So, habe das Buch "Rom und die Chatten" von Armin Becker jetzt durch.
Hier die Zusammenfassung der wesentlichen Ergebnisse.
- Ethnogenese und Anfänge des Stamms: hierzu gebe es wenige Erkenntnisse. Allerdings sei es in nachcaesarischer Zeit irgendwann zur Abspaltung der Bataver von den Chatten gekommen. Es ist nicht klar, wo beide Stämme zunächst lebten. Die Chatten seien zunächst Verbündete der Römer gewesen und unter der Statthalterschaft des Agrippa (38 v. Chr.) im Neuwieder Becken angesiedelt worden.
- Augusteische Kriege: Während der Feldzüge des Drusus (12 - 8 v. Chr.) hätten sich die Chatten im Jahr 11/10 v. Chr. auf die Seite der Sugambrer, des römischen Hauptfeindes gestellt, und seien in die Nähe deren Siedlungsgebiets gewandert. 9 v. Chr. seien die Sueben nach Südosten und Osten gezogen. Becker siedelt die Sueben in Nordhessen an. Die Chatten hätten dort deren Platz eingenommen. Die Vermischung mit einer suebischen Restbevölkerung hätte dazu geführt, dass der Stamm, der nach Angaben von Strabon noch um 20 v. Chr. einer der unbedeutenden germanischen Stämme war, mächtiger wurde.
Es sei nicht nachweisbar, dass die Chatten bei den Feldzügen des Ahenobarbus, Tiberius und Varus (1 - 9 n. Chr.) gegen die Römer gekämpft hätten.
- Der Krieg des Germanicus bis zum Bataveraufstand (9 - 70 n. Chr.): Nach der Varusschlacht seien die Chatten mit den Cheruskern ein Bündnis eingegangen. Die Chatten seien der Hauptgegner des Germanicus gewesen. 15 n. Chr. habe er die Chatten angegriffen, vermutlich weil er so die prorömische cheruskische Fraktion unter Segestes unterstützen wollte. Das Ergebnis sie jeodch "dürftig" gewesen, trotz der Niederbrennung des vermeintlichen Hauptorts Mattium. Gleiches gilt für die Aktionen des Jahres 16 gegen die Chatten. Das Hauptsiedlungsgebiet der Chatten lag nach Becker nach der Umsiedlung stets in Nordhessen nördlich der Eder. Die Germanengruppen im Gießener Becken lässt Becker nur unter Vorbehalt als "chattisch" durchgehen. Die Germanen im Neuwieder Becken sieht er wohl eher als "Usipeten" an. Die politische Entwicklung sei nun so gewesen, dass die Chatten im 1. Jahrhundert nach Christus der Hauptfeind der Römer an dieser Grenze gewesen seien. Dagegen hätten sie zu den Cheruskern wieder ein besseres Verhältnis entwickelt. Unter Claudius, vielleicht unter Caligula, seien die Gebiete der Wetterau langsam in römisches Interesse gerückt, was sich vor allem in der Errichtung des Kastells Hofheim äußere. Einen schweren chattischen Einfall in dieses Gebiet habe es um 50 gegeben. Im Jahr 69 brach der Bataveraufstand aus. Auch die Chatten starteten schwere Angriffe auf römisches Gebiet und belagerten zeitweise sogar Mainz. Die Aktion sei nicht mit den Batavern abgestimmt gewesen, sondern die Chatten hätten eher die Gunst der Stunde ausgenutzt.
- Die Flavier und die Errichtung des Limes (70 - 96). Vespasian startete eine große Expansion ins rechtsrheinische Gebiet. Das Hauptziel sei zunächst gewesen, günstigere Verkehrswege zwischen Obergermanien und Rätien zu schaffen und habe nichts mit den Chatten zu tun gehabt (73 - 75). Erst danach seien römische Truppen in die zu dieser Zeit nahezu unbesiedelte Wetterau vorgestossen. Die Errichtung von Militärposten sei friedlich vonstatten gegangen und habe dazu gedient, ein Vorfeld vor dem immer wieder stark bedrohten Mittelrhein zu schaffen.
Besonders interessant finde ich die Ausführung Beckers zum Chattenkrieg, die stark abwichen von dem, was ich bisher dazu las. 83 begonnen, habe dieser Krieg vor allem dazu gedient, Kaiser Domitian die nötige militärische Reputation zu verschaffen - ähnlich wie der Britannienfeldzug im Falle des Claudius. Darüber hinaus sei er aber tatsächlich maßvoll und strategisch klug ausgeführt worden. Becker stellt in Zweifel, ob der Feldzug überhaupt die chattischen Kerngebiete erreicht habe. Er glaubt eher, dass die Kämpfe im Bereich des Taunus und der Lahn statt fanden. Es sei nicht darum gegangen, die Chatten völlig zu unterwerfen oder aus Nordhessen zu vertreiben. Vielmehr sollte die römische Macht in der Wetterau konsolidiert werden. Das Zentrale sei die Errichtung des Limes gewesen, weniger die vorangegangenen, wahrscheinlich kleineren Gefechte.
Trotz der scharfen Kritik von Tacitus und Sueton am Chattenkrieg habe Domitian letztendlich seine innen- wie außenpolitischen Ziele mit der Aktion erreicht (Interessant finde ich, dass Becker Domitians Handlungen sehr positiv wertet). Der Erfolg der Grenzpolitik habe bis ins 3. Jahrhundert angedauert. Die nun sichere Grenze habe den Römern freie Hand im viel gefährdeteren Donauraum gegeben.
Die chattische Intervention im Saturninusaufstand (Januar 89) sieht Becker nicht als bedeutend an; tatsächlich kamen sie ja wegen des Tauwetters nicht über den Rhein. Ohnehin sei der Aufstand nur eine isolierte Aktion gewesen, die auf einer persönlichen Beleidigung des Saturninus durch Domitian beruhte (dieser habe in einer frühen Form des "outings" Saturninus der Homosexualität bezichtigt).
Vom Tod Domitians bis zum Limesfall (90 - 260): Nach dem Saturninus-Aufstand sei mit den Chatten ein Föderatenvertrag geschlossen worden. Danach seien die Verhältnisse an der Grenze ruhig gewesen. Chatteneinfälle in den Jahren 162 und 171 seien nicht weiter von Bedeutung gewesen. Der Feldzug Kaiser Caracallas im Jahr 213 habe sich möglicherweise auch gegen die Chatten gerichtet, wofür es aber keine Belege gibt. Den Limeseinfall von 233 sieht Becker nicht so schwerwiegend an wie die meisten anderen Forscher. Eine Teilnahme der Chatten daran sei nicht nachgewiesen und er sei wohl eher das Werk der Alemannen. Gleiches gilt für den Einfall um 260, der zur Aufgabe des Dekumatslands führte. Doch seien die meisten Kastelle wahrscheinlich planmäßig aufgegeben worden. Die Chatten hätten sich daran nicht beteiligt und waren auch nicht an der Wiederbesiedlung der Wetterau im frühen 4. Jahrhundert beteiligt.
Spätantike/Völkerwanderung: Beckers Arbeit hat den Ansatz, die Beziehungen zwischen Rom und den Chatten bis zum Limesfall zu untersuchen. Leider schreibt er daher auch nicht viel über die weitere Geschichte der Chatten. Becker schreibt, dass archäologische Funde andeuten, dass die Chatten ihre Blütezeit im 2./3. Jahrhundert erlebten und dass dann ein Bevölkerungsrückgang zu verzeichnen sei. Ansonsten folgt er den üblichen Ergebnissen, dass die Chatten dennoch weiter in ihrem Gebiet wohnten und sich im 7. Jahrhundert, nun schon als Hessi, mehr oder weniger freiwillig den Franken anschlossen.
Meine Meinung zum Buch: Leider lassen es die Quellen nicht zu, mehr über die Verwicklungen der Chatten in die augusteischen Kriege in Erfahrung zu bringen. Ansonsten finde ich Beckers Theorie hier sehr plausibel. Gleiches gilt für seine Ausführungen zur Errichtung des Wetteraulimes.
Der Hauptkritikpunkt an der Arbeit - für den Becker aber nichts kann - ist, dass sie m.E., obwohl sie erst 13 Jahre alt ist, in vielen Punkten schon veraltet ist.
Hauptsächlich gilt dies natürlich für die Vorgänge rund um den Limesfall. Man neigt in der Forschung dazu, das die Ersterwähnung der Alemannen doch ins späte 3. Jahrhundert fällt (ich glaube, das Jahr war 281). Damit stellt sich aber die Frage, wer die Einfälle nach Germanien und Rätien um 233 und 260 beging, und da könnten auch die Chatten wieder ins Spiel kommen.