Was hälst Du denn von einer Aufklärung "von unten"?
Ich schließe mich rena an: Gefällt mir! [1]
Dass Einzelne die von mir skizzierte Entwicklung durchlaufen, wird es zu allen Zeiten gegeben haben, im 18. Jh. vielleicht verstärkt; als Beispiel wird oft Bräker genannt [2], dem deswegen von seinen Standesgenossen sehr viel Ablehnung entgegenschlug - "mitziehen" lassen wollten sie sich von ihm keinesfalls.
Aber die Frage richtet sich ja schwergewichtig wohl darauf, ob eine
organisierte Aufklärung von unten stattfand. Vielleicht zunächst ein Hinweis zur Größenordnung: "Unten" meint das, was im 18. Jh. als "Volk" verstanden wurde, nämlich "den weniger gebildeten Teil der Bevölkerung, sozial eingegrenzt auf Bauern und unterbäuerliche ländliche Schichten, den durchschnittlichen Handwerker mit seiner Familie, die unteren Ränge in der Militär- und Verwaltungshierarchie, Dienstboten und städtische Unterschichten. ... Unter diesen Volksbegriff fallen etwa 80 % der deutschen Bevölkerung im 18. Jh...." [3]
Zunächst ist zu sagen: Es gab nichts, was sich etwa mit der sozialistisch-gewerkschaftlichen Arbeiterbildung des späten 19. Jh. und beginnenden 20. Jh. vergleichen ließe - einfach weil die Organisation dafür fehlte und weil auch kein - wie die Marxisten sagen - Klassenbewußtsein vorhanden war, das man als Vehikel hätte nehmen können.
...dass ein großer Teil der Bevölkerung vom Geistesleben (inkl. Aufklärern) kaum etwas mitbekam bzw. schon aus einem traditionellen Konservatismus (wie das klingt ) dem reserviert gegenüber stand.
Das ist ein wichtiger Faktor! Aufklärer klagten oft über den "Traditionalismus" gerade der Bauern - siehe das Sprichwort: "Was der Bauer nicht kennt, das frißt er nicht". Aber es bestand durchaus die Chance, solche "Lernwiderstände" zu überwinden, freilich weniger, indem man ihm "Hochgeistiges" vorsetzte, sondern indem man seine handfesten Bedürfnisse ansprach:
"Es scheint sinnvoller, hier im wirtschaftlichen Bereich nach geistiger Mobilität beim Bauern zu suchen, als nach Berichten über 'gelehrte Bauern' Ausschau zu halten, die sich mit Astronomie, Mathematik oder mit der Dichtkunst beschäftigten" [4] oder mit dem Problemen der Religionsfreiheit oder der Gewaltenteilung. Man muss kein Materialist sein, um zu erkennen, dass die Lebenssituation stärksten Einfluß hatte: "Wo die Agrarverfassung dem Bauern keinerlei Eigeninitiative ließ und wo ihn die pure Armut drückte, sucht man vergeblich nach Zeichen geistigen Interesses."
Wenn man "unten" etwas großzügiger definiert, gibt es durchaus vielfältige Bemühungen, das "Volk" auf irgendeine Art und Weise zu erreichen. Manche funktionierten nur in geringem Maße bzw. erst zu späterer Zeit, etwa die nach 1770 aufblühenden Lesegesellschaften. In Siegerts Übersicht [5] tauchen aber auch auf: Ausstellungen, Preisausschreiben, "Bauerngespräche", "Bauernwandern", Sonntags- und Arbeitsschulen, Volksfeste, Volkstheater und Bänkelsang....
Noch ein Hinweis zum Schulwesen: Schon lange vor der (angeblichen) Einführung der Schulpflicht wurden rudimentäre Kenntnisse durch die besonders in den Städten vorhandenen "Winkelschulen" vermittelt, von denen es in den deutschen Regionen mehrere Tausend gab. Die vermittelten sicher nichts "Aufklärerisches" und waren z.T. auch völlig nutzlos, aber - wie gesagt - wenn Kinder etwas Gedrucktes in die Hand bekamen, konnte das eben "Langzeitfolgen" haben.
Könnte die Unruhe in den unteren Schichten nicht schon vorher Gedankenanstoss für die lesenden und schreibenden Eliten gewesen sein. ...
Es gab, gerade auch in der Ära des Absolutismus, mehr Unruhe, sogar Aufstände, als ich mir früher vorzustellen vermochte. Ob "Aufklärer" hierauf gezielt reagiert haben, müsste man im Einzelfall überprüfen, wie überhaupt die Frage ihrer "Motivation" noch näher zu betrachten wäre.
Niedergang des Lateinischen als Wissenschaftssprache im Zusammenhang mit der Entdeckung Amerikas
Dieser Zusammenhang ist mir nicht völlig klar, und Daten speziell zur Wissenschaftssprache kenne ich nicht, stoße aber bei Wehler [6] auf folgende Zahlen: Vor 1740 betrug das Verhältnis der lateinischen Buchtitel zu den deutschen immerhin noch 38 zu 62 %, bis 1800 dann aber 4 zu 96 %. Auch die Relationen in der Buchproduktion selbst änderten sich: Theologisches Schrifttum fiel steil ab von 38 auf 14 %, "gelehrte Literatur" ein wenig von 49 % auf 41 %; praktisch-belehrende und technische Titel wuchsen von 3 auf 14 %, Schöngeistiges gar von 6 auf 22 %.
[1] Eine Kurzrecherche ergibt, dass dieser Topos speziell um 1800 einige Male in der Literatur vorkommt, wenngleich nicht unbedingt gleichsinnig; vgl.
Geist der spekulativen Philosophie ... - Google Bücher und
Historische Denkwürdigkeiten zur ... - Google Bücher
[2]
Aufklärung von unten | Zeitläufte | ZEIT ONLINE
[3] Siegert, aaO. (#52), S. 443; ich beziehe auch im Folgenden auf deutsche Verhältnisse.
[4] S. 446 f.; das folgende Zitat S. 447
[5] S. 460 f. Eine sehr umfängliche Studie zu diesem Komplex ist die von Alzheimer-Haller:
Handbuch zur narrativen ... - Google Bücher
[6] Deutsche Gesellschaftsgeschichte. Band 1. München 1987, S. 304; fehlende Prozente nicht erläutert.