jschmidt
Aktives Mitglied
Ich lese so vor mich hin und sehe dieses:
Es werden hier Aussagen über "den" bzw. "jeden" Menschen im mittelalterlichen Europa gemacht, die ich in ihrer Allgemeinheit und Absolutheit so nicht recht "fassen" kann. Aber vielleicht lässt sich das ja klären.
Zur Begrifflichkeit: Unrechtsbewusstsein ist, juristisch gesehen, ein Schuldkriterium, d. h.
1. Ist ein Täter nicht in der Lage, die Unrechtmäßigkeit seines Tuns zu erkennen, handelt er ohne Schuld.
2. Voraussetzung ist, daß er die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht hat erkennen können.
3. Hätte der Täter den Irrtum vermeiden können, kommt eine Strafmilderung in Betracht.
Vorab ein Zugeständnis: "Es ist schwer, ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln", erklärte SS-Rottenführer Percy Broad, einer der Hauptangeklagten im ersten Ausschwitz-Prozess.
Wie schwer müssen es denn erst die Leute im Mittelalter gehabt haben! Woran hätten sie erkennen können, ob sie Unrecht tun oder nicht. An den Zehn Geboten? An der Bergpredigt und anderen? An Gesetzesbüchern wie dem Sachsenspiegel? Wenn nein, warum nicht?
Vielleicht lag ja der Fall vor, den einer der Verteidiger im erwähnten Prozeß so beschrieben hat: Es könne sich bei den Tätern um Menschen gehandelt haben, "bei denen das Unrechtsbewußtsein aus ideologischen Gründen suspendiert, also ausgeschaltet worden sei."
Wenn ja - wer waren damals die "Ideologen"? Und was ist mit deren Unrechtsbewußtsein und deren Schuld? Ist am Ende gar keiner schuld?
Ich finde, das ist Diskussionsstoff für mehreren Minuten, wenn nicht sogar mehr.
@Geisteshaltung:
Biologisch mögen wir die gleichen Menschen sein, und ich bin auch geneigt zuzugeben, daß wir nach wie vor sehr grausam sein können o. dgl., dennoch aber trennen selbst den katholischen Christen von heute (er steht ja immerhin vergleichsweise direkt in der religiösen Tradition) Welten vom mittelalterlichen Menschen. Warum das so ist? Nun; ein wichtiger Ansatzpunkt dazu ist, daß unsere Gedankenwelt recht nachhaltig vom (Neo-)Humanismus und von der Auklärung geprägt ist.
Nur einige Kurzbeispiele dazu...
1. Heutzutage folgt man gern einem Aufruf o.ä., um Geld für arme Menschen oder für Menschen auf einem anderen Erdteil zu spenden. Das wäre im europäischen Mittelalter niemandem in den Sinn gekommen!
2. Heutzutage diskutieren wir - von nationalistisch verbohrten u.ä. Extremisten einmal abgesehen - interkonfessionell, interreligiös und interkulturell. Im europäischen Mittelalter wußte jede(r), daß nur die christliche Religion die Wahrheit in sich hatte und alle anderen Ungläubige waren, welche die göttliche Weltordnung gefährden konnten.
3. Daran anknüpfend: Wenn der Unglaube bzw. die Ungläubigen die göttliche Weltordnung wirklich gefährdeten, so war es ein Werk des Glaubens, gegen sie zu kämpfen und sie sogar zu töten (man sollte natürlich grundsätzlich als Christ gar keinen Menschen töten, doch wenn gläubige Christen unter der Herrschaft Ungläubiger litten, so war es besser, ihnen zu helfen als dem tatenlos zuzusehen). So etwas heute zu verfolgen, stieße auf breite Kritik und würde erheblichen (pazifistischen wie übrigens auch kirchlichen) Gegenwind verursachen - und das zu Recht!
4. Ebenso finden wir es heute auch nicht in Ordnung, wenn Menschen von ihrem Grund und Land vertrieben werden u. dgl. Auch das sah der mittelalterliche Mensch ganz anders: Für das, was rechtens war, war nur wichtig, ob man seinen Gott auf seiner Seite hatte; und das Land, was einem Gott schenkte (indem er einen selbst z.B. den Kampf gewinnen und überleben ließ), gehörte einem zu Recht.
5. Daraus ist der wichtigste Punkt abzuleiten: der mittelalterliche Mensch kannte i.d.S. kein Unrechtsbewußtsein (Gründe siehe 2. bis 4.), Menschen der Neuzeit jedoch schon - und wir erst recht!
Es werden hier Aussagen über "den" bzw. "jeden" Menschen im mittelalterlichen Europa gemacht, die ich in ihrer Allgemeinheit und Absolutheit so nicht recht "fassen" kann. Aber vielleicht lässt sich das ja klären.
Zur Begrifflichkeit: Unrechtsbewusstsein ist, juristisch gesehen, ein Schuldkriterium, d. h.
1. Ist ein Täter nicht in der Lage, die Unrechtmäßigkeit seines Tuns zu erkennen, handelt er ohne Schuld.
2. Voraussetzung ist, daß er die Unrechtmäßigkeit seines Handelns nicht hat erkennen können.
3. Hätte der Täter den Irrtum vermeiden können, kommt eine Strafmilderung in Betracht.
Vorab ein Zugeständnis: "Es ist schwer, ein Unrechtsbewusstsein zu entwickeln", erklärte SS-Rottenführer Percy Broad, einer der Hauptangeklagten im ersten Ausschwitz-Prozess.
Wie schwer müssen es denn erst die Leute im Mittelalter gehabt haben! Woran hätten sie erkennen können, ob sie Unrecht tun oder nicht. An den Zehn Geboten? An der Bergpredigt und anderen? An Gesetzesbüchern wie dem Sachsenspiegel? Wenn nein, warum nicht?
Vielleicht lag ja der Fall vor, den einer der Verteidiger im erwähnten Prozeß so beschrieben hat: Es könne sich bei den Tätern um Menschen gehandelt haben, "bei denen das Unrechtsbewußtsein aus ideologischen Gründen suspendiert, also ausgeschaltet worden sei."
Wenn ja - wer waren damals die "Ideologen"? Und was ist mit deren Unrechtsbewußtsein und deren Schuld? Ist am Ende gar keiner schuld?
Ich finde, das ist Diskussionsstoff für mehreren Minuten, wenn nicht sogar mehr.