Die akademische Geschichtsschreibung in angelsächsischer Tradition präsentiert Geschichte öfter mehr in Form von griffigeren Storys, was Veröffentlichungen leichter rezipierbar und etwas massentauglicher macht. Ferner wird man dabei bemerken, dass häufiger ein durchaus voluminöser Quellen- und Literaturnachweis dem eigentlichen Textkorpus folgt, das sehen wir vielfach auch bei eher schmalen Textkorpora.
Die Präsentation einer griffigeren Story, verbunden mit der Neigung, wenn nicht Notwendigkeit, sich als HistorikerIn vermehrt ebenfalls auf andere fachgeschichtliche Sekundärliteratur zu stützen, kann manchmal dazu führen, dass gewisse, eigentlich aus der im Werk angegebenen Literatur bekannte, wichtige Details entfallen. Selbstredend ist klar, dass angesichts eines großen Quellen- und Literatur-Verzeichnisses Fehler und Ungenauigkeiten ganz natürlich sind. Kein Autor kann sämtliche angegebene Literatur - und Primärquellen - vollständig selbst und gründlich wie kritisch gelesen haben.
Sean McMeekins The Berlin-Bagdad-Express (2010) enthält z.B. 14 Seiten Quellen- und Literaturnachweise. Darunter dürften sich sicherlich mindestens 100 Geschichtsbücher befinden – und die kann McMeekin gewiss nicht alle vollständig und gründlich zur Vorbereitung seines Buches durchgearbeitet haben.
Wer sich ein wenig mit akademischen Arbeiten auskennt, selber schon welche geschrieben hat, weiß das natürlich. Daher lohnt es sich, mal einzelne Abschnitte zB. bei McMeekins Werk anzuschauen. Analog zu diesem Faden schauen wir uns kurz die entsprechenden, zentralen Seiten bei The Berlin-Bagdad-Express bei nur wenigen Punkten an.
S. 105: Liman Sander verachtete angeblich von Anfang an Wangenheim, da keine Botschaftsangehörigen bei Ankunft der Mission am 14.12.1913 anwesend gewesen waren.
Die Berliner Außenpolitik, mithin der reichsdeutsche Botschafter von Wangenheim in Istanbul, hatte daran gelegen, Rücksicht auf die möglichen Empfindlichkeiten der anderen Mächte zu nehmen, die dt. Mission reiste daher in osmanischen Uniformen an und die deutsche Botschaft war bei ihrer Begrüßung am Bahnhof in Istanbul nicht vertreten. (M. Römer, Die deutsche und die englische Militärhilfe, 2007, S. 86)
S. 105: Liman von Sanders, commander of the forty-strong German military mission sent to Constantinople in 1913 .[…]
Das hört sich gut an, de facto traf Liman Sanders nur mit 9 Militärangehörigen Mitte Dezember 1913 in Istanbul ein (Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, 1976, S. 129, S. 133). Die geplante Soll-Stärke betrug 42 Missions-Angehörige und sollte geplant auch erst im Laufe der Zeit nach Missionsbeginn in der Türkei erreicht werden.
Ende März 1914 gab es anscheinend 22 Missions-Angehörige. (Wallach, Militärhilfe, S. 134)
S. 105: When the Sultan gave Liman command of the Ottoman First Army Corps on 4 December 1913, this put a German national in nominal charge of both Constantinople […] and the Straits defences.
Liman Sanders traf erst am 14.12. in Istanbul ein (M. Römer, Militärhilfe, S. 86), McMeekins Worte legen anderes nahe.
Am 4.12. war der Befehl (Iradé) des Sultans zur Missions-Aufgabe ergangen (Römer, Militärhilfe, S. 85). In diesem Befehl war zudem erkennbar, dass die Meerengen nicht weder zum nominalen noch zum informellen Wirkungsbereich Liman Sanders gehörten. Warum McMeekin dann in seinen Zeilen einen Zusammenhang herstellte?
S
. 116: McMeekin notiert, in der letzten Augustwoche wären 700 deutsche Matrosen und Küstenbefestigungs-Fachleute in der Türkei eingetroffen und bemerkt wenige Zeilen später, Limans Sanders Mission wäre nun auf nahezu 2000 Militärberater – "mushroomed" – angewachsen.
Der Zuwachs hatte nichts mit der Mission zu tun gehabt, wie eigentlich McMeekin selber hätte bemerken können – zumindest gewöhnliche Matrosen gehören nicht zur Armee, sind keine Militärberater und die Liman-Mission war eine Armee-Mission.
Die Flucht der Goeben und Breslau in die türkischen Meerengen am 10.8.1914 bescherte der Türkei auf einen Schlag 1600 reichsdeutsche Marine-Angehörige. (Wallach, Anatomie, s. 154). Admiral Souchon als Befehlshaber beider Schiffe bat wenige Tage danach um mehrere hundert Marineangehörige aus dem dt. Reich, die gegen Ende August bis Anfang September in verschiedenen, aufgeteilten und anonymen Gruppen in Istanbul eintrafen.(Römer, Militärhilfe, S. 326f; Wallach, Anatomie, S. 155; Heinz A. Richter, Der Krieg im Südosten. Band 1. Gallipoli 1915, S. 73).
Anlass soll die massive britische und französische Flottenkonzentration vor den Dardanellen nach der Flucht von Goeben und Breslau am 10.8.1914 in die Meerengen gewesen sein, die Admiral Souchon zur – wg. des Kriegszustandes GB - Dt. Reich nachvollziehbaren - Annahme geführt hatte, die britische Kriegsschiffe würden den Durchbruch durch die Dardanellen planen. Souchon forderte entsprechend Fachleute für den Befestigungsausbau der Dardanellen und des Bosporus an, so dass dt. Marine schließlich Minenkriegs-Fachleute und Marineartilleristen schickte. (Richter, Gallipoli 1915, S. 73; Carl Mühlmann, Deutschland und die Türkei 1913 – 1914, 1929)
Die Liman-Mission selber erreichte noch in der ersten Jahreshälfte 1914 die Größe von ca. 70 Personen (Wallach, Anatomie, S. 134), das galt auch noch für den August.
Letztlich werden wir bei den zugehörigen Fußnoten/Quellennachweisen bemerken, die McMeekin im Text verankert hat, dass er sich weitgehend auf weitere Sekundärliteratur stützt. Seine "Ungenauigkeiten" in wichtigen Sachtatsachen sind manchmal auffallend, was die Liman-Mission angeht.
Weiterhin scheinen mir seine Ausführungen zu Botschafter von Wangenheim in Istanbul leicht "optimiert", ebenso die sinngemäße Behauptung eines "Intrigen-Stadls" zwischen Liman von Sanders, von Wangenheim und Marineattaché Hans Human – Militärattaché von Strempel wird nicht erwähnt. Als intrigant kann keiner von ihnen bezeichnet werden, die zwei erstgenannten waren von ihrer eigenen Unersetzlichkeit und Einzigartigkeit überzeugt, entsprechend direkt und offen wurde dies gegenüber möglicher "Konkurrenz im eigenen Lager" kenntlich gemacht wie gehandelt.
Hans Human, der Marineattaché in Istanbul, war ansonsten die mit Abstand einflussreichste reichsdeutsche Persönlichkeit Istanbuls beim "deutschenfreundlichen" Kriegsminister Enver, den er persönlich gekannt hatte und mit ihm eng befreundet gewesen war. (Wallach, Anatomie, S. 154, 177)
Ich kann nur empfehlen, auch und gerade die als autoritativ gehandelten, scheinbaren "Grundlagenwerke" kritisch und gründlich zu rezipieren. Wir kochen alle nur mit Wasser. Gewisse eigene Primärquellen-Kenntnisse sowie die Lektüre von wesentlich auf Primärquellen gestützten Geschichtswerken sind hier sehr hilfreich und weiterführend.
Wesentlich Primärquellen gestützte ("kritische") Grundlagenwerke u.a. zu Kontext, Vorgeschichte und Geschichte der Liman-Mission wie auch teilweise noch zur Liman-Sander-Krise selbst sind m.E.
- Jehuda Wallach, Anatomie einer Militärhilfe, 1976.
- Matthias Römer, Die deutsche und englische Militärhilfe für das Osmanische Reich 1908 - 1914, 2007.
Eine substanzielle, angemessene historisch-kontextuelle Einordung der Liman-Sander-Krise ist mit guten Kenntnissen zu Kontext, Vorgeschichte und Verlauf der Mission besser möglich, besonders sinnvoll sind noch weitere Kenntnisse des konkreten historischen Kontextes der damaligen Türkei, speziell 1912/1913..