Ich habe dann gestern noch
Hermeneutik des Konflikts: Kalkriese als Ort der Varusschlacht von Stefan Burmeister geslesen.
Wahrscheinlich bin ich damit hier 3 Jahre zu spät, ich habe jahrelang eure Diskussionen nicht verfolgt, der Text von Burmeister ist von 2022.
Und Ihr diskutiert fast zwei Jahrzehnte, es werden sich unweigerlich Fragen wiederholen, die schon verhandelt wurden (ich entdeckte gerade eine Diskussion zur Marschleistung von 2009 bei Kalkriese hier im Forum).
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Der Text lässt mich mit noch mehr Fragezeichen zurück.
1. Weg ins Unbekannte durch ein "Nadelöhr"? Immerhin reduziert sich im Text die Verkehrsfläche auf zwei trockene Bereiche von nur wenige hundert Meter breiten Sandrücken. Aber auch diese Breite ist für mich kein Engpass, um von Voraussetzungen für ein Defileegefecht zu sprechen.
Die Legionen konnten ohne weiteres in Kolonnen marschieren. Zusätzlich verliefen dort Altwege, nördlich auf dem Flugsandrücken. Es ist für mich kaum vorstellbar, dass dies den römischen Legionen nach zwei Jahrzehnten Okkupationspolitik unbekannt war, besonders weil die West-Ostbewegungen und Verbindungen für die Logistik entscheidend sind. Auch landschaftlich ist der Höhenzug von Norden aus gesehen markant, mag die Hügelkette auch aus Sicht eines Apennin - oder Voralpenbewohners lächerlich erscheinen.
2. Marschlager statt Germanenwall? Er argumentiert dafür, dass in der Engstelle am Nordhang des Kalkrieser Hügels unter Einbeziehung eines Fahrwegs ein Marschlager unbekannter Größe errichtet wurde, und der Rasensodenwall ein Teil der Befestigung des Lagers gewesen ist, dann wäre die These des Hinterhalts am Wall beziehungsweise eines Defileegefechts hinfällig. Er kritisiert: "
Die zum Kalkriese-Narrativ gehörenden Aspekte ›Defileegefecht‹, ›Verschrottung‹ und ›Beuteschau‹ sind weniger Ergebnis der Analyse als ihre Richtschnur. Dies wird insbesondere dann deutlich, wenn sich einzelne Fundgruppen nicht in dieses Narrativ einfügen wie zum Beispiel die gefundenen Mahlsteinfragmente und die Glasaugen (Rost 2012, S. 35; S. 40). Etliches muss so unerklärt bleiben, da alternative Deutungen nicht erwogen werden." (ich ahne jetzt ein wenig, was Shinigami meinte, es hätte eine anstrengende Debatte vor zwei Jahren um Mühlsteinfragmente gegeben).
3. Großes Marschlager?: Dann verwirft Burmeister den Einbezug des Walls als südliche Abgrenzung, sondern schlägt als Szenario vor,dass der Wall schon vor dem Lager bestand, und Teil der Begrenzung eines (aufgelassenen) germanischen Gehöfts war, und die eigentliche Südseite des Lagers hangaufwärts gelegen haben könne, d.h. das Lager wäre größer gewesen, als dies im Szenario Wall ist Südseite des Marschlagers ist (140m x 380 m mit Wall als Südseite).
In der Schlussbetrachtung meint Burmeister, dass dieses Lager erstürmt worden sein könnte. Hier könnte Groenegauers Einwurf "Verrat" ein Hinweis sein. Eine klassische Einnahmetaktik für Befestigungen bzw. Städte sind "trojanische Pferde", d.h. heimliche Unterstützer im Inneren einer Stadt, die Wachen überwältigen und Tore für Angreifer öffnen. Theoretisch wäre dies für Arminius und Segimerus leicht möglich gewesen.
Nur warum beschreiben Tacitus und Cassius Dio ein komplett anderes Szenario, das unser Geschichtsbild bis heute prägt? Liegt Florus Beschreibung nachher doch näher an der Realität?
Mich irritiert die Lage des Lagers, warum ist es im Tal direkt am Hang, und warum nicht hügelaufwärts auf einer Kuppe? Das liegt wahrscheinlich jedoch daran, dass ich es ungünstig finde, wenn ein Gegner von "oben" angreifen kann, wahrscheinlich ist die Steigung jedoch so sanft,
dass eine erhöhte Stellung keinen besonderen Vorteil gegenüber Wall und Palisade bekommt - ich kenne die Landschaft einfach nicht.
Diese ahnungslose Sorglosigkeit der Römer kann ich mir nur mit dem von den Historikern beschriebenen gelungenen Täuschungen erklären, dem großen Vertrauen in die cheruskischen Verbündeten und eines scheinbaren Friedens.
Folgt man Burmeister, bleibt von Rost/Wilbers-Rost Schlachtsezenario nur das Leichenfleddern römischer Legionäre nach der Schlacht übrig.
Dann erscheint mir die Debatte doch wieder auf "Null" zu stehen, beziehungsweise auf 2.0, wie Burmeister schreibt:
"Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass es hinreichende Anhaltspunkte gibt,das bisherige Kalkriese-›Narrativ‹ neu zu formulieren – zumindest gibt es, und das sollte dieser Beitrag vermitteln, großen Diskussionsbedarf."