Der Reihe nach von rückwärts:
1.
Sekundärliteratur ist Primärliteratur plus eine eigene nachträgliche Interpretation. Der Ausgangspunkt ist die Primärliteratur. Da muss doch die Frage erlaubt sein, ob diese verlässlich ist
die "Primärliteratur" (Du meinst sicher Primärquellen) ist teils zuverlässig, teils falsch. Das fängt bei Uhrzeitangaben an und hört bei bei falschen Positionsbestimmungen und falschen Entfernungsschätzungen auf. Die Krönung sind falsche Trefferberichte, falsche Versenkungen und falsche Schadensberichte.
2.
"Das englische Parlament soll 22 mal einen Bericht angemahnt haben. Ist das Deiner Meinung nach ein normaler Verfahrensgang?"
-> Beattys Verzögerungen habe ich angesprochen. Nein, ist es nicht, wenn auch aus Beattys Sicht nachvollziehbar.
3.
"Beim Internet Research habe ich nur gefunden, dass jemand meinte ein Exemplar in der University of California in Irvine (dort lehre Arthur Marder) gesehen zu haben. Ist das die übliche Dokumentenlage?"
-> die Primärquellen waren Marder frei zugänglich (siehe Marder Band III). Sie sind es nachfolgenden historischen Arbeiten gewesen, und sind zum größten Teil - siehe oben - veröffentlicht.
4.
"Wenn die „Official Despatches with Appendices” nicht mit dem Harper Report identisch sind, was sind das für Dokumente?
Skagerrak war 1916, Deine Veröffentlichung ist von 1920. Warum braucht man hierfür 4 Jahre? Scheer war mit seinem Bericht nach einem Monat fertig."
Die britischen Dokumente sind in größerer Ausführlichkeit und viele Jahre vor den deutschen Primärquellen (-> soweit lückenhaft in Marinearchiv Band enthalten) erschienen.
Nun, Scheers Bericht ist teilweise Dichtung, das ist einhellige Meinung - ein Beispiel: siehe Thema 2. Gefechtswende und die "Wiesbaden". Wenn Hipper eine "Blücher" zur Versenkung überläßt und seine Schlachtkreuzer in Sicherheit bringt, wird ein Scheer wohl kaum die Hochseeflotte riskieren zur Annäherung an einen Kleinen Kreuzer. Das dürfte zwar den Kaiser und die die Volksmeinung in den 20ern beiendruckt haben, hält aber keiner kritischen Betrachtung stand. Wie meinte Scheer nach seinem Bericht ironisch: für diese Manöver wäre er in Friedenszeiten zum Teufel gejagt worden. Scheers Bericht ist in den Details überwiegend korrekt, in denen er auch belanglos ist.
5.
"Was sind die „Official Despatches with Appendices”? Der Harper Report? Eine dritte Version von Skagerrak? "
->
Battle of Jutland 30th May to 1st June1916: Official Despatches with Appendices: Amazon.de: Englische Bücher
Der Band enthält die wesentlichen britischen Primärquellen, u.a.:
- CiC letter 1396/0022 vom 18.6.1916
- CiC letter 1415/0022 vom 20.6.1916
- CiC letter 1985/0022 vom 29.8.1916
- Report from Iron Duke
- Reports from 1st Battle Squadron
- Reports from 2nd Battle Sqd.
- Reports from 3rd Battle Sqd.
- Reports from 4th Battle Sqd.
- Letter V.A. Commanding the Battle Cruiser Fleet mit Reports from Lion, 1st BCS, 2nd BCS, 3rd BCS, 1st LCS, 2nd LCS, 3rd LCS,
- Reports from the 5th Battle Sqd.
- Reports from the Destroyer Flotillas
- Reports from 2nd CS
- Reports from 4th LCS
- Commodore Diary of Events
- Submarine Report
- Internd Officers Report
- Suppl. Reports from the 2nd and 4th Battle Squadrons
Appendices:
- Gunnery Reports
- Record of Messages bearing to the Operation
- Admiral Scheers Dispatch
- Letter from CiC dated 30th Oct 1914 and Admirality Reply dated 7th Nov 1914
- diverse Charts der wesentlichen Verbände und Schiffe.
6.
"Der Harper Report ist (laut wiki, die Roskill zitieren) am 14.05.1920 veröffentlicht worden, nach dem Harper – der seine Unterschrift wegen der zahlreichen Änderungen verweigerte – befohlen wurde seine Unterschrift zu leisten. Ist das üblich?"
Nein, ist es nicht. -> Beatty.
Die RCAI arbeitete von 1920 bis 1925. Ein Hauptpunkt der Untersuchungen waren britische Schwächen (Panzerung, Feuerleit etc.). Daraus entstand die Dreyer/Pollen-Kontroverse.
Ein früher Hinweis auf Richardson/Hurd: The Jutland Controversy, in Brassels Naval and Shipping Annual 1924. Bezüglich der Kontroverse sei auch auf Gordons Werk verwiesen: The rules of the game, 1996.
7.
"Mir ist nicht bekannt was danach passierte, jedenfalls soll Beatty weitere Änderungen von politischen Instanzen (Lord Long) verlangt haben (der engl. wiki Artikel über John Ernest Harper schreibt, die endgültige Veröffentlichung war 1927)."
-> das ist nach Roskills Biographie von Beatty korrekt. Siehe dazu auch:
Butler, Daniel Allen: Distant Victory - The Battle of Jutland and the allied triumph in the First World War
Chalmers. W. S.: David Earl Beatty (Biographie
Yates, Keith: Flawed Victory - Jutland 1916,
die diese Vorgänge behandeln.
Als Hinweis: Walter Long war First Lord of the Admiralty
Walter Long, 1st Viscount Long - Wikipedia, the free encyclopedia
Alle Boardmember der Admiralität (1924) waren während der Skagerrak-Schlacht unter Beattys Kommando.
Der Harper-Bericht wurde im Januar 1919 beauftragt, und wurde am 12.2.1920 von ihm abgeschlossen. Parallel schrieb Corbett an seiner Darstellung. Nach den Einsprüchen Beattys blieb vom Harper-Report nur die nackte Darstellung: "being nothing more than a bald chronological account of the movements of squadrons and flotillas".
Beatty inszenierte daraufhin die "appreciation" der Training and Stadd Duties Division (unter Walter Ellerton), erarbeitet durch Kenneth Dewar und A. C. Dewar, beide von der Historical Division. Dabei "assistierte" Pollen, der um Exkulpation wegen der Kritik an der Feuerleitung involviert war. Die Staff Appreciation wurde unter Verschluß gehalten, durfte von Corbett eingesehen 1924 werden. Das führte zur veränderten 2. Auflage von Corbetts Werk (1. Auflage 1923).
Um Dir den personifizierten und hochpolitischen Kampf um die Berichterstattung sowie die damalige Verschlußsache etwas transparent zu machen, hier ein Brief von Beatty an seine Ehefrau vom 23.2.1922:
"The battle rages on, and still we keep our heads above water, and on the whole i think holding our own. Winston [Churchill] and Birkenhead have supported us nobly and are continuing to do so. I think therefore we shall win in the end and defeat the Geddes Committee side. If not, a break in the cabinet is certain, and after that anything might happen."
Zur Erklärtung: hinausgreifend über das Ansehen der Personen und die Wertung der Skaggerak-Schlacht ist für den Kontext wichtig, dass es hier inzwischen um den Bau der späteren NELSON und RODNEY in Fortführung des dreadnought-Konzeptes ging.