:
Überall da, wo eine kleine Gruppe von Ackerbauern in das (extrem dünn besiedelte) Gebiet bisheriger Sammler-und-Jäger-Gruppen vorstößt, vermehrt sich die Einwanderergruppe binnen kurzer Zeit so stark, daß die Sammler und Jäger entweder verdrängt werden oder selber mit dem Ackerbau beginnen - und sich dann natürlich selber vermehren, wobei der Bevölkerungsüberschuß wiederum in neue Gebiete bisheriger Sammler und Jäger vordringt, wo sich das Spiel wiederholt...


Beides läuft doch darauf hinaus, daß die vorhandene, unterlegene Bevölkerung durch eine neue, überlegene ausgetauscht wird. Ob dazu die Bevölkerung totgeschlagen, vertrieben oder schlicht mit großer Überzahl mayorisiert wird, läuft im Ergebnis auf dasselbe raus, wobei im letzteren Falle noch genetische und evtl. auch kulturelle Spuren verbleiben. Das Ausmaß der kulturellen Spuren wird davon abhängen, wie tolerant die Mayoritätsbevölkerung der indigenen Kultur gegenüber ist.

Ganz so ist das in Lateinamerika nicht gelaufen, im Gegensatz zu Nordamerika. Während die USAner die einheimische Urbevölkerung beinahe vollständig verdrängt haben (weitgehend durch Ausrottung), besteht die Bevölkerung der meisten lateinamerikanischen Länder vorwiegend aus Nachfahren der Urbevölkerung. Das ist auch klar zu sehen, wenn man einfach mal die Gesichter auf den Straßen verschiedener Großstädte vergleicht. Das Ausmaß, in dem die heimischen Sprachen bei den Nachfahren der Urbevölkerung durch europäische Sprachen ersetzt wurde, scheint aber doch recht unterschiedlich zu sein. Es finden sich natürlich auch in den jeweiligen landestypischen Varianten etwa des Spanischen unterschiedliche Einflüsse der indigenen Sprachen und im Falle von Mexiko auch des Englischen.
 
Beides läuft doch darauf hinaus, daß die vorhandene, unterlegene Bevölkerung durch eine neue, überlegene ausgetauscht wird.

Wieso "ausgetauscht"? Sie paßt sich früher oder später an die Mehrheit an. Je weiter sich die Landwirtschaft ausbreitet, desto geringer wird an den Rändern der genetische Anteil der ursprünglichen Bauernbevölkerung. In jeder Generation breitet sich die ackerbautreibende Bevölkerung weiter aus, in jeder Generation kommt ein weiterer kleiner Anteil der benachbarten Jäger-und-Sammler-Bevölkerung hinzu, während der Nachschub aus dem ursprünglichen Zentrum ausbleibt. Nach zweitausend Jahren ist an den Rändern der genetische Anteil der Jäger-und-Sammler-Bevölkerung höher als der der ursprünglichen Bauern.


Das Ausmaß der kulturellen Spuren wird davon abhängen, wie tolerant die Mayoritätsbevölkerung der indigenen Kultur gegenüber ist.

Das ist recht einfach zu beantworten: Eine ackerbautreibende Bevölkerung, die Feldfrüchte anbaut, kann keine Sammlerkultur in ihrer Mitte tolerieren, die nach ihrer kulturellen Tradition die Feldfrüchte dann einfach aberntet.


Ganz so ist das in Lateinamerika nicht gelaufen, im Gegensatz zu Nordamerika. Während die USAner die einheimische Urbevölkerung beinahe vollständig verdrängt haben (weitgehend durch Ausrottung), besteht die Bevölkerung der meisten lateinamerikanischen Länder vorwiegend aus Nachfahren der Urbevölkerung.
Das ist unterschiedlich. In einigen Regionen Lateinamerikas hat es eine beträchtliche Einwanderung aus Europa gegeben, dazu wurden Sklaven aus Afrika im großen Stil importiert - also eine freiwillige oder erzwungene Zuwanderung im selben Maß wie in den USA.
In den Staaten, wo das nicht im selben Maß der Fall war, treffen wir auch heute noch vor allem im ländlichen Raum Sprecher von Indianersprachen an. Das Quechua, die Sprache der Inka, wird auf ca. 10 Millionen Sprecher beziffert, und sogar das Nahuatl, die Sprache der Azteken, wird heute noch von immerhin 1,5 Millionen Menschen gesprochen.



Es finden sich natürlich auch in den jeweiligen landestypischen Varianten etwa des Spanischen unterschiedliche Einflüsse der indigenen Sprachen
Diese Einflüsse würde ich nicht überschätzen. Das Spanische ist, gemessen an seiner immensen geographischen Ausbreitung, doch relativ einheitlich; der Einfluß der indigenen Sprachen ist eher zu vernachlässigen. Es gibt ihn zwar zweifellos, doch den gibt es auch im Deutschen, das etliche Wörter aus dem Nahuatl aufgenommen hat: tomatl (Tomate), ahuacatl (Avocado), xocolatl (Schokolade), coyotl (Kojote)...
 
Um noch einmal dem Vorurteil, die "Eroberer" hätten durch gewaltsame Unterdrückung der indigenen Sprachen ihre Sprache durchgesetzt, entgegenzuwirken, zitiere ich die Entwicklung in Mexiko nach Wikipedia:

Nach der Conquista wurde zunächst noch das Nahuatl als Missionssprache bevorzugt und so - in begrenztem Maße - weiterverbreitet. Gestützt wurde dies durch einen Erlass Philipps II. von Spanien von 1570, Nahuatl zur offiziellen Sprache in Neuspanien für die Kommunikation zwischen Weißen und Indigenen zu machen. Über ein Jahrhundert später, 1696, erließ Karl II. von Spanien ein Dekret, dass allein Spanisch die Amtssprache im spanischen Kolonialreich zu sein habe.

Der beschleunigte Niedergang der indigenen Sprachen begann jedoch erst nach der Unabhängigkeit Mexikos, als die herrschenden Kreolen ihre Sprache, das Spanische, als Amtssprache durchsetzten. So sollen 1820 noch etwa 60% der Bevölkerung indigene Sprachen gesprochen haben, während 1889 der Anteil nach Angaben des Geografen Antonio García Cubas bereits auf 38% gefallen war. Die Volkszählung von 2000 ergab einen Anteil von nurmehr 7,1%.
Indigene Sprachen in Mexiko ? Wikipedia
 
Wieso "ausgetauscht"? Sie paßt sich früher oder später an die Mehrheit an. Je weiter sich die Landwirtschaft ausbreitet, desto geringer wird an den Rändern der genetische Anteil der ursprünglichen Bauernbevölkerung. In jeder Generation breitet sich die ackerbautreibende Bevölkerung weiter aus, in jeder Generation kommt ein weiterer kleiner Anteil der benachbarten Jäger-und-Sammler-Bevölkerung hinzu, während der Nachschub aus dem ursprünglichen Zentrum ausbleibt. Nach zweitausend Jahren ist an den Rändern der genetische Anteil der Jäger-und-Sammler-Bevölkerung höher als der der ursprünglichen Bauern.

Wenn man davon ausgeht, daß die Ackerbau treibende Neubevölkerung eine höhere effektive Reproduktionsrate hat (also inkl. Kindersterblichkeit und ähnlicher Effekte), während sie der indigenen Jäger- und Sammlerbevölkerung den Raum nimmt, müßte doch die indigene Bevölkerung schon durch diesen Effekt im Zeitverlauf einen immer geringeren Anteil an der Gesamtbevölkerung stellen. Ein Siedlungsraum hat für gewöhnlich natürliche Grenzen. Die Menschen überwinden dann entweder diese Grenzen und erreichen vielleicht einen noch menschenleeren oder ebenfalls von Jägern und Sammlern besidelten Raum, oder sie sterben mangels Existenzgrundlage aus. Das gilt soweit für die Jäger und Sammler, die nicht freiwillig oder gezungen Mitglieder Neubevölkerung werden. Diejenigen, die sich den Spielregeln der Neubevölkerung unterwerfen, bringen ihre Gene in den Genpool dieser Bevölkerung ein.

... Eine ackerbautreibende Bevölkerung, die Feldfrüchte anbaut, kann keine Sammlerkultur in ihrer Mitte tolerieren, die nach ihrer kulturellen Tradition die Feldfrüchte dann einfach aberntet. ...

Die Frage der Toleranz stellt sich nicht nur hinsichtlich des Kaluens von Feldfrüchten und des Elegens von Weidetieren. Eine soweitgehende Toleranz wird selten sein. Oft ist es aber doch so, daß schlicht Rassismus die als minderwertig empfundene indigene Bevölkerung von der Aufnahme in die Neubevölkerung ausschließt. Ohne ein gewisses Maß an Rassismus wird es auch schwierig sein, nachts gut zu schlafen, wenn man seine Lebensgrundlage dadurch geschaffen hat, anderen Menschen ihre Lebensgrundlage zu zerstören.


Das ist unterschiedlich. In einigen Regionen Lateinamerikas hat es eine beträchtliche Einwanderung aus Europa gegeben, dazu wurden Sklaven aus Afrika im großen Stil importiert - also eine freiwillige oder erzwungene Zuwanderung im selben Maß wie in den USA.

Nach meiner Kenntnis gelten nur etwa 10% der USAnischen Bevölkerung als "schwarz" (einschließlich Mischlingen) und rund 13% als spanische Muttersprachler (Zahlen aus der Erinnerung und von vor locker 20 Jahren). Wikipedia gibt 74% Weiße an und das Latinos davon getrennt geführt werden. Die weiße Bevölkerung stellt also eine überwältigende Mehrheit. Ich treffe andererseits selten Leute aus Lateinamerika, denen man die Rassendruchmischung nicht ansähe.

Dazu Wikipedia zur mexikanischen Bevölkerungsstruktur:
"Die Bevölkerung setzt sich zusammen aus 60 % Mestizen, 30 % indigenen Völkern (nach anderen Angaben 13 % beziehungsweise 7 %, unter anderem Maya und Nahua, Nachkommen der Azteken) und etwa 9 % Europäischstämmigen (meist Spanier). Das übrige 1 % Prozent bilden Bevölkerungsgruppen anderer Abstammung (größtenteils aus Afrika)."

Das Bild in Brasilien ist wieder ganz anders, Wikipedia dazu:
"Nach einer Erhebung des IBGE im Jahre 2005 bezeichnen sich rund 49,9 % der Brasilianer selbst als Weiße, 43,2 als Mischlinge (pardo) und 6,3 % als Schwarze, 0,7 % als Gelbe oder Indigene."

In den Staaten, wo das nicht im selben Maß der Fall war, treffen wir auch heute noch vor allem im ländlichen Raum Sprecher von Indianersprachen an. Das Quechua, die Sprache der Inka, wird auf ca. 10 Millionen Sprecher beziffert, und sogar das Nahuatl, die Sprache der Azteken, wird heute noch von immerhin 1,5 Millionen Menschen gesprochen.

Das Spanische ist, gemessen an seiner immensen geographischen Ausbreitung, doch relativ einheitlich; der Einfluß der indigenen Sprachen ist eher zu vernachlässigen. ...

Stimmt. Das liegt aber auch stark am ordnenden Einfluß der Real Academia Española, in der ja alle (vermutlich gibt es auch hierzu irgendwelche Ausnahmen) spanischsprachigen Länder Sitz und Stimme haben und womöglich noch mehr daran, daß die Mannschaften der Schiffe in Andalusien und auf den Kanaren ausgehoben wurden, wo man nuneinmal den andalusischen Dialekt spricht.

Es bleibt aber bei aller Einheitlichkeit des Schriftspanischen festzuhalten, daß man weißen USAnern nicht anhört, welche Indianer dereinst in dem heute von diesen Leuten bewohnten Gebieten lebten. Man unterscheidet ja gerade mal zwischen East Coast, Mid-Western, West-Coast und Southern, was die Weißen betrifft und Black als einheitlichem Dialekt, was die Schwarzen und Mischlinge betrifft. In Lateinamerika hört man dagegen viele verschiedene Dialektfärbungen, die jeweils etwas mit dem dortigen Bevölkerungsmix und der jeweiligen Urbevölkerung zu tun haben.
 
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