Kulturelle Entwicklung während der letzten 100 Jahre

Bernino

Mitglied
Hallo,

mich interessiert, wie sich Mensch und Gesellschaft während der letzten 100 Jahre entwickelt haben, besonders auch auf der intellektuellen und wissenschaftlichen Ebene (auch als Antisemitismus).

Bei dem bis heute hochangesehenen Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt (1818-1897) heißt es etwa in dem Buch "Weltgeschichtliche Betrachtungen" (Wiesbaden 2009):
„Der lange Friede bringt nicht nur Entnervung hervor, sondern er lässt das Entstehen einer Menge jämmerlicher, angstvoller Notexistenzen zu, welche ohne ihn nicht entständen und sich dann doch mit lautem Geschrei um 'Recht' irgendwie an das Dasein klammern, den wahren Kräften den Platz vorwegnehmen und die Luft verdicken, im Ganzen auch das Geblüt der Nation verunedeln. Der Krieg bringt wieder die wahren Kräfte zu Ehren. Jene Notexistenzen bringt er wenigstens vielleicht zum Schweigen“ (S. 197).
Kurz vor dieser Stelle ist die Aussage zu finden:
„ein Volk lernt wirklich seine volle Nationalkraft nur im Kriege, im vergleichenden Kampf gegen andere Völker kennen, weil sie nur dann vorhanden ist; auf diesem Punkt wird es dann suchen müssen, sie festzuhalten;" (S. 196)
Sowie:
[...] die Kriege reinigten die Atmosphäre wie Gewitterstürme, stärkten die Nerven, erschütterten die Gemüter, stellten die heroischen Tugenden her, auf welche ursprünglich die Staaten gegründet gewesen seien, gegenüber Entnervung, Falschheit und Feigheit. Denken wir hier vollends auch an H. Leos Wort vom 'frischen und fröhlichen Krieg, der das skrofulöse Gesindel wegfegen soll'.“ (S. 197).
Der Aussage, dass "Kriege die Atmosphäre wie Gewitterstürme reinigten", bin ich gerade wieder begegnet, und zwar in der ZDF-Dokumentation "Weltenbrand" von Guido Knopp. Der Hitler-Biograph Ian Kershaw sagte dort zu der Auslösung des 1. Weltkrieges, dass alle annahmen, der gerade ausgelöste Krieg "werde so etwas wie eine reinigende Wirkung auf Europa haben".

Kennt jemand mehr Belege oder Hinweise für die Kriegsbegeisterung in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen zu dieser Zeit, oder heutige Studien, die sich mit dieser Problematik beschäftigen?

Viele Grüße
Bernino
 
Der Hitler-Biograph Ian Kershaw sagte dort zu der Auslösung des 1. Weltkrieges, dass alle annahmen, der gerade ausgelöste Krieg "werde so etwas wie eine reinigende Wirkung auf Europa haben".

Das Thema der kulturellen Entwicklung auf die Rolle von Kriegen zu verengen, ist schon irritierend. :grübel:Irgendwie gabs da doch bei der kulturellen Entwicklung noch ein wenig mehr wie Kriege. :S

Die Vorstellung, die Kershaw formuliert hat, auch bei Barbara Tuchmann zu finden (Der stolze Turm & August 1914), bezog sich auf die verkrustete politische Situation vor 1914. Man hoffte, dass der Krieg Friktionen mit sich bringen würde, die die autokratischen Regime der Mittelmächte hinwegfegt und zu einer Demokratisierung der einzelnen Nationen beiträgt.

Das ist kein versteckter Hinweis auf E. Jünger, den Kershaw formuliert.

Und man hoffte dann auf einen politischen, sozialen und natürlich auch kulturellen Frühling.
 
Kennt jemand mehr Belege oder Hinweise für die Kriegsbegeisterung in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen zu dieser Zeit,
z.B. Thomas Mann "Betrachtungen eines Unpolitischen"*) - aber wie Thanepower sehr richtig ausgeführt hat, ist die Kriegsbegeisterung kurz vor und zu Beginn des Ersten Weltkriegs nicht gerade eine "kulturelle Errungenschaft" :winke:

______________
*) freilich soll nicht unerwähnt bleiben, dass Thomas Mann diese Haltung nach dem Ersten Weltkrieg abstreifte und z.B. im letzten Viertel des Romans der Zauberberg vehement verspottet.
 
Vielen Dank für die Antworten und Infos.

Das Thema der kulturellen Entwicklung auf die Rolle von Kriegen zu verengen, ist schon irritierend. :grübel:Irgendwie gabs da doch bei der kulturellen Entwicklung noch ein wenig mehr wie Kriege. :S

Ich möchte die kulturelle Entwicklung nicht auf die Weltkriege verengen. Natürlich hat es auch daneben, etwa mit den ganzen technischen, medizinischen aber auch sozialen Fortschritten eine kulturelle Entwicklung gegeben. Doch ich meine, gerade deswegen stellt sich die Frage nach der Ursache dieser Kriege.

Warum ging die kulturelle Entwicklung nicht so vonstatten, dass diese beiden Katastrophen mit ihren ca. 60 Millionen Toten hätten verhindert werden können? Von daher finde ich es eher irritierend, nicht nach den tieferen Ursachen dieser Kriege zu fragen. Wenn ich das Abschlachten in den beiden Weltkriegen oder die Vernichtung ganzer Völker in den Gaskammern sehe, frage ich mich zumindest, wie so etwas in einer Kulturnation möglich war.

Erst recht hat sich mir diese Frage gestellt, als ich die zitierten Aussagen des bis heute hoch angesehenen Gelehrten Burckhardt gelesen habe. Wie kommt er zu diesen Aussagen? War das nur ein Einzelfall, oder entsprach diese Gesinnung in weiten Bereichen auch in der Wissenschaft dem damaligen Zeitgeist? Dann würde sich erst recht die Frage nach den tieferen Ursachen stellen.
 
Wenn man sich näher mit der politischen Seite des Historikers Burckhardt beschäftigt, sieht man schon seine antisemitische Denkweise, er war aber auch antiliberal und antidemokratisch. Der Grundsatz dass ein Mensch frei und gleich geboren sei, galt für ihn nicht. Sein Weltbild war Eurozentrisch und geprägt von Vorurteilen, sei es gegenüber den Asiaten, Indianer oder eben Juden.

Er schrieb einem Freund: " Er fühle sich prächtig, weil kein "Berliner Jud" und nichts von odiosen Kerlen, seine Musse störe".

Mit dieser Denkweise war Burckhardt zu seiner Zeit nicht alleine, er glaubte wie viele Zeitgenossen auch, dass es typisch jüdische Nationaleigenschaften und spezielle jüdische Physiognomie gebe.

Diese Denkweise hat mit der Emanzipation der Juden im 19. Jahrhundert zu tun, ebenso war ihm wie schon erwähnt die liberale Bewegung und die Demokratie nicht geheuer. Er hoffte nach dem Abschluss der Emanzipation, in der Schweiz war das 1874, dass dies nur vorübergehend ist und diese bald wieder aufgehoben würde.

Burckhardt hat aber nie ein antijüdisches Pamphlet geschrieben, man kann ihn aber schon zur akademischen Trägerschaft der Judenfeindschaft zählen. Wobei ihn der Schweizer Historiker Aram Mattioli als "Salonantisemit" bezeichnet, was wohl am ehesten zutrifft.

Quelle: Wolfgang Benz (Hrsg.) Handbauch des Antisemitismus. Judenfeindschaft in Geschichte und Gegenwart. Band 2/1. Personen A - K. S. 113 - 114

Zum Weiterlesen:
Aram Mattioli: Jacob Burckhardt und die Grenzen der Humanität. Bibliothek der Provinz, Weitra 2001.


Heiko Haumann: Wir waren alle ein kleinwenig antisemitsch. Ein Versuch über historische Massstäbe zur Beurteilung von Judengegnerschaft an den Beispielen Karl von Rotteck und Jacob Burckhardt. In Schweizerische Zeitschrift für Geschichte 2005 Band 55. S. 196 - 214
 
Zuletzt bearbeitet:
Kennt jemand mehr Belege oder Hinweise für die Kriegsbegeisterung in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen zu dieser Zeit, oder heutige Studien, die sich mit dieser Problematik beschäftigen?

Kurt Flasch: Die geistige Mobilmachung. Die deutschen Intellektuellen und der Erste Weltkrieg. Alexander Fest Verlag 2000.

Thematisch verwandt:

Modris Eksteins: Tanz über Gräben. Die Geburt der Moderne und der Erste Weltkrieg. Rowohlt Verlag 1990.

Als zeitgenössisch-satirische Auseinandersetzung mit der Kriegsbegeisterung im Ersten Weltkrieg empfielt sich z.B. das Drama "Die letzten Tage der Menschheit" von Karl Kraus, in das der Autor eine Fülle von Originalzitaten eingebaut hat.
 
Warum ging die kulturelle Entwicklung nicht so vonstatten, dass diese beiden Katastrophen mit ihren ca. 60 Millionen Toten hätten verhindert werden können? [...] Wenn ich das Abschlachten in den beiden Weltkriegen oder die Vernichtung ganzer Völker in den Gaskammern sehe, frage ich mich zumindest, wie so etwas in einer Kulturnation möglich war.

Hallo Bernino,

vielleicht verwechselst Du eine hohe Kultur oder eine "Kulturnation" mit einem hohen Maß an Mitmenschlichkeit bzw. mit einer von Mitmenschlichkeit durchdrungenen Nation.

Wenn ich zu Deiner Fragestellung hier Deine Aussagen aus dem Mitgliedervorstellungs-thread vergleichend heranziehe, wo Du von der "Evolution des Menschen" sprichst und von der These, dass der Mensch sich noch im "Tier-Mensch-Übergangsfeld" befindet und das "wahre Mensch-Sein" noch nicht erreicht hat, dann ergibt sich für mich das Bild, dass Du eine These vom unaufhörlichen kulturellen Fortschritts des Menschen vertrittst. Da passen die Weltkriegs-Katastrophen der jüngeren Geschichte nicht gut hinein (da die Menschheit doch sonst kulturell schon so weit gekommen ist). Also suchst Du nach Ursachen und Gründen für diese Kriege, die Du in Deine These integrieren kannst. Vielleicht musst Du stattdessen aber Deine These von Grund auf hinterfragen. Denn der Begriff Evolution stammt ja bekanntlich aus der Biologie; und ich weiß nicht, ob es nützlich und stringent ist, ihn auf die menschliche Kultur usw. zu übertragen.

Selbst falls es so etwas wie einen stetigen kulturellen Fortschritt i. d. Menschheitsgeschichte geben sollte, heißt das doch noch nicht, dass auch die menschliche Ethik od. Moral sich stets vom Schlechteren zum Besseren wandelt (und deshalb die beiden erst "vor kurzem" stattgefundenen Weltkriege eigentlich doch hätte verhindern müssen). Mal ganz plakativ: Meine These ist, dass es zu allen Zeiten "gute" und "böse" Menschen gab bzw. zu allen Zeiten in jedem einzelnen Menschen "Gutes" und "Böses" miteinander gerungen hat. Meiner Meinung nach muss man sich in diesem Punkte von einem "Fortschrittsglauben" verabschieden.

Jetzt hab ich Dir, Bernino, natürlich unfairerweise eine ganze Menge Zeugs in den Mund gelegt. Du darfst mich aber korrigieren; bzw. musst Du mich an manchen Punkten wohl sogar korrigieren - so hoffe ich.
 
Zum Weiterlesen:
Aram Mattioli: Jacob Burckhardt und die Grenzen der Humanität. Bibliothek der Provinz, Weitra 2001.

Vielen Dank für die Infos zu Burckhardts Antisemitismus. In seinen Werk "Weltgeschichtliche Betrachtungen" war davon nicht viel enthalten, dafür aber eben andere, mit dem Antisemitismus verwandte Ansichten.
Den Essay von Mattioli habe ich gelesen und fand dabei folgende Aussage von Mattioli zu Werner Kaegi, dem "führenden Biographen von Burckhardt":
Werner Kaegis apodiktisches Verdikt steckte eine hermetisch gesicherte Tabuzone in der Burckhardt-Forschung ab. Unliebsame Neuinterpretationen in diesem Bereich wurden von ihm gleich vorsorglich mit einem hohepriesterlichen Bannstrahl belegt. Seit den frühen 1960er Jahren mussten Wissenschaftler, die sich auf dieses Forschungsfeld begaben, mit dem vernichtenden Vorwurf rechnen, das Spiel der nationalsozialistischen «Fälscher» zu spielen. All dies unterstreicht nur eins: Die ältere Forschung besaß kein wirkliches Interesse daran, wissenschaftliches Licht in das Dunkel des Burckhardtschen Antisemitismus dringen zu lassen. Bezeichnenderweise wurden in ihr die als «peinlich» bezeichneten Äußerungen nie systematisch zusammengestellt und nur ganz ausnahmsweise im Wortlaut zitiert, so dass sich die interessierte Öffentlichkeit gar kein Bild über die Problemlage machen konnte. Stattdessen stößt man in ihr immer wieder auf mindestens sieben Beschönigungsargumente (S.52-53).
Mattioli fordert im Falle Burckhardt:
Freilich wirft diese Feststellung die grundsätzliche Frage auf, wie die Wissenschaft und Nachwelt denn angemessen mit Anrüchigem und Schäbigem in Leben und Werk unserer Geistesgrößen umzugehen hätten. Nicht-wahr-haben-wollen und schönreden kann die Antwort ebenso wenig lauten wie denunzieren und verurteilen. Sowohl das Pantheon als auch das Weltgericht haben als Orte der Auseinandersetzung ausgedient. Wissenschaftlich vertretbar ist wohl nur ein Ansatz der konsequenten Historisierung; einer Historisierung, die keine Tabuzonen mehr zulässt und alles schonungslos, zugleich aber fundiert und nuanciert benennt. Licht- und Schattenseiten müssen nicht gegeneinander verrechnet, sondern als konstitutive Bestandteile ein- und derselben Lebensleistung gewürdigt werden. Alle überlieferten Aussagen sind stets auf ihren systematischen Stellenwert hin zu befragen und im Kontext ihrer Zeit zu deuten. Hilfreich wäre manchmal schon, wenn man auch bei «Genies» mehr menschliches Normalmaß vermuten und auch zulassen würde. Menschen sind nie aus einem Guss, und Hommes de lettres schon gar nicht. Historisierung heißt auch, diese Ambivalenz aushalten und menschliches Leben in seiner Widersprüchlichkeit sehen zu lernen (S. 62-63).
Mittlerweile interessiert mich Buckhardt aus zweierlei Gründen: Erstens wie die Intellektuellen im 19. Jahrhundert gedacht und gelehrt haben. Zweitens das heutige Verständnis von Burckhardt, bei dem, wie Mattioli es kritisiert, viele Aspekte seiner Gesinnung einfach ignoriert und beschönigt werden.

Zu dem Letzteren ist mir noch eine Aussage des Historikers und Archäologen Ian Morris eingefallen. Er sagte in seinem Buch "Wer regiert die Welt":
Um Leute - im Sinne der männlichen Vertreter der Oberschicht - ging es lange in den Geschichten, die Historiker erzählt haben. So beherrschend waren sie in diesen Erzählungen, dass man Geschichte und Biographie kaum noch auseinanderhalten konnte. Das änderte sich im 20. Jahrhundert, als auch aus Frauen, weniger bedeutenden oder betuchten Männern und Kindern respektable Leute wurden, dern Stimme ebenfalls Gewicht hatte, aber ich will in diesem Buch noch weiter gehen." S. 37-38)
Im Fall Buckhardt, als einem männlichen Vertreter der Oberschicht, drängt sich mir fast der Verdacht auf, dass die von Morris beschriebene Sicht auch im 20. Jahrhundert noch nicht ganz überwunden ist.
 
Wenn du die Denkweise von Menschen im 19. Jahrhundert genauer überprüfen möchtest, dann solltest du dies immer im Kontext der damaligen Zeit tun.


Im 19. Jahrhundert war der Antisemitismus in Europa weit verbreitet.

Ich zitiere aus einem Beitrag von mir:

1866 gewährte der Souverän bei der Abstimmung über die Revision der Bundesverfassung die Niederlassungsfreiheit und die Gleichstellung vor dem Gesetz auch für Juden. Es waren aber immer noch 46,8% dagegen. Auch Schweizerpersönlichkeiten wie zum Beispiel Albert Bitzius, besser bekannt unter dem Namen Jeremias Gotthelf äusserten sich gegen die Juden. Von Gotthelf sind folgende Zeilen aus dem Jahr 1821 erhalten geblieben: „Die Kerls sind wie die Fliegen; man mag sie noch so derb treffen, wenn man sie nicht gerade totschlägt, so kommen sie immer wieder.“ Gotthelf war auch in älteren Jahren ein bekennender Judenhasser. Dazu muss man nur Ueli der Pächter lesen, dann kann man das sehr gut erkennen.
1873 wurden im Zusammenhang mit der Wirtschaftskrise eine grosse Anzahl von antisemitischen Schriften in den Umlauf gebracht, nicht nur in der Schweiz, sondern in ganz Europa. Jetzt kamen die rassenbiologischen Thesen auf. In der Schweiz gab es eine heftige Diskussion um den staatlichen Rückkauf der privaten Eisenbahnen, hier wurden ebenfalls die Juden als „Sündenböcke“ hingestellt. Was man dabei aber ausser Acht lies. Keiner der Geschäftsleute die in diese Affäre involviert waren, waren Juden. 1893 wurde das Schächteverbot eingeführt, damit wollte man die Einwanderer aus dem Osten abschrecken. Eigentlich wollten aber die Initianten die Gleichstellung von 1866 aufheben.
1897 fand in Basel unter der Führung von Theodor Herzl der Erste Zionistenkongress statt. Der Kongress wurde in der Schweiz gut aufgenommen. Es gab zwar auch antisemitische Reaktionen und Stimmen die hinter dem Kongress eine Verschwörung sahen. Diese Stimmen waren aber nur vereinzelt wahrzunehmen.

http://www.geschichtsforum.de/f73/einf-hrung-die-j-dische-geschichte-der-schweiz-38807/

Wenn du dir den Kontext anschaust, dann erkennst du schon dass der moderne Antisemitismus seit ca. 1848 entstanden ist. Grund dafür war, wie ich schon erwähnt habe das gesellschaftliche Reformprojekt der jüdischen Emanzipation. Mit dieser Emanzipation fühlten sich vor allem die sozialkonservativen Kreise bedroht. Diese Kreise sahen in den Juden das Symbol der kapitalistischen Gesellschaft, die ja in der Konkurrenz zu ihrer stand.

Sein Denkmuster war aber nicht aussergewöhnlich für seine Zeit, Aram Mattioli schreibt ja: "Immerhin glaubte er Juden allein schon aufgrund physischer Merkmale und bestimmter Nationaleigenschaften identifizieren zu können. In dieser Hinsicht war er ein sehr typischer Gelehrter seiner Zeit." 1

Was man aber Burckhardt nicht unterstellen sollte, er war kein Rassentheoretiker und kein antisemitischer Agitator. 2

Was kritisiert nun Mattioli genau? Er kritisiert die Forschung, die bis heute Burckhardt Werke nicht nach der heutigen Methodendiskussion bewertet haben. Seine Essays sind ein Beitrag dazu

1 Aram Mattioli: Jacob Burckhardt Antisemitismus: eine Neuinterpretation aus mentalitätsgeschichtlicher Sicht. In Schweizerische Zeitschrift für Geschichte. Band 49. 1999 S. 528

2 Ebd.
 
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Hallo michaell,
vielen Dank für die Literaturhinweise, sie hören sich sehr gut an.



Jetzt hab ich Dir, Bernino, natürlich unfairerweise eine ganze Menge Zeugs in den Mund gelegt. Du darfst mich aber korrigieren; bzw. musst Du mich an manchen Punkten wohl sogar korrigieren - so hoffe ich.



Hallo buschhons,
ja, ich möchte einiges korrigieren, aber auch bestätigen. Ich versuche tatsächlich, wie in meiner Vorstellung geäußert, geschichtliche Ereignisse letztendlich vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie zu sehen. Ich möchte es einmal mit Schiller begründen (obwohl der gar nichts von der Evolutionstheorie wusste, aber seine Aussage, finde ich, passt dennoch):
So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Nahmen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen. (Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, Stuttgart 2006, S. 24)
Als das philosophische System oder die Theorie, das oder die die Bruchstücke zu einem „vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ verkettet, kann meiner Meinung nach heute die Evolutionstheorie angesehen werden.

Was heißt z. B. das von Dir angeführte „Gut“ und „Böse“ vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie. Nehmen wir einmal den Fremdenhass oder Rassismus. Der ist heute „böse“. In einem evolutionärem Verständnis war das jedoch einmal eine „gute“ Verhaltensweise, nämlich zu der Zeit, als die Menschen noch als Jäger und Sammler in Kleingruppen lebten und auf ein bestimmtes Territorium angewiesen waren, das sie zum besseren Überleben stets gegenüber Nachbargruppen zu vergrößern oder zu verteidigen suchten. Diese innerartliche Aggression war unter den gegebenen Umständen genauso nützlich, wie sie es heute noch im Tierreich ist. Erst Werkzeuggebrauch, Technik und Handel erforderten hier ein anderes Verhalten zu den Nachbargruppen.

Interessant ist hierbei eine Stelle im Alten Testament, in der der alttestamentliche Gott praktisch den Völkermord gebietet, indem insbesondere bei den direkten Nachbarvölkern nicht nur „alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen“ werden sollen, wie bei den weiter entfernten Völkern, sondern die direkten Nachbarvölkern soll man gänzlich „der Vernichtung weihen“, „darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen“. (5. Buch Mose/Deuteronomium, Kapitel 20, Vers 13-17, Einheitsübersetzung).

Das war in evolutionärer Sicht ein Teil des natürlichen Verhaltens der Menschen, einfach nur um zu überleben. Erst mit dem Neuen Testament wurde dieses Verhalten korrigiert und an die geänderte Lebensweise angepasst. Ja, Du verstehst ganz richtig, ich sehe in einem dadurch einheitlichen Weltbild auch die Religion als Teil der Evolution in einem „vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ nach Schiller. Demnach ist auch die Ursache für die gesamte heutige Kriminalität nicht in einem übernatürlichen „Bösen“ zu suchen, sondern es sind ganz einfach unangepasste Verhaltensweisen, die noch aus der Zeit stammen, als das Recht des Stärkeren herrschte (und die als animalische Verhaltensweisen leider in unseren Genen verankert sind).

Im evolutionären Verständnis findet die Evolution ihren Fortgang im geistig-kulturellen Sein des Menschen. Was bedeutet etwa Demokratie im evolutionären Verständnis? Es heißt, dass der Problemlösungs- und Entwicklungsprozess nicht mehr durch körperliche Gewalt und über das Recht des Stärkeren geschieht, sondern er ist in einer Demokratie nur noch auf geistige Weise möglich. Das ist ein ganz entscheidender Fortschritt und Durchbruch in der weiteren geistig-kulturellen Entwicklung des Mensch-Seins.
Der nächste Schritt wäre, das auch auf globaler Ebene zu verwirklichen, denn dort herrscht bis heute noch des Recht des Stärkeren, und die militärische Art der Problemlösung ist als Recht des Stärkeren dabei dem animalischen Erbe des Menschen zuzurechnen.



Von daher ergibt sich mein Interesse an Intellektuellen wie Burckhardt. Burckhardt hat sowohl die Demokratie als auch „Erwerb und Verkehr“ nicht als Fortschritt, sondern im Gegenteil als Anzeichen einer großen Krise gesehen. („Allein im 18. Jahrhundert beginnt und seit 1815 eilt in gewaltigem Vorwärtsschreiten der großen Krisis zu die moderne Kultur. […] Es meldet sich die Idee der Volkssouveränität, und sodann beginnt das Weltalter des Erwerbs und Verkehrs, und diese Interessen halten sich mehr und mehr für das Weltbestimmende“ (S. 161-162). „Aus diesem allem entsteht die große Krisis des Staatsbegriffs, in welcher wir leben“ (S. 163))

Die Frage, die sich mir in einer evolutionären Perspektive beim kulturellen und sozialen Fortschritt der letzten 100 Jahre stellt: War Burckhardt nur ein Einzelfall oder war seine Gesinnung weit verbreitet? Der zweite Fall wäre eine Erklärung dafür, dass sich damit der weitere Fortschritt nur sozusagen auf animalische Weise der beiden Weltkriege hat Bahn brechen können. Anders ausgedrückt: Der weitere Fortschritt hätte auch nur auf der geistigen Ebene stattfinden können (wie etwa in den Ansichten von Kant und Schiller schon geschehen). Doch wenn die Unangepasstheit bestimmter menschlicher Verhaltensweisen nicht auf der geistigen Ebene umfassend und allgemein überwunden wird, dann offenbart sich die Unangepasstheit dieser Verhaltensweisen einfach in den Interaktionen zwischen den Menschen, sprich in den beiden Weltkriegen. Auf diese Weise wird dann deutlich, dass diese Verhaltensweisen (Rassismus, Nationalismus, Gewalt- und Kriegsverherrlichung) unter den heutigen Lebensumständen und -bedingungen unangepasst sind.

Insofern muss ich Dich hier korrigieren: Die beiden Weltkriege passen schon in ein evolutionäres Verständnis der stetigen oder unaufhörlichen Weiterentwicklung des Geistig-Kulturellen. Es ist ja niemand da, der diese Entwicklung steuert, d.h. es kommt auch immer wieder zu Rückschlägen oder Fehlentwicklungen.
 
Was man aber Burckhardt nicht unterstellen sollte, er war kein Rassentheoretiker und kein antisemitischer Agitator. 2

Das unterstelle ich ihm nicht. Kann man es Deiner Meinung nach so ausdrücken, dass Burckhardt mit an einem Nährboden gearbeitet hat, aus dem unter den besonderen Umständen der Zeit nach dem 1. Weltkrieg dann die Gaskammern hervorgegangen sind?

Denn natürlich muss man Burckhardt im Kontext seiner Zeit sehen, aber andererseits kann die Zeit von Burckhardt bzw. der gesamte vorangegangene Antisemitismus ja nicht vollkommen von den späteren Ereignissen getrennt gesehen werden, so als hätte das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Oder doch?
 
Kennt jemand mehr Belege oder Hinweise für die Kriegsbegeisterung in intellektuellen und wissenschaftlichen Kreisen zu dieser Zeit, oder heutige Studien, die sich mit dieser Problematik beschäftigen?

Wenn Du Deinen Fokus nicht nur auf Burckhardt richtest, sondern etwas ausweitest, dann ist für Dich vielleicht von Interesse, wie Albert Einstein seinen Pazifismus während des 1. Weltkrieges entwickelte, weitgehend isoliert von den ihn umgebenden Kollegen, die sich für den Krieg begeisterten oder gar engagierten - selbst Einstein war hier nicht frei von Widersprüchen - und wie weit sich diese Haltung aber auch erst ermöglichen ließ durch seine Sonderstellung als Jude mit Schweizer Staatsbürgerschaft.


Ich versuche tatsächlich, ... geschichtliche Ereignisse letztendlich vor dem Hintergrund der Evolutionstheorie zu sehen. Ich möchte es einmal mit Schiller begründen (obwohl der gar nichts von der Evolutionstheorie wusste, aber seine Aussage, finde ich, passt dennoch):
So würde denn unsre Weltgeschichte nie etwas anders als ein Aggregat von Bruchstücken werden, und nie den Nahmen einer Wissenschaft verdienen. Jetzt also kommt ihr der philosophische Verstand zu Hülfe, und, indem er diese Bruchstücke durch künstliche Bindungsglieder verkettet, erhebt er das Aggregat zum System, zu einem vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen. (Friedrich Schiller, „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte?“, Stuttgart 2006, S. 24)
Als das philosophische System oder die Theorie, das oder die die Bruchstücke zu einem „vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ verkettet, kann meiner Meinung nach heute die Evolutionstheorie angesehen werden.

Nein. Auf der einen Seite kann man Evolution nicht immer einfach nur mit Entwicklung gleichsetzen, auf der anderen Seite ist die Vorstellung, die Schiller am Beginn des 19. Jhs. von einer Entwicklung im historischen Sinne hatte, nicht eins zu eins in die heutige Zeit zu übernehmen.
Schiller fordert in seiner Antrittsvorlesung, daß der Hstoriker einen Sinn findet, und daß Bruchstücke durch Zusammenhänge verknüpft werden, das heißt, daß der Historiker nicht nur Fakten archiviert, sondern sie auch interpretiert. So weit, so gut. Menscheitsgeschichte ist aber keine mathematische Gleichung, die auf ein Ergebnis hin ausgerichtet, man kann nicht einfach aus der Gleichung 2 + x = 4 den Umkehrschluß 4 - 2 machen und den unbekannten Summanden erschließen.
Der Fehler hat sich im marxistischen Geschichtsbild gezeigt, nach der die Entwicklung innerhalb der gesellschaftlichen Klassen zu definieren wäre, und er zeigt sich auch heute - übrigens auch in Deinen Darstellungen - wenn man die Demokratie als die höchste Stufe der gesellschaftlichen und/oder kulturellen Entwicklung ansieht, wie es aus Deinen Sätzen - Zitat unten - anklingt.


Im evolutionären Verständnis findet die Evolution ihren Fortgang im geistig-kulturellen Sein des Menschen. Was bedeutet etwa Demokratie im evolutionären Verständnis? Es heißt, dass der Problemlösungs- und Entwicklungsprozess nicht mehr durch körperliche Gewalt und über das Recht des Stärkeren geschieht, sondern er ist in einer Demokratie nur noch auf geistige Weise möglich. Das ist ein ganz entscheidender Fortschritt und Durchbruch in der weiteren geistig-kulturellen Entwicklung des Mensch-Seins.
Der nächste Schritt wäre, das auch auf globaler Ebene zu verwirklichen, denn dort herrscht bis heute noch des Recht des Stärkeren, und die militärische Art der Problemlösung ist als Recht des Stärkeren dabei dem animalischen Erbe des Menschen zuzurechnen.

Und da zeigt sich eben der Unterschied zur Evolution. Die Evolution im biologischen Sinne ist folgerichtig, die menschliche Geschichte eben nicht.


Nehmen wir einmal den Fremdenhass oder Rassismus. Der ist heute „böse“. In einem evolutionärem Verständnis war das jedoch einmal eine „gute“ Verhaltensweise, nämlich zu der Zeit, als die Menschen noch als Jäger und Sammler in Kleingruppen lebten und auf ein bestimmtes Territorium angewiesen waren, das sie zum besseren Überleben stets gegenüber Nachbargruppen zu vergrößern oder zu verteidigen suchten. Diese innerartliche Aggression war unter den gegebenen Umständen genauso nützlich, wie sie es heute noch im Tierreich ist.

Es ist ein bischen zu pauschal, einfach solch komplexe Verhaltensmuster auf ein rudimentäres und vor allem nicht zu beweisendes Verhalten in der Vorgeschichte zu reduzieren. "Jäger und Sammler in Kleingruppen" mußten nicht stets ihr Territorium gegenüber Nachbargruppen verteidigen - ganz einfach aufgrund des Verhältnisses von Raum zur geringen Population - deshalb ja eben Kleingruppen. Wo es wirklich Spuren von Aggressivität gibt, ist es einerseits sehr schwer, diese ausführlich zu bergünden, und nahezu unmöglich, daraus ein allgemeines Verhaltensmuster für einen größeren Raum oder eine größere Zeitspann zu konstruieren.



Interessant ist hierbei eine Stelle im Alten Testament, in der der alttestamentliche Gott praktisch den Völkermord gebietet, indem insbesondere bei den direkten Nachbarvölkern nicht nur „alle männlichen Personen mit scharfem Schwert erschlagen“ werden sollen, wie bei den weiter entfernten Völkern, sondern die direkten Nachbarvölkern soll man gänzlich „der Vernichtung weihen“, „darfst du nichts, was Atem hat, am Leben lassen“. (5. Buch Mose/Deuteronomium, Kapitel 20, Vers 13-17, Einheitsübersetzung).

Das war in evolutionärer Sicht ein Teil des natürlichen Verhaltens der Menschen, einfach nur um zu überleben. Erst mit dem Neuen Testament wurde dieses Verhalten korrigiert und an die geänderte Lebensweise angepasst. Ja, Du verstehst ganz richtig, ich sehe in einem dadurch einheitlichen Weltbild auch die Religion als Teil der Evolution in einem „vernuftmäßig zusammenhängenden Ganzen“ nach Schiller.

Also, das Abschlachten ganzer Völker ist ein natürliches Verhalten, um zu überleben? Mich schauderts. Und das neue Testament ist dann ein evolutionärer Vorgang?
Mal ganz abgesehen davon, daß die zweitausend Jahre, die das Neue Testament alt ist, für die Evolution des Menschen viel zu kurz wären - ich bin mal großzügig und rechne eine Generation auf 25 Jahre, dann sind das seit der Zeitenwende 80 Generationen - es gab Überlegungen, wie man auch ohne Mord und Totschlag überleben kann, schon weit vorher.


Demnach ist auch die Ursache für die gesamte heutige Kriminalität nicht in einem übernatürlichen „Bösen“ zu suchen, sondern es sind ganz einfach unangepasste Verhaltensweisen, die noch aus der Zeit stammen, als das Recht des Stärkeren herrschte (und die als animalische Verhaltensweisen leider in unseren Genen verankert sind).

Lies Dir diesen Deinen Satz noch mal mit Ruhe und Abstand durch!

Und auch das folgende Zitat, denn die Argumentation ist unlogisch. Warum sie das ist, siehst Du am Gebrauch des Wortes Fehlentwicklung. Diese setzt voraus, daß es ein definiertes Ziel gibt, welches die Fehlentwicklung nicht erreicht. Und wer definiert dieses Ziel, wenn doch gar keiner steuert?


Insofern muss ich Dich hier korrigieren: Die beiden Weltkriege passen schon in ein evolutionäres Verständnis der stetigen oder unaufhörlichen Weiterentwicklung des Geistig-Kulturellen. Es ist ja niemand da, der diese Entwicklung steuert, d.h. es kommt auch immer wieder zu Rückschlägen oder Fehlentwicklungen.
 
Das unterstelle ich ihm nicht. Kann man es Deiner Meinung nach so ausdrücken, dass Burckhardt mit an einem Nährboden gearbeitet hat, aus dem unter den besonderen Umständen der Zeit nach dem 1. Weltkrieg dann die Gaskammern hervorgegangen sind?

Das ist viel zu einfach und erklärt nicht den Holocaust. Denn darauf laufen doch deine Fragen hinaus.

Seine Schriften wurden zwar von den NS-Ideologen verwendet, siehe Rosenberg der sich positiv auf Burckhardt bezogen hat, was aber nicht gleichbedeutet ist, dass Burckhardt ein Wegbereiter der NS-Ideologie war. Da gibt es ganz andere Intellektuelle die weitaus mehr dazu beigetragen haben. Die NS-Ideologen vereinamten Burckhardt auch nicht als Ahnherr ihrer Denkweise. Denn Burckhardt war nicht nur gegen eine Demokratie, das hätte ja wieder gepasst, sondern er war auch gegen eine Massenherrschaft und er kritisierte dies auch. So kritisierte er die Reichsgründung 1871 und war ein Gegner Bismarck und von Grossstaaten.

Burckhardt wurde im NS-Regime als einer der Grossen der europäischen Geistesgeschichte bezeichnet und auch wertgeschätzt. Sein Antisemitismus half da natürlich, ebenso seine Definition von Rasse. Er war antisemitsch Eingestellt und äusserte sich auch dazu, wenn auch nicht öffentlich, sondern nur in seiner Privatkorrespondenz. Ihn aber als Wegbereiter des Holocaust zu sehen finde ich dann doch zu hoch gegriffen.


Denn natürlich muss man Burckhardt im Kontext seiner Zeit sehen, aber andererseits kann die Zeit von Burckhardt bzw. der gesamte vorangegangene Antisemitismus ja nicht vollkommen von den späteren Ereignissen getrennt gesehen werden, so als hätte das eine mit dem anderen überhaupt nichts zu tun. Oder doch?

Dass es einen Weg vom Antijudaismus zum Antisemitismus hin zum modernen politischen Antisemitismus gibt und gab steht ausser Frage. Diese Entwicklung an einzelnen Personen aufzuhängen ist mir eben zu einfach.

Wie erklärst du dir dann den Antisemitismus und die damit verbunden Pogrome in Russland zu Zarenzeit? Auch dieser Kontext muss hier einfliessen und darf nicht losgelöst angesehen werden.
 
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@Bernino: Auch wenn ich mich persönlich mit Deiner "Geschichtsphilosophie" nicht in allem anfreunden kann, hast Du Dich super erklärt. Danke dafür. Wenn ich den "Horizont" Deines Beitrages ansehe, will ich Dir vor allem danken, dass Du meinem recht "beschränkten" Einwurf mit solcher Höflichkeit begegnet bist.
Was ich an hjwiens Überlegungen wichtig finde, ist, dass man die Menschen bspw. der Steinzeit aber auch der anderen Zeitalter nicht so pauschal in diese oder jene Schublade stecken sollte (auch wenn Du die Schubladen-Schildchen ganz wertfrei beschriftest). Denn welches Verhalten unter dieser oder jener Lebensbedingung das angemessene sei, wurde doch - so scheint mir - zu allen Zeiten von verschiedenen Menschen-Individuen unterschiedlich beurteilt. Es gab damals Gewalttätige und Friedfertige und es gibt heute Gewalttätige und Friedfertige. Und - worum es hier ja eigentlich jetzt geht - ich glaube nicht, dass die Gewalttätigen in der Steinzeit gegenüber den Friedfertigen einen generellen evolutionären Vorteil hatten, und glaube auch nicht, dass heute generell die Gewalttätigen einen evolutionären Nachteil haben. Aber das ist wohl Ansichtssache.

Habe übrigens gerade mal in einen Aufsatz namens "Geschichte als kulturelle Evolution" von Herbert Schnädelbach geguckt. Ist mir leider zu hoch; aber vielleicht ist er für Dich ja interessant - ist zu finden in: Rohbeck/ Nagl-Docekal: Geschichtsphilosophie und Kulturkritik, Darmstadt 2003.
 
@buschhons, ursi, hjwien
Mir fehlt leider momentan die Zeit, um im Einzelnen die Diskussion weiterzuführen, da ich für ca. eine Woche verreise.

Nur so viel ganz allgemein. Ich komme von der naturwissenschafltichen Seite her und merke, gerade im Fall Burckhardt, dass auch zwischen Naturwissenschaft und Geisteswissenschaft eine andere Kultur herscht. Aber wir leben in einer gemeinsamen Welt, darum sollte man zumindest versuchen, diese Differenzen zu überwinden.

Was an Burckhardt interessant ist: Er besaß ein völlig anderes Geschichtsverständnis und Weltbild als es heute der Fall ist. Das führt er in seinem Buch "Weltgeschichtliche Betrachtungen" bzw. seiner Vorlesungsreihe "Über das Studium der Geschichte" aus. Er besaß ein zyklisches Weltbild, hielt überhaupt nichts von Geschichtsphilosophie (ganz im Gegensatz zu Schiller) und vor allem, er sah die Entwicklungen seiner Zeit (Demokratie, "Erwerb und Verkehr") als Irrweg und Krise und verklärte stattdessen Werte, die wir heute als Irrweg sehen (Rassismus, Nationalismus, Kriegsverherrlichung).

Ich will jetzt gar nicht kleinlich darüber steiten, ob er trotzdem ein großer Gelehrter ist oder nicht. Die Frage, die für mich im Vordergrund steht, ist dabei die, ob wir heute eigentlich ein passendes Geschichtsverständnis oder Weltbild besitzen.
Was passiert eigentlich jetzt in der Welt als Entwicklung? Man ist versucht, anzunehmen, dass heute die großen geschichtlichen Umbrüche vorbei sind und wir uns vom Standpunkt des heutigen angenehmen Lebens ein Bild machen, wie alles gekommen ist und darin mehr oder weniger die heutige Zeit als Ende der Geschichte verstehen.
Ist das so, oder tanzen wir nicht auch heute "auf einem Vulkan"? Der Historiker Ian Morris vemittelt in seinem Buch "Wer regiert die Welt?", dass gerade heute eine ganz entscheidende Entwicklung stattfindet, deren Ergebnis völlig offen ist. Er schreibt:
Im 21. Jahrhundert verspricht - oder droht - die gesellschaftliche Entwicklung so hoch zu steigen, dass sie auch den Einfluss der natürlichen und sozialen Bedingugen verändern wird. Wir nähern uns der größten Diskontinuität der Geschichte. (S. 567)
Die große Frage unserer Zeit stellt sich gemäß Morris nicht danach, ob der Westen seine Vormachtstellung gegenüber dem Osten auch weiterhin wird halten können, sondern danach, "ob die Menschheit insgesamt den Durchbruch zu einer vollkommen anderen Seinsweise schafft, bevor uns die Katastrophe ereilt - und uns für immer erledigt" (S. 45).

Es kann also sein, dass wir in nicht allzuferner Zukunft aus unserer "Höhle", in der wir es uns so angenehm eingerichtet haben, durch die Ereignisse herauskatapultiert werden.
In diesem Sinne plädiere ich dafür, ganz im Sinne des lebendigen Geistes von Schiller, "die Wahrheit immer mehr zu lieben, als das System" (Universalgeschichte, S. 11), und so aufgeschlossen gegenüber Neuem zu sein, zur Not das eigenen Gedankengebäude selbst "auseinanderzulegen" (Universalgeschichte, S. 11), um so heute das sich gerade abspielende Geschehen, wie Morris es vormacht, zumindest in Ansätzen erfassen zu können.
Die Evolutionstheorie kann dabei als Werkzeug eine große Hilfe sein. Allein die Bevölkerungsexplosion zeigt, in welcher Lage wir uns heute befinden (auf der biologischen Ebene der Evolution ein altbekanntes Phänomen).
 
Die Evolutionstheorie kann dabei als Werkzeug eine große Hilfe sein.

1. Es wurde bisher in keiner Hinsicht die Nützlichkeit einer "Evolutionstheorie", im Sinne der Biologie, als "Sozialtechnologie" aufgezeigt.

http://de.wikipedia.org/wiki/Soziobiologie

2. Wobei die bisherige Verwendung des Begriff eher als Synonym zum Sozialdarwinismus zu verstehen war. Eine nicht unproblematische theoretische und auch empirische Verwendung.

3. Die meisten bisher beschriebenen Aspekte deutlich besser durch andere Theorien zu erklären sind, die nicht unbedingt "Gene" als Erklärung für Historie bemühen müssen. Zumal man dem Nachweis der "Gene", im Sinne einer historischen Erklärung, absolut nicht folgen muss.

4. Ansonsten ist der Begriff der "Evolution", wie auch bei Schnädelbach vorgenommen" ein absolut sinnvolles Konstrukt zur Beschreibung gesellschaftlicher Veränderungen.

http://de.wikipedia.org/wiki/Soziokulturelle_Evolution
 
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Jacob Burckhardt und die Geschichtswissenschaft - eine Kritik

[FONT=Times New Roman, serif]Hallo,[/FONT]

[FONT=Times New Roman, serif]in seinem Buch „Wer regiert die Welt?“ (Frankfurt/M. 2011) wendet sich der britische Historiker Ian Morris konsequent gegen sozusagen die letzten Reste eines Rassismus, nämlich dass die Vormachtstellung des Westens in der Welt eine absolute sei. [/FONT]
[FONT=Times New Roman, serif]Wie selbstverständlich zieht er dazu zunächst Erkenntnisse der Biologie und Evolutionstheorie heran und stellt fest, „was Menschen in Wirklichkeit sind: schlaue Schimpansen. Wir Menschen gehören zum Tierreich“ (Morris 2011, 35). Weiterhin entzieht er mit Hilfe dieser interdisziplinären Erkenntnisse jeglichem Rassismus die Grundlage, denn die genetische Variabilität ist der Evolutionsbiologie nach grundsätzlich bei allen Menschen gleich, bis auf geringe Unterschiede, die sich erst später entwickelt haben und etwa über äußere Merkmale wie die Hautfarbe entscheiden, d.h. die wesentlichen, »inneren« Unterschiede von zwei Menschen einer heutigen Gruppe, etwa der Mongolen, können aufgrund der genetischen Variabilität größer sein als die zu einem Menschen einer ganz anderen Volksgruppe, etwa einem Afrikaner oder Europäer. Während also zwei Menschen einer Gruppe von ihren genetischen Anlagen her sehr gegensätzlich sein können, werden sich große, millionenköpfige Gruppen in ihrer Zusammensetzung von unterschiedlichen Individuen ziemlich stark gleichen (vgl. Morris 2011, 35). Eine absolute Überlegenheit einer Gruppe oder Kultur gegenüber einer anderen lässt sich mit diesen objektiven naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht aufrechterhalten.[/FONT]
[FONT=Times New Roman, serif]Im Zuge dessen kritisiert Morris auch die bisherige Methode der Geschichtswissenschaft. In den Geschichten, die Historiker erzählten, ging es nach den Worten von Morris lange Zeit so sehr nur um in erster Linie männliche Vertreter der Oberschicht, dass man Geschichte und Biographie kaum unterscheiden konnte. Das änderte sich erst im [FONT=Times New Roman, serif]20. Jahrhundert, als auch Frauen und Leute aus den unteren Schichten Gewicht und Einfluss bekamen (vgl. Morris 2011, 37-38). „Wenn wir, so meine Argumentation, erst einmal übereingekommen sind, dass Leute (als größere Gruppen und im weiteren Sinn des Wortes) sich ziemlich stark gleichen, bleiben nur noch Landkarten“ (Morris 2011, 38). Nach Morris beruht so die Überlegenheit des Westens ausschließlich auf Umweltbedingungen, wie etwa den Vorteilen eines Binnenmeeres wie dem Mittelmeer, die geographischen Verbreitung von domestizierbaren Tieren und Pflanzen usw. Doch viele Historiker reagieren auf diesen Ansatz „wie der Stier auf ein rotes Tuch“ (Morris 2011, 38).[/FONT][/FONT]


[FONT=Times New Roman, serif][FONT=Times New Roman, serif]Im Zusammenhang mit diesem Ansatz von Morris möchte ich einen wissenschaftlichen Zeitzeugen der großen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa seit der Französischen Revolution kritisch betrachten, der als ein typischer Vertreter des [/FONT]»alten« Geschichtsverständnisses angesehen werden kann,[FONT=Times New Roman, serif] nämlich den Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. Es geht dabei nicht nur um Burckhardt selbst, sondern auch um die große und in der Regel völlig unkritische Verehrung, die Burckhardt trotz seiner oft menschenverachtenden und rassistischen Aussagen bis heute erfährt. [/FONT]Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi bringt als einer der Wenigen die Kritik an Burckhardt und das Problem um ihn auf den Punkt, wenn er sagt, dass nur Ikonoklasten wie Egon Flaig und Aram Mattioli Burckhardt zum Antisemiten und wissenschaftlichen Leichtfuß stempeln und mit Hochgenuss die Verschleierungsversuche der Burckhardt-Hagiographie bloßlegen. (vgl. FAZ Nr.8 vom 10.01.2007, S. 32). Mattioli sieht in seinem Essay „Jacob Burckhardt und die Grenzen der Humanität“ (A 3970 Weitra, 2001) bei Burckhardt „nachtschwarze Seiten“ (Mattioli 2001, 8) und „bestehende Forschungsdefizite“ (Mattioli 2001, 9) und „findet sich bald vor einer Mauer der Auslassungen und eingeschliffenen Legenden wieder“ (Mattioli 2001, 9). [/FONT]
[FONT=Times New Roman, serif]Burckhardt mag ja durchaus in bestimmten Bereichen verehrungswürdig sein, doch die Wirklichkeit lässt sich nicht in einem einfachen Schubladendenken erfassen. Der wichtigste Teil und die Methode eines modernen Wissenschaftsverständnisses sind Kritik und Zweifel, und die sollten auch hier zu einem differenzierten Burckhardt-Bild führen. Burckhardt kann gerade mit seinen heute eindeutig als falsch erwiesenen rassistischen Aussagen und seinem Ideal „großer Männer“, die die Geschichte bestimmen, wie gesagt als eine typischer Vertreter desjenigen Geschichtsverständnisses angesehen werden, gegen das sich Morris entschieden wendet. Da es zudem in Burckhardts „Weltgeschichtlichen Betrachtungen“ um die großen gesellschaftlichen Umbrüche geht, bei denen er als Zeitzeuge auftritt, ist er und auch seine heutige Verehrung ein ideales Objekt, um die Umbrüche der letzten Zeit aus einer kritischen Perspektive nachzuvollziehen. Die Geschichtswissenschaft selbst wird hierbei zum Objekt und Teil der Betrachtung, Veränderung und kulturellen Entwicklung. [/FONT]


[FONT=Times New Roman, serif]In der Online-Zeitung für Gesellschaft und Kultur, „Tabula Rasa“, habe ich eine kritische Rezension zu Burckhardts Buch „Weltgeschichtliche Betrachtungen“ geschrieben (Ein Beispiel für den Rassismus in der Wissenschaft des 19. Jahrhunderts - und die bis heute andauernde Vergötterung des Lehrenden. - Tabula Rasa). An Gegenargumenten dazu bin ich sehr interessiert, aber bitte sachlich und auf das rezensierte Buch bezogen, denn wie ich bisher ähnlich wie Morris feststellen musste, ist die Reaktion auf Kritik an Burckhardt teilweise sehr emotional geprägt. Es soll nicht um eine weitergehende „Hagiographie“ oder umgekehrt die totale Verunglimpfung von Burckhardt gehen, sondern um eine möglichst objektive und sachliche Bewertung seiner Aussagen, seines Weltbildes und des Geistes, der bei ihm als wissenschaftlicher Zeitzeuge des 19. Jahrhunderts vorzufinden ist. [/FONT]
 
[FONT=Times New Roman, serif] An Gegenargumenten dazu bin ich sehr interessiert, aber bitte sachlich und auf das rezensierte Buch bezogen, denn wie ich bisher ähnlich wie Morris feststellen musste, ist die Reaktion auf Kritik an Burckhardt teilweise sehr emotional geprägt. Es soll nicht um eine weitergehende „Hagiographie“ oder umgekehrt die totale Verunglimpfung von Burckhardt gehen, sondern um eine möglichst objektive und sachliche Bewertung seiner Aussagen, seines Weltbildes und des Geistes, der bei ihm als wissenschaftlicher Zeitzeuge des 19. Jahrhunderts vorzufinden ist. [/FONT]
eines der Probleme bei solchen Betrachtungen ist die Frage der Angemessenheit der Maßstäbe: es dreht sich ja um einen Autor des 19. Jhs., und dieser konnte einiges, was wir heute wissen, eben noch nicht wissen - wenn Burckhardt heute dasselbe schreiben würde, falls er heute leben würde, so müsste die Kritik in diesen Bereichen (Rassismustendenzen etc.) recht deutlich ausfallen; aber bezogen auf den Kenntnisstand des 19 Jh. sollte vorab dieses zeitbedingte Umfeld berücksichtigt werden.
 
[FONT=Times New Roman, serif][FONT=Times New Roman, serif]Im Zusammenhang mit diesem Ansatz von Morris möchte ich einen wissenschaftlichen Zeitzeugen der großen gesellschaftlichen Umbrüche in Europa seit der Französischen Revolution kritisch betrachten, der als ein typischer Vertreter des [/FONT]»alten« Geschichtsverständnisses angesehen werden kann,[FONT=Times New Roman, serif] nämlich den Schweizer Kulturhistoriker Jacob Burckhardt. Es geht dabei nicht nur um Burckhardt selbst, sondern auch um die große und in der Regel völlig unkritische Verehrung, die Burckhardt trotz seiner oft menschenverachtenden und rassistischen Aussagen bis heute erfährt. [/FONT]

[/FONT][FONT=Times New Roman, serif]Es soll nicht um eine weitergehende „Hagiographie“ oder umgekehrt die totale Verunglimpfung von Burckhardt gehen, sondern um eine möglichst objektive und sachliche Bewertung seiner Aussagen, seines Weltbildes und des Geistes, der bei ihm als wissenschaftlicher Zeitzeuge des 19. Jahrhunderts vorzufinden ist. [/FONT]

Ein Teil der obigen Aspekte wurde doch schon im folgenden Thread, der von Dir ebenfalls angestoßen wurde, diskutiert.

http://www.geschichtsforum.de/f82/kulturelle-entwicklung-w-hrend-der-letzten-100-jahre-44862/
 
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