Ich weiß nicht, ob die Frage nach der Lehrmeinung uns hier weiterbringt. Die Lehrmeinung des Galens* (Viersäftelehre) beherrschte 1300 Jahre die ärztliche Kunst, obwohl sie keinerlei Beweise hatte, seine mangelhafte Kenntnis der menschlichen Anatomie beweist das.
Ich meinte die Lehrmeinung der Historiker. Das war ein allgemeinerer Einwand, und nicht einmal ein Positionbeziehen meinerseits in der konkreten Streitfrage (tatsächlich glaube ich, dass Du Recht hast, jedenfalls was die Zeit bis zum Spätmittelalter anlangt). Falls wir nur aneinander vorbeireden, wie ich vermute, dann entschuldige die unnötige Ausführlichkeit, aber falls nicht:
Wenn der von der 'SZ' zitierte Historiker ein universelles Verbot der Sektion (vor dem Spätmittelalter) für eine Tatsache hält, ist das schon mal ein informierter Debattenbeitrag und ein Beleg für Deine entsprechende Behauptung. Damit ist aber noch nicht das Thema "erledigt". Und auf dieses Wörtchen bezogen sich
@Scorpio und
@Sepiola mit ihrer Kritik.
Erledigt ist das Thema, wenn klar ist, dass Colin Slater eine in den Geschichtswissenschaften akzeptierte (weil belegte) Lehrmeinung vertritt.
Oder es ist erledigt, wenn Colin Slater zwar abweichend zur vorherrschenden Meinung steht, aber bessere Argumente (bspw. neue Erkenntnisse) vorbringt.
Was nun Galen anlangt,
@Scorpio hat darauf eine meiner Ansicht nach zutreffende Erwiderung angeboten. Die anatomischen Kenntnisse waren gar nicht mal gering, nur nützten sie eben wenig in einer Zeit, in der aus anderen Gründen viele Zusammenhänge nicht erfasst werden konnten.
Und weil diese Unkenntnis in ganz Europa vorherrschte, kann dafür kein engstirniger Fürst, König oder Kaiser haftbar gemacht werden, sondern die Herrschaft der beiden Kirchen – katholischen wie orthodoxen –, die allein überregional über eine Moral oder Sitte wachten, die sie möglicherweise von früher, also aus vorchristlicher Zeit, übernommen haben.
Sowohl die weltlichen Fürsten als auch der regionale Klerus hat ein umfassendes Sektionsverbot jedenfalls wohl nicht immer vollumfänglich beachtet. Ich meine gelesen zu haben, dass in Salerno bis ins Hochmittelalter Sektionen vorgenommen worden seien. Dann gab es wohl ein Intermezzo mit Schweinen, dessen anatomische Ähnlichkeit seinerzeit schon bekannt war und u.a. den Hof des zweiten Friedrichs mit Rom in Konflikt brachte.
Auch in anderen Bereichen kam es zu Verstößen. Eduard I. von England ordnete entgegen der Bulle Bonifaz’ an, dass man seinen Leichnam auskochen sollte, er wollte, dass sein Herz neben seiner geliebten Eleonore bestattet würde, während seine Knochen zusagen in effigie weiter Krieg gegen die Schotten führten. Robert von Winchelsey, der Erzbischof von Canterbury, hat ihm dies auch gestattet, dabei war er ein Gegner Eduards.
Daher meine Frage, wie umfassend dieses Verbot war, wo es galt und wie es durchgesetzt wurde.
Mich würde z.B. interessieren, ob das Verbot sich auch auf Menschen erstreckte, denen nach kirchlichem Dogma keine Auferstehung zuteilwerden konnte, also primär Moslems und Heiden*?
*) Möglicherweise auch Juden, mir ist momentan nicht in Erinnerung, ob die spätmittelalterliche theologische Auffassung, dass auch Juden "teilweise" der Auferstehung teilhaftig werden konnten, bereits in Spätantike und Frühmittelalter galt.
Was ist mit Selbstmördern? Mit ungetauft gestorbenen Kindern? Was ist mit Verbrechern, mit deren Leichen oft beliebig umgesprungen wurde?
Was ist mit dem hypothetischen Fall, jetzt mal unabhängig davon, wie realistisch er wäre, dass irgendein Atheist, Humanist oder Verrückter in seinem Testament verfügte, man möge seinen Körper den medicis von Salerno vermachen?
Der Kirche ging es vornehmlich um die Wahrung ihrer Autorität, Wissenschaftler und sogar abweichende Theologen konnten durchaus gegen den Sinngehalt kirchlicher Verbote zuwiderhandeln, wenn sie nur nicht die kirchliche Autorität herausforderten. Radikale Ideen und häretische Lehren konnten etwa in Dialogen durchaus diskutiert werden, solange der Autor nur nicht ausdrücklich Position für sie bezog. Es ist und bleibt ein Mythos, dass die Kirche per se wissenschaftsfeindlich gewesen sei, tatsächlich gehörte sie zu den größten Förderinnen der Wissenschaft.
Es sollte eben nur eine systemtreue Wissenschaft sein.