Religion und Wissenschaft

...die Wirksamkeit der kulturhistorischen Lachnummer Index librorum prohibitorum ist kein sonderlich starkes Argument für die Bremskraft der Kirche.
Index librorum prohibitorum erschien 400 Jahre lang, nur die letzten 100 Jahre davon war er eher eine Lachnummer. Aber eingestellt wurde er deswegen nicht, sondern weil die Zensoren nicht mehr mit der Kontrolle der Bücher aus der weltweiten Produktion mitkamen.
Die Urteile über Medienerzeugnisse ändern sich auch heute und ein Titel, der in das deutsche staatliche Verzeichnis der jugendgefährdenden Medien aufgenommen worden ist, fliegt automatisch hinaus, wenn er nach 25 Jahren nicht erneut auf den Index gesetzt wird. Warum? Weil die frühere Urteile heute mitunter lachhaft anmuten.

Einer der Gründe, warum Darwin mit seiner Veröffentlichung über den Ursprung der Arten 10 Jahre wartete, war seine Angst vor der Reaktion der christlichen Geistlichkeit und der von ihr beeinflusste Wissenschaft.
Heute kann ich dazu ein Detail nachreichen: Charles Darwins Großvater Erasmus Darwin hat sich auch mit der Entstehung der Arten beschäftigt und sein diesbezügliches Werk aus dem Jahr 1794 Zoonomia landete auf dem Index librorum prohibitorum, das allerdings erst 1817, nach der Übersetzung ins Italienische.

Das zeigt einerseits die Schwierigkeiten der Zensoren, "gefährliche" Bücher rechtzeitig zu verbieten, und andererseits wird damit auch klar, warum sich die verbotenen Ideen trotzdem verbreiten konnten, zumal die römische Zensur nur in den (überwiegend) katholischen Ländern wirken konnte.
 
Index librorum prohibitorum erschien 400 Jahre lang, nur die letzten 100 Jahre davon war er eher eine Lachnummer.
Aha. So also ist das?
Du wirst das sicher meine Frage
wie konnte es nur geschehen, dass die gelehrte Welt stets z.B. den indizierten Kant (Kritik der reinen Vernunft) rezipieren konnte? :p
jetzt brillant beantworten können, nachdem du sie zuvor wohl übersehen hattest...

Kleine Zusatzinfo: die Kritik der reinen Vernunft wurde anno domini 1781 publiziert, auf den Index wurde sie 1827 gesetzt, doch oh Weh und Ach, damit war sie ab 1827 nicht aus der Welt, sondern ganz im Gegenteil sehr berühmt (ja, da hatte das bucklicht Männlein aus Königsberg Furore gemacht in der Welt der Gelehrsamkeit)... wie kann das nur sein?
...ist schon böse und hinterhältig von der Geschichte, anders verlaufen zu sein, als du es darstellst... :p;)
 
Anstatt nichts Neues zu schreiben, @dekumatland, hättest du nur meinen letzten Absatz in #81 lesen sollen, in dem u.a. auch die Antwort auf deine Frage steht - man muss nur das Gesagte auf Kant anwenden und voilà ...
 
Der Hinweis galt der Unterscheidung zwischen Kirchenstaat (bis 1870) und Vatikanstaat (ab 1929).

Es ging ja nicht um den Kirchenstaat, sondern um den Vatikan als religiöse Behörde:

Übrigens: Die Lehre über die sich drehenden Erde wurde 1633 vom Vatikan verboten und dieses Verbot erst 200 Jahre später aufgehoben.

Dass @Dion hier vom "Vatikan" schreibt, ist also nicht falsch.

Falsch sind hingegen die Jahreszahlen; denn die heliozentrische Lehre wurde bereits 1616 für ketzerisch erklärt. 1757 hob Papst Benedikt IV. das Verbot für Bücher, die die Unbeweglichkeit der Sonne und die Beweglichkeit der Erde lehren, auf. Bereits 1744 war Galileis Dialog mit kirchlicher Erlaubnis nachgedruckt worden.
 
Bedenken gegenüber Forschung aus welchen Gründen auch immer, bremsen die Forschung - erst die Sezierung der Leichen hat unsere Kenntnisse über die Anatomie des Menschen ermöglicht, denn davor gab es nur Vermutungen.
Ein Verbot von Sektionen in dem Sinne wie du es unterstellst, hat ja gar nicht bestanden.
In Bezug auf das kirchliche Verbot von Anatomiestudien – Zitat aus der heutigen SZ:

Menschliche Körper zu öffnen war, von Ausnahmen abgesehen, bis zum späten Mittelalter aus religiösen Gründen tabu. Ärzte konnten allenfalls nach Verletzungen mäßig tief in klaffende Wunden blicken.
(…)
Unter diesen Bedingungen dauerte es Jahrhunderte, bis sich die Anatomie als empirische Wissenschaft etablierte. Einen Ort, an dem die Seele sitzt, haben die Gelehrten seither zwar nicht gefunden. Doch sie haben begriffen, wie der Körper funktioniert – und viele Mythen widerlegt, die sich mangels Einblicks seit der Antike gehalten hatten. Der britische Autor Colin Salter hat 150 historische Anatomie-Bücher zusammengetragen, um diese lange Entwicklung nachzuzeichnen („Die Geschichte der Anatomie“, Haupt-Verlag). Das Ergebnis ist eine Reihe teils eindrucksvoller Bildzeugnisse, mit denen der Text jedoch kaum Schritt halten kann.
Die ältesten anatomischen Darstellungen in Salters Sammlung stammen von Ibn Sina, im Westen als Avicenna bekannt. Er vollendete im Jahr 1025 christlicher Zeitrechnung in Isfahan seinen „Kanon der Medizin“, der lange die Heilkunde prägte, auch in Europa. Avicenna öffnete selbst keine Körper, denn auch der Islam untersagte Sektionen von Menschen. In seinem „Kanon“ fasste er vor allem Ideen aus der Antike zusammen. Vereinzelt illustrierte er sie auch.
(…)
Ein junger Mann wühlt im Gedärm eines Leichnams herum, der Meister sitzt dabei und verweist auf das Lehrbuch: Dieses Bild schmückt die 1316 vollendete „Anathomia corporis humani“ von Mondino dei Luzzi. Das Werk gilt als erstes modernes Anatomie-Buch. Medizingeschichte hatte Mondino jedoch bereits im Jahr zuvor geschrieben: Da hatte er an der Universität von Bologna mit Erlaubnis der Kirche erstmals öffentlich eine Leiche seziert.
(…)
Sektionen hatte es zuvor nur in Ausnahmefällen gegeben; vor allem an der Wende zum dritten vorchristlichen Jahrhundert in Alexandria im hellenistischen Ägypten. Dort hatten die makedonischen Herrscher anatomische Studien am Menschen im Dienste der Wissenschaft erlaubt. Die Ärzte Herophilos und Erasistratos öffneten daraufhin die Körper hingerichteter Verbrecher, sie gelten als Väter der Anatomie. Umstritten ist, ob sie auch lebende Gefangene sezierten; womöglich erhoben erst spätere Autoren diesen Vorwurf, um die Anatomie in Verruf zu bringen. Falls das so war, hatten sie damit Erfolg. In christlicher Zeit waren Sektionen lange verboten.

Ich hoffe, dass damit das leidige Thema erledigt ist.
 
In Bezug auf das kirchliche Verbot von Anatomiestudien – Zitat aus der heutigen SZ:

Menschliche Körper zu öffnen war, von Ausnahmen abgesehen, bis zum späten Mittelalter aus religiösen Gründen tabu. [...]

Ich hoffe, dass damit das leidige Thema erledigt ist.
Du meinst, wenn Du einen Zeitungstext findest, in dem ein populärer Irrtum/Mythos reproduziert wird, ist das Thema "erledigt"?

Wer geschichtliche Themen diskutieren will, muss Quellen bringen. Stumpfsinnige Wiederholung unbelegter Thesen oder widerlegter Mythen ersetzt keine Argumentation.
 
Wer geschichtliche Themen diskutieren will, muss Quellen bringen.
Du meinst, ich müsste mir die Arbeit machen, die der oben genannte britische Autor Colin Salter bereits getan hatte, und dessen Arbeit zwei Autoren mit akademischer Ausbildung kritisch unter die Lupe genommen haben?
 
Du meinst, ich müsste mir die Arbeit machen, die der oben genannte britische Autor Colin Salter bereits getan hatte, und dessen Arbeit zwei Autoren mit akademischer Ausbildung kritisch unter die Lupe genommen haben?
Musst Du nicht, allerdings stimme ich @Sepiola dahingehend zu, dass Deine Einschätzung, das Thema sei damit "erledigt", voreilig scheint. Im Übrigen ist natürlich nach der Lehrmeinung zu fragen, und ob Salter mit dieser übereinstimmt oder eine abweichende Meinung vertritt.

Der Artikel (der Paywall wegen kann ich mich nur auf die zitierten Stellen beziehen) ist leider sehr allgemein gehalten. Ein "Tabu" kann alles sein – vom expliziten und drakonisch durchgesetzten Verbot bis zur bloßen Missbilligung.

Auch Sätze wie "in christlicher Zeit waren Sektionen lange verboten" sind sehr unspezifisch und werfen Fragen auf. Wer hatte das Verbot ausgesprochen? Wie mächtig war diese Autorität, gab es Ausnahmen, gab es andere Autoritäten, die andere Auffassungen vertraten?

Abgrenzungsprobleme tun sich hier auf. Wenn z.B. der Papst als Landesherr des Kirchenstaates Sektionen in seinem Machtbereich untersagte, oder wenn die Franziskaner gegen Leichenöffnungen waren und die Dominikaner dafür, bestand dann ein Verbot für "die Christenheit"?

Ich denke da z.B. an das 1299 von Bonifaz’ VIII. ausgesprochene Verbot, Leichen auszukochen. Hier stand der Klerus in den einzelnen Reichen oft im Widerspruch zur päpstlichen Bulle und nickte die Wünsche der weltlichen Fürsten ab, wieder unter Verweis auf die Religion.
 
Du meinst, ich müsste mir die Arbeit machen, die der oben genannte britische Autor Colin Salter bereits getan hatte, und dessen Arbeit zwei Autoren mit akademischer Ausbildung kritisch unter die Lupe genommen haben?

Ja, das ist eine furchtbare, eine grauenhafte Zumutung, dass man Behauptungen oder Thesen belegen muss oder wenigstens für die steilsten Thesen hin und wieder mal einen Beleg liefern muss.

Aber so funktioniert das nun einmal. Es sind so die Spielregeln.

Furchtbar, dass man sich die Mühe machen muss, Wikipedia-Artikel oder sogar noch richtige Bücher zu lesen.

Aber irgendwo ist es doch nur fair: Ohne Quellen sind wir nichts, wenn man argumentiert, dann eben auf der Basis von Quellen, auf der Basis von Logik, auf der Basis dessen, was plausibel erscheint, was sich durch Belege, Quellen erhärten lässt.


Wenn in einer Diskussion alle in der Pflicht stehen, Thesen zu untermauern mit Belegen. und alle halten sich dran, einer aber nicht. Wenn ein Diskutant sich permanent darüber hinweg setzt- dann funktioniert die Diskussion eben nicht, ebenso wenig wie jedes beliebige Spiel, jeder Wettkampf. Es hat seine guten Gründe, warum in jeder Kampfkunst, jedem Kampfsport Tiefschläge, Kratzen und Beißen verboten sind.

Es hat seine guten Gründe, weshalb es nicht erlaubt ist, beim Elfmeterschießen den Tormann mit einem Baseballschläger niederzuschlagen.

Ein einziger Spieler, der sich nicht an die Regeln hält, genügt, um ein Fußball-Match unmöglich zu machen.

Würde man auch nur einem Spieler erlauben, die Regeln ständig zu missachten, sich darüber hinwegzusetzen, in kürzester Zeit würde niemand mehr mit diesem einzelnen Spieler spielen wollen- die ständige Missachtung von Regeln macht jedes Spiel unmöglich.

Wenn jemand nur Behauptungen aufstellt ohne Belege, die anderen aber sich die Mühe machen müssen, ihre Beiträge zu belegen, dann funktioniert die Diskussion ebenso wenig wie eine Schachpartie, ein Fußballmatch funktionieren, wenn ein Spieler ständig die Regeln verletzt.
 
Im Übrigen ist natürlich nach der Lehrmeinung zu fragen, und ob Salter mit dieser übereinstimmt oder eine abweichende Meinung vertritt.
Ich weiß nicht, ob die Frage nach der Lehrmeinung uns hier weiterbringt. Die Lehrmeinung des Galens* (Viersäftelehre) beherrschte 1300 Jahre die ärztliche Kunst, obwohl sie keinerlei Beweise hatte, seine mangelhafte Kenntnis der menschlichen Anatomie beweist das.

Da muss man sich schon fragen, warum haben sie so lange keine oder kaum Ahnung vom Aufbau des menschlichen Körpers gehabt. Warum ist man nicht früher an die Leichen gegangen, wovon es auch in jenen Zeiten genug gab? Dafür muss es Gründe gegeben haben, oder?

Und weil diese Unkenntnis in ganz Europa vorherrschte, kann dafür kein engstirniger Fürst, König oder Kaiser haftbar gemacht werden, sondern die Herrschaft der beiden Kirchen – katholischen wie orthodoxen –, die allein überregional über eine Moral oder Sitte wachten, die sie möglicherweise von früher, also aus vorchristlicher Zeit, übernommen haben.

Aber die Tatsache, dass Leichenöffnungen zur Erkenntnisgewinn schon im 3. Jhdt. BC in Alexandria durch Herophilos und Erasistratos stattfanden, spricht gegen die Annahme, ein Verbot der Anatomiestudien wäre übernommen und von den Kirchen nur weiter tradiert worden.** Zumindest in Ägypten zur Zeit der Ptolemäer war das wohl kein Problem.

Dass anatomischen Studien der alexandrinischen Schule später in Verruf gerieten, trugen auch Polemiken und Unterstellungen des Kirchenschriftstellers Tertullian bei, der schrieb, dort würde auch Vivisektion betrieben.

Aber das ist man ja gewohnt von diesem Kirchenmann – er sorgte mit seiner Schrift De Spectaculis z.B. für den Niedergang des Theaters in der Spätantike und Frühmittelalter mit, weil der Besuch eines Schauspiels eines Christen unwürdig sei. Warum? Weil da angeblich Trunkenheit und Wollust herrschten und die Schauspieler u.a. Effekte nur vortäuschen. Dass das die eigentliche Aufgabe der Schauspieler ist, lässt er wahrscheinlich unter den Tisch fallen. Ich vermute, auch deswegen standen Spielleute und Schauspieler im christlichen Europa an unterem Ende der sozialen Skala, höfische Troubadours mal ausgenommen. Das im Gegensatz z.B. zu den Griechen der vorchristlichen Zeit.

* Galens war sicher einer der besten Ärzte seiner Zeit und war als solcher der Arzt von 3 Kaisern: des Mark Aurels, Commodus und des Septimius Severus.

** Das Verbot der Sektion kann man nicht mit der Wahrung der Totenruhe rechtfertigen, denn die Kirche als Institution selbst betrieb seit dem Frühmittelalter schwunghaften Handel mit Körperteilen verstorbener, die man für Heilige hielt und nach wie vor hält. Auf diesen Tatbestand habe ich schon früher hingewiesen.
 
Furchtbar, dass man sich die Mühe machen muss, Wikipedia-Artikel oder sogar noch richtige Bücher zu lesen.
Bücher wurden, wie jeder weiß von Mönchen geschrieben.
Es handelt sich also im wesentlichen um Kirchenpropaganda, deswegen müssen sie und ihr inhalt aus der Diskussion verbannt werden, da sie offensichtlich parteiisch und befangen sind. :p
 
Ich weiß nicht, ob die Frage nach der Lehrmeinung uns hier weiterbringt. Die Lehrmeinung des Galens* (Viersäftelehre) beherrschte 1300 Jahre die ärztliche Kunst, obwohl sie keinerlei Beweise hatte, seine mangelhafte Kenntnis der menschlichen Anatomie beweist das.

Da muss man sich schon fragen, warum haben sie so lange keine oder kaum Ahnung vom Aufbau des menschlichen Körpers gehabt. Warum ist man nicht früher an die Leichen gegangen, wovon es auch in jenen Zeiten genug gab? Dafür muss es Gründe gegeben haben, oder?

Und weil diese Unkenntnis in ganz Europa vorherrschte, kann dafür kein engstirniger Fürst, König oder Kaiser haftbar gemacht werden, sondern die Herrschaft der beiden Kirchen – katholischen wie orthodoxen –, die allein überregional über eine Moral oder Sitte wachten, die sie möglicherweise von früher, also aus vorchristlicher Zeit, übernommen haben.

Aber die Tatsache, dass Leichenöffnungen zur Erkenntnisgewinn schon im 3. Jhdt. BC in Alexandria durch Herophilos und Erasistratos stattfanden, spricht gegen die Annahme, ein Verbot der Anatomiestudien wäre übernommen und von den Kirchen nur weiter tradiert worden.** Zumindest in Ägypten zur Zeit der Ptolemäer war das wohl kein Problem.

Dass anatomischen Studien der alexandrinischen Schule später in Verruf gerieten, trugen auch Polemiken und Unterstellungen des Kirchenschriftstellers Tertullian bei, der schrieb, dort würde auch Vivisektion betrieben.

Aber das ist man ja gewohnt von diesem Kirchenmann – er sorgte mit seiner Schrift De Spectaculis z.B. für den Niedergang des Theaters in der Spätantike un
Frühmittelalter mit, weil der Besuch eines Schauspiels eines Christen unwürdig sei. Warum? Weil da angeblich Trunkenheit und Wollust herrschten und die Schauspieler u.a. Effekte nur vortäuschen. Dass das die eigentliche Aufgabe der Schauspieler ist, lässt er wahrscheinlich unter den Tisch fallen. Ich vermute, auch deswegen standen Spielleute und Schauspieler im christlichen Europa an unterem Ende der sozialen Skala, höfische Troubadours mal ausgenommen. Das im Gegensatz z.B. zu den Griechen der vorchristlichen Zeit.

* Galens war sicher einer der besten Ärzte seiner Zeit und war als solcher der Arzt von 3 Kaisern: des Mark Aurels, Commodus und des Septimius Severus.

** Das Verbot der Sektion kann man nicht mit der Wahrung der Totenruhe rechtfertigen, denn die Kirche als Institution selbst betrieb seit dem Frühmittelalter schwunghaften Handel mit Körperteilen verstorbener, die man für Heilige hielt und nach wie vor hält. Auf diesen Tatbestand habe ich schon früher hingewiesen.

Gibt es für deine Ausführungen über die Medizinhistorie und den Verfall der Theaterkultur irgend etwas, das diese Deutungen stützt, eine Publikation, die das stützt, was du hier als Tatsachenbehauptung aufstellst? Ich frage, weil mich interessiert ob da die eigene oder fremde Phantasie am Werke waren.


Tertullian? Ich hatte eher den Eindruck, dass da eher ständige Bürgerkriege in der Zeit der Reichskrise , und der Verfall der Griechisch-Kenntnisse, Literaturverluste, Barbareneinfälle und zuletzt die Gotenkriege die Spielpläne ein bisschen mehr in Verwirrung brachten. Beim Militär musste man in der Reichskrise teilweise auf schriftliche Befehle verzichten, weil zuviele Analphabeten. Das wird die Spielpläne wohl eher ausgedünnt haben, als Tertullian.

So ganz abwegig wird Tertullian mit lockeren Sitten gar nicht gelegen haben. Genau das gleiche beschreiben Ovid oder Catull. Ovid empfahl zum Frauenaufreißen den Circus und das Theater, und dass die Grenzen zwischen Schauspielerinnen und Prostituierten mitweilen fließend, wie auch Prokopios von Caesarea zu berichten weiß. Da war Rom, oder besser gesagt Konstantinopel schon seit über 200 Jahre christlich.
Auch in der Antike dürften je nach Provinz


Galen von Pergamon war Leibarzt dreier Kaiser, und vorher war er Gladiatorenarzt in Pergamon.

Das glaubst du doch wohl selber nicht, dass der keine Ahnung von Anatomie gehabt haben soll! Die antiken Ärzte hatten sogar umfassende Kenntnisse der Anatomie. Galen studierte u. a. in Alexandria und er ging, nach dem Wikiartikel zu Galen nach Alexandria, weil nur dort die Vivisektion und Experimente an Leichen zugelassen waren.

Wiki führt das nicht aus-wenn das stimmt, dann war das

Also Galen der hatte nun wirklich Ahnung von Anatomie.

Das Problem der antiken bis frühneuzeitlichen Medizin war auch nicht, mangelnde anatomische Kenntnisse. Die antike Medizin wusste noch nichts vom Blutkreislauf, von Viren oder Bakterien, von Übertragungswegen. Es gab auch noch keine Mikroskope oder Penicillin.

Das Problem der Medizin war 1. Sie konnte nicht viel gegen Blutverlust tun, und 2. dazu mangelnde Sepsis.

Mit angeblicher ideologischer Verblendung hat das nichts, aber auch gar nichts zu tun, und wenn Die Humoralpathologie von Hippokrates oder Galen konnte die Ursachen von Krankheiten oft nicht auf ihre wirklichen Ursachen zurückführen und auf Symptome nur reagieren.
In der Chirurgie waren bestimmte Eingriffe bis ins 19. und 20. Jahrhundert undurchführbar.

Das waren sie aber nicht, weil es an anatomischen Kenntnissen fehlte, oder wegen ideologischen Vorurteilen, sondern wegen 1. und 2. Blutverlust und Sepsis, weil man Patienten nicht in Narkose versetzen konnte, weil es an Lokalanästhetika fehlte, weil Erfinderungen wie die Unterdruckkammer fehlten.




In Pharmakologie, Anatomie, Diätik besaß Galen sehr gute Kenntnisse, und viele seiner Ratschläge mochten vielleicht nicht die wahren Ursachen erkennen, sie haben aber zumindest Linderung verschafft.
 
Ich weiß nicht, ob die Frage nach der Lehrmeinung uns hier weiterbringt. Die Lehrmeinung des Galens* (Viersäftelehre) beherrschte 1300 Jahre die ärztliche Kunst, obwohl sie keinerlei Beweise hatte, seine mangelhafte Kenntnis der menschlichen Anatomie beweist das.
Ich meinte die Lehrmeinung der Historiker. Das war ein allgemeinerer Einwand, und nicht einmal ein Positionbeziehen meinerseits in der konkreten Streitfrage (tatsächlich glaube ich, dass Du Recht hast, jedenfalls was die Zeit bis zum Spätmittelalter anlangt). Falls wir nur aneinander vorbeireden, wie ich vermute, dann entschuldige die unnötige Ausführlichkeit, aber falls nicht:

Wenn der von der 'SZ' zitierte Historiker ein universelles Verbot der Sektion (vor dem Spätmittelalter) für eine Tatsache hält, ist das schon mal ein informierter Debattenbeitrag und ein Beleg für Deine entsprechende Behauptung. Damit ist aber noch nicht das Thema "erledigt". Und auf dieses Wörtchen bezogen sich @Scorpio und @Sepiola mit ihrer Kritik.

Erledigt ist das Thema, wenn klar ist, dass Colin Slater eine in den Geschichtswissenschaften akzeptierte (weil belegte) Lehrmeinung vertritt.

Oder es ist erledigt, wenn Colin Slater zwar abweichend zur vorherrschenden Meinung steht, aber bessere Argumente (bspw. neue Erkenntnisse) vorbringt.

Was nun Galen anlangt, @Scorpio hat darauf eine meiner Ansicht nach zutreffende Erwiderung angeboten. Die anatomischen Kenntnisse waren gar nicht mal gering, nur nützten sie eben wenig in einer Zeit, in der aus anderen Gründen viele Zusammenhänge nicht erfasst werden konnten.
Und weil diese Unkenntnis in ganz Europa vorherrschte, kann dafür kein engstirniger Fürst, König oder Kaiser haftbar gemacht werden, sondern die Herrschaft der beiden Kirchen – katholischen wie orthodoxen –, die allein überregional über eine Moral oder Sitte wachten, die sie möglicherweise von früher, also aus vorchristlicher Zeit, übernommen haben.
Sowohl die weltlichen Fürsten als auch der regionale Klerus hat ein umfassendes Sektionsverbot jedenfalls wohl nicht immer vollumfänglich beachtet. Ich meine gelesen zu haben, dass in Salerno bis ins Hochmittelalter Sektionen vorgenommen worden seien. Dann gab es wohl ein Intermezzo mit Schweinen, dessen anatomische Ähnlichkeit seinerzeit schon bekannt war und u.a. den Hof des zweiten Friedrichs mit Rom in Konflikt brachte.

Auch in anderen Bereichen kam es zu Verstößen. Eduard I. von England ordnete entgegen der Bulle Bonifaz’ an, dass man seinen Leichnam auskochen sollte, er wollte, dass sein Herz neben seiner geliebten Eleonore bestattet würde, während seine Knochen zusagen in effigie weiter Krieg gegen die Schotten führten. Robert von Winchelsey, der Erzbischof von Canterbury, hat ihm dies auch gestattet, dabei war er ein Gegner Eduards.

Daher meine Frage, wie umfassend dieses Verbot war, wo es galt und wie es durchgesetzt wurde.

Mich würde z.B. interessieren, ob das Verbot sich auch auf Menschen erstreckte, denen nach kirchlichem Dogma keine Auferstehung zuteilwerden konnte, also primär Moslems und Heiden*?

*) Möglicherweise auch Juden, mir ist momentan nicht in Erinnerung, ob die spätmittelalterliche theologische Auffassung, dass auch Juden "teilweise" der Auferstehung teilhaftig werden konnten, bereits in Spätantike und Frühmittelalter galt.

Was ist mit Selbstmördern? Mit ungetauft gestorbenen Kindern? Was ist mit Verbrechern, mit deren Leichen oft beliebig umgesprungen wurde?

Was ist mit dem hypothetischen Fall, jetzt mal unabhängig davon, wie realistisch er wäre, dass irgendein Atheist, Humanist oder Verrückter in seinem Testament verfügte, man möge seinen Körper den medicis von Salerno vermachen?

Der Kirche ging es vornehmlich um die Wahrung ihrer Autorität, Wissenschaftler und sogar abweichende Theologen konnten durchaus gegen den Sinngehalt kirchlicher Verbote zuwiderhandeln, wenn sie nur nicht die kirchliche Autorität herausforderten. Radikale Ideen und häretische Lehren konnten etwa in Dialogen durchaus diskutiert werden, solange der Autor nur nicht ausdrücklich Position für sie bezog. Es ist und bleibt ein Mythos, dass die Kirche per se wissenschaftsfeindlich gewesen sei, tatsächlich gehörte sie zu den größten Förderinnen der Wissenschaft.

Es sollte eben nur eine systemtreue Wissenschaft sein.
 
** Das Verbot der Sektion kann man nicht mit der Wahrung der Totenruhe rechtfertigen, denn die Kirche als Institution selbst betrieb seit dem Frühmittelalter schwunghaften Handel mit Körperteilen verstorbener, die man für Heilige hielt und nach wie vor hält. Auf diesen Tatbestand habe ich schon früher hingewiesen.

Na ja, Reliquienhandel und "Organhandel" das sind aber schon noch zwei ganz verschiedene paar Schuhe. Es gibt einen alten Archäologen-Witz-Der Unterschied zwischen Archäologie- und Leichenschändung? Archäologen buddeln nur Leichen aus, die nicht mehr stinken.

Es kam vor, dass Leichen verurteilter Krimineller in die Anatomie geliefert wurden. Klagen über Störung der Totenruhe, massive Grabschändung, das muss aber schon ein Phänomen gewesen sei, späte Nachahmer sind Dr. Robinson, Injun Joe und Muff Potter aus Mark Twains Tom Sawjer, die nachts losziehen, um Tote auszubuddeln- das war ein Problem, und das mal anzusprechen da war die Kirche sogar in der Pflicht etwas zu tun.

Bei der Sektion spielt aber noch eine ganz andere Erwägung als Störung der Totenruhe, Grabschändung eine Rolle: Studenten, Doktoren, Magister, Professoren unterstanden der Kirche. Das waren Kleriker, Welt-Geistliche, die wie Studenten die niederen Weihen oder wie Lehrende die höheren Weihen besaßen und besitzen mussten. Die Selbstverwaltung und Gerichtsbarkeit, die Universitäten bis in die Neuzeit, bis heute besitzen, lag daran, dass die Universitäten Teil der Kirche waren und formal der Kirche unterstellt waren und die weltliche Gerichtsbarkeit überhaupt keine Macht über sie hatten-was Studenten reichlich ausnutzten.

Die These von der Wissenschaftsfeindlichkeit der Kirche basiert auf einem Missverständnis. Man wird im Mittelalter gar keinen Wissenschaftler finden, der nicht Kleriker, Weltgeistlicher war. Die hatten kein Zölibat, Ärzte durften heiraten, aber sie mussten die niederen Weihen besitzen.

Ärzte oder angehende Ärzte mussten aber die höheren Weihen besitzen, und mit den höheren Weihen durften sie kein Blut vergießen und sie durften keine Leichen öffnen. Deswegen musste man aber nicht auf Sektionen verzichten. Und nichts wäre falscher, als anzunehmen, dass die deswegen keine Ahnung von Anatomie hatten und haben konnten.
Das ist eine weitverbreitete Urban Legend.

Der Hintergrund von dem Sektionsverbot- ist nicht "Wissenschaftsfeindlichkeit"- und natürlich konnte man sezieren. Das Sektionsverbot basiert darauf, dass Ärzte und Professoren im weiteren Sinne Kleriker mit Weihen waren und als Kleriker kein Blut vergießen und keine Leichen öffnen durften.
Deswegen brauchte man aber nicht auf Sektionen verzichten: Denn was hat man gemacht? Die Leichenöffnung übernahm dann einfach ein Wundarzt oder Bader, ein Handwerker, ein Laie der eben nicht die niederen oder höheren Weihen besaß und der nicht den Beschränkungen unterlag. Der Wundarzt, schnitt für den Arzt oder Professor auf, Der Wundarzt oder Famulus sezierte, der Professor erklärte, und die Studenten sahen zu.
 
Der Hintergrund von dem Sektionsverbot- ist nicht "Wissenschaftsfeindlichkeit"- und natürlich konnte man sezieren. Das Sektionsverbot basiert darauf, dass Ärzte und Professoren im weiteren Sinne Kleriker mit Weihen waren und als Kleriker kein Blut vergießen und keine Leichen öffnen durften.

Hilf mir mal auf die Sprünge: Angehörige diverser christlicher Militärorden waren doch mitunter auch im weiteren Sinne Kleriker, hatten aber eher kein Problem damit Blut zu vergießen.

Wie passt das zusammen?
 
Hilf mir mal auf die Sprünge: Angehörige diverser christlicher Militärorden waren doch mitunter auch im weiteren Sinne Kleriker, hatten aber eher kein Problem damit Blut zu vergießen.

Wie passt das zusammen?
Bei Ketzern und Ungläubigen galten diese Einschränkungen nicht. Und beim Kampf gegen andere Christen waren kämpfende Prälaten mitunter erfinderisch. In etwa so, wie auch die Mongolen kein adliges Blut vergossen – sie nähten hinzurichtende Adlige der Araber, Rus und Europäer in Teppiche ein und überritten sie mit Pferden. Mancher gewappnete und geharnischte Bischof schwang einfach den Streitkolben anstelle des Schwerts.
 
Bei Ketzern und Ungläubigen galten diese Einschränkungen nicht. Und beim Kampf gegen andere Christen waren kämpfende Prälaten mitunter erfinderisch. In etwa so, wie auch die Mongolen kein adliges Blut vergossen – sie nähten hinzurichtende Adlige der Araber, Rus und Europäer in Teppiche ein und überritten sie mit Pferden. Mancher gewappnete und geharnischte Bischof schwang einfach den Streitkolben anstelle des Schwerts.
Dann allerdings war das mit den Anatomischen Erkenntnissen qua Section auch kein Problem.

Nicht christliche Sklaven, die man nach ihrem Ableben sezieren konnte, gab es gerade in den am Mittelmeer gelegenen Regionen ja durchaus öffter mal so dass interessierte Ärzte relativ problemfrei entsprechende Leichnahme gefunden haben würden.
 
Hilf mir mal auf die Sprünge: Angehörige diverser christlicher Militärorden waren doch mitunter auch im weiteren Sinne Kleriker, hatten aber eher kein Problem damit Blut zu vergießen.

Wie passt das zusammen?

Ich habe nicht gesagt, dass es zusammen passt. Dass man etwas nicht darf, heißt ja noch lange nicht, dass man es nicht kann, dass man es nicht macht. Laut irgendeinem Beschluss wurde mal die Armbrust als unchristliche Waffe gebannt, für Nichtchristen und Ungläubige wurde dann ein Dispens eingeführt.

Es haben Tausende von Menschen gegen Fastengebote verstoßen- auch Kleriker. Da hat man die Zoologie etwas weiter gefasst und Biber verzehrt, und da hat man auch recht pragmatisch nach Lösungen gesucht, flüssige, gehaltvolle Nahrung zu entwickeln. Dass etwas unterlaufen wird, dass es gebrochen wird- heißt ja nicht, dass bestimmte Regeln deshalb nicht existierten, dass man die durchaus auch ernst genommen hat.

Die mittelalterliche Teichwirtschaft und Fischzucht war nicht zuletzt auf Fastengebote zurückzuführen.

Dass Gebote, Vorschriften und Bestimmungen unterlaufen, gebrochen, missachtet wurden, dass sie pragmatisch ausgelegt werden, ist ja nun auch nicht so überraschend. Die StVO wird millionenfach täglich gebrochen und ist doch wirksam.

Mir ging es dabei auch um etwas ganz anderes,- darum, was eigentlich wirklich hinter "Sektionsverboten" steckt, dass Ärzte oder Universitätsdozenten eben im Mittelalter zur Kirche gehören und dass Studenten, Doktoren und Magister die niederen oder höheren Weihen ablegten- Da geht es eben um eine Klientel, die man vordergründig auch gar nicht als Kleriker auf dem Schirm hat. Mir ging es darum, überhaupt mal sich klarzumachen, was hinter "Sektionsverboten" wirklich steckt.

Wenn Ärzte keine Leichen aufschneiden durften, dann lag das vor allem daran, dass sie die niederen und höheren Weihen abgelegt hatten und kein Blut vergießen durften. Dass es trotzdem getan wurde, dass reihenweise Studenten in Raufhändeln und Duellen getötet wurden- das heißt ja nicht, dass nicht bestimmte Regeln existiert hätten. Es kam häufig vor, dass mittelalterliche Ärzte Bader und Wundärzte konsultierten, die bestimmte Handgriffe übernahmen.

Deswegen war es aber nicht so, dass die keine Ahnung von Anatomie gehabt hätten. Natürlich kannte man die menschliche Anatomie, natürlich konnte man Leichen öffnen, ließ bestimmte Handgriffe von Laien erledigen und natürlich waren manche Bestimmungen unsinnig aus moderner Sicht.

Aber so barbarisch, hinterwäldlerisch und rückschrittlich die mittelalterliche Medizin mitunter dargestellt wird, war sie nicht. Im Rahmen der technischen Möglichkeiten der Zeit wird man sie durchaus als fortschrittlich bezeichnen müssen. Für Blutkreislauf, das Nervensystem, für Epidemien, Infektionswege, für Viren und Bakterien für Vitamine hatte man keine Erklärungen, kein Röntgen und Ultraschall auch noch keine Blutkonserven.

Vielem war die Medizin machtlos: Die heilende Kraft von Pflanzen, die Heilpflanzenkunde war hoch entwickelt, und Friedrich II. oder Hildegard von Bingen haben sich nicht allein auf Autoritäten der Antike verlassen, sondern haben die mit eigenen empirischen Versuchen überprüft, korrigiert erweitert.

Es gab noch keine Alkaloide und Derivate, viele Medikamente enthalten aber noch heute Wirkstoffe, die in Heilpflanzen enthalten sind.
 
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