...in einem Colloqium macht dass natürlich erheblich mehr Sinn.
Wenn der Geschichtslehrer gut informiert ist, macht es sogar sehr viel Sinn und natürlich wird beim Colloq auch erheblich mehr in die Tiefe gefragt als sich bei 15 Min Präsentation darstellen läßt.
Auch war "kein Einfluss" auf die Politik und anarchistische Organisationen bezogen, nicht auf Einzelpersonen. Daher sehe ich in der bayrischen Räterepublik auch kein anarchistisches Projekt, selbst wenn zwei Menschen, die sich dazu bekannten, an der ganzen Sache beteiligt waren. (Kurt Eisner z.B. war keiner.)
Auch Toller zb nicht (obwohl - er war Pazifist, was bis heute bei Anarchisten eine gesamte Strömung ausmacht, die gewaltfreien Anarchisten). An der Räterepublik waren von anarchistischer Seite ja auch nicht nur Landauer und Mühsam beteiligt, diese haben als Protagonisten und Regierungsmitglieder jedenfalls einen höheren Bekanntheitsgrad als die vielen anarchistischen sowie kommunistischen beteiligten Otto Normalrevolutionäre.
Es gab bei der Räterepublik allerdings zwei Phasen, deren erste 'anarchistischer' war, unter Regierungsbeteiligung von zb Landauer, Mühsam sowie Silvio Gesell als Finanzminister.
Die Schätzung würde ich für sehr optimistisch (aus anarchistischer Sicht) halten; wobei natürlich immer auch die Frage bleibt, wer ist Anarchist? Fallen da Linkskommunisten (z.B. die KAPD, weil wir gerade in den frühen Zwanzigern sind) mit rein?
Nun ja, prinzipiell ist Anarchist, wer sich als solcher versteht. Die KAPD verstand sich mW als marxistisch, aber nicht unbedingt als anarcho-kommunistisch.
Ich kann mich auch gerade ums Blauwerden nicht erinnern, wo ich das gelesen habe - ist schon länger her - und weiß nur noch, daß der Autor Historiker war, jedoch nicht, ob er sich als Anarchist verstand. Jedoch halte ich die Zahl nicht für so optimistisch, da zb seit ca 1880er/90er auch eine recht starke bürgerliche anarchistische Bewegung bestand, die hauptsächlich im Bereich Individualanarchismus angesiedelt war (Max Stirner). Nun sind Individualanarchisten nicht gerade das Paradebeispiel für Organisationsfreundlichkeit, so daß viele der entsprechenden organisierten Gruppierungen zahlenmäßig klein waren. Aus dieser Richtung kommt zb auch Fritz Perls mit der Gestalttherapie.
Außerdem gab es einen internationalen Bund der Staatenlosen, in denen Individualanarchisten organisiert waren, der 60.000 Mitglieder weltweit umfaßte, davon 20.000 aus Deutschland.
Aus dem Individualanarchismus stammte ebenfalls Uwe von Beckenrath, der Walter Rathenau beriet und eine Gesetzesinitiative mit Rathenau zur Lösung der deutschen Finanzmisere ins Leben rufen wollte, die aber nach der Ermordung Rathenaus unterblieb (m.a.W: anarchistische Einflüsse gab es somit bis in die Regierung).
200.000 klingt nach viel, ist aber, verglichen mit den mitgliederzahlen der sozialistischen Gwerkschaften, eher marginal. Ich wüsste jetzt keine Situation während der Zeit der Weimarer Republik zu nennen, wo die FAUD entscheidend in den Gang der Ereignisse eingegriffen hätte.
Zum einen siehe Rote Ruhrarmee. Zum anderen hat die FAUD während des Kapp-Putsches in ihren Schwerpunkten zum Generalstreik aufgerufen (Essen, Krefeld, Bochum etc); bis zu 80% der Betriebe wurden bestreikt.
Interessant fand ich allerdings den Wiki-Vermerk, die Rote Ruhrarmee sei 1923 auf maßgebliche Initiative von FAUD-Mitgliedern entstanden. Das wäre mir neu. (Wobei Wikipedia bei solchen Sachen natürlich mit Vorsicht zu genießen ist...)
Und ganze Ortsgruppen der FAUD beteiligten sich an der Roten Ruhrarmee.
Die "Direkte Aktion" als Zeitung der FAU (Nachfolgerin der FAUD heutzutage) gibt es heute noch. Was aber nicht heißt, das der Anarchismus im heutigen Dtld. allzu einflußreich ist...
Es handelte sich dabei um eine Schulungsbroschüre zur Erklärung/ Verbreitung anarchistischer Strategien (zb Sabotage am Arbeitsplatz). Die FAU ist erst Ende der 1970er gegründet und keine Nachfolgerin der FAUD, die sich 1933 selbst auflöste, um dem Auflösungsbefehl zuvorzukommen und illegale Strukturen aufzubauen; sie versteht sich mW auch selbst nicht als Nachfolgeorganisation. Nachfolgeorganisation der FAUD war in den 50/60ern (gegründet 1948) die FFS Föderation Freier Sozialisten, die von früheren FAUD-Mitgliedern gegründet wurde. Die FFS wurde 1971 aufgelöst.
Du schreibst zur Beteiligung von Kommunisten und Sozialisten an der Jugendweihe:
Kommunisten und Sozialisten aber auch.
In der Gründungsphase nicht, da waren es Anarchisten.
Dann wird es aber tatsächlich schwierig mit der Zuordnung; wenn anarchistisch gesinnte Menschen politisch als Mitglieder der SPD handeln, handeln sie eben als Sozialdemokraten, und man wird das ganze unter sozialdemokratischer Politik subsumieren.
Eine Selbstbezeichnung der Anarchisten zu Zeiten Bakunins in Deutschland war: Sozialdemokrat. Mehrere Bildungsvereine, die in ihrer Satzung anarchistische Ziele und Strategien verfolgten, firmierten unter der Bezeichnung Sozialdemokratie. Unter anderem auch die Schweizer Juraföderation. Dies fällt ja auch in einen Zeitpunkt, an dem die Nichtbeteiligung an Wahlen bei den Anarchisten noch nicht gegeben war; so war zb Proudhon mehrfach Abgeordneter der Nationalversammlung in Frankreich; Johann Most war Parlamentarier der SPD.
Als Unterscheidungsmerkmal unter Sozialdemokraten kam die Bezeichung 'revolutionärer Sozialdemokrat' ins Spiel.
Naja, dass Anarchisten als selbst ernannte Staatsfeinde auch mit Reichen nicht gut klar kommen ist unbestritten; es ging da um die Frage der Gefährlichkeit. Und leider muss ich abschließend sagen, dass der politische Anarchismus in Dtld. nie stark genug war, um was zu bewegen, zumindest nicht im "Großen". Das blieb (von proletarischer Seite aus) Sozialisten/Sozialdemokraten und Kommunisten vorbehalten, was kein Widerspruch dazu ist, dass die paar Anarchisten mitmischten, wo sie nur konnten. Dass das Ganze uns nur nicht im Bewußtsein ist, weil es totgeschwiegen wurde, kann ich (leider) so nicht unterschreiben.
Daß eine politische Bewegung, die den Staat abschaffen und durch Selbstverwaltung sowie direkte, partizipative Demokratie mit imperativem Mandat ersetzen will, als staatsfeindlich begriffen wird, liegt auf der Hand. Bei 2 Millionen ist auch nicht unbedingt von 'die paar' zu sprechen; andererseits haben 'ein paar' Lenin ja seinerzeit auch gereicht...., nur lehnen es Anarchisten ab, eine solche Stellvertreterrevolution *für* die Massen durchzuführen, da müssen sich die Massen schon selbst aufraffen und aktiv werden.
Anders sah die Situation in manchen romanischen Ländern aus: In Frankreich war die größte Gewerkschaft CGT maßgeblich syndikalistisch beeinflusst, in Spanien bildete die anarcho-syndikalistische CNT eine der zwei großen Gewerkschaftsorganisationen. In Dtld. war das eher mau.
Syndikalistisch ist jedoch nicht voll deckungsgleich mit 'anarchistisch'; in romanischen Ländern ist Syndikat = Gewerkschaft. Die CGT war sogar anfangs eine anarcho-syndikalistische Gewerkschaft (Konzept: alle Proletarier können der anarcho-syndikalistischen Gewerkschaft beitreten, gleich welcher politischen Richtung sie angehören). Ungefähr ab Anfang der 40er Jahre, als die CGT illegal existierte, kam es zum Beitritt größerer Zahlen an Kommunisten zur CGT; in den 50ern änderte sich die Wahrnehmung der CGT hin zur CGT als Gewerkschaftsflügel der KPF.
Auch in der spanischen CNT waren zb Trotzkisten Mitglieder, wie auch anfangs Kommunisten.