Quelle:
G. F. Kennan, Memoiren eines Diplomaten, Bd. 1, Deutsche Verlagsanstalt Stuttgart 1968, S. 553 ff.
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I. Grundzüge sowjetischen Verhaltens seit Kriegsende (wie aus der offiziellen Propaganda zu entnehmen)
A. Die UdSSR lebt immer noch inmitten feindseliger "kapitalistischer Einkreisung", mit der es auf die Dauer keine friedliche Koexistenz geben kann. [...]
B. Die kapitalistische Welt ist voll innerer Konflikte, die im Wesen des Kapitalismus liegen: Diese Konflikte sind durch friedlichen Ausgleich nicht lösbar. [...]
C. Die inneren Konflikte des Kapitalismus führen unvermeidlich zu Kriegen. [...]
... alle diese Themen, wie grundlos und widerlegt sie auch seien, [werden] heute erneut munter vorgetragen. Worauf deutet das? Es deutet darauf, daß die sowjetische Parteilinie sich nicht auf irgendeine objektive Analyse der Lage jenseits der russischen Grenzen stützt; daß sie tatsächlich mit den Verhältnissen außerhalb Rußlands wenig zu tun hat; daß sie sich vielmehr im großen und ganzen aus elementaren innerrussischen Notwendigkeiten ergibt, die vor dem letzten Krieg bestanden und auch heute bestehen. [...] Die Erfordernisse ihrer eigenen vergangenen und gegenwärtigen Position sind es, die die sowjetische Führung dazu zwingen, ein Dogma zu verkünden, nach dem die Außenwelt böse, feindselig und drohend, aber zugleich von einer schleichenden Krankheit befallen und dazu verurteilt ist, von immer stärker werdenden inneren Krämpfen zerrissen zu werden, bis sie schließlich von der erstarkten Macht des Sozialismus den Gnadenstoß enthält und einer neuen und besseren Welt weicht. Diese These liefert den Vorwand für das Anwachsen von Militär und Polizei im russischen Staat, für die Isolierung der russischen Bevölkerung von der Außenwelt und für die ständigen Versuche, die russische Polizeigewalt noch mehr auszuweiten, alles Dinge, die seit je den natürlichen Instinkten russischer Herrscher entsprechen. [...]
IV. Auswirkung der sowjetischen Betrachtungsweise auf die amtliche Politik
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B. Wo es angezeigt und erfolgversprechend scheint, wird man versuchen, die äußeren Grenzen der Sowjetmacht zu erweitern. Im Augenblick beschränken diese Bemühungen sich auf gewisse Punkte in der Nachbarschaft, die man hier für strategisch notwendig hält, z. B. Nordpersien, die Türkei, möglicherweise Bornholm. [...]
D. Gegenüber Kolonialgebieten und rückständigen oder abhängigen Völkern wird die sowjetische Politik sogar auf amtlicher Ebene das Ziel verfolgen, Macht, Einfluß und Kontakte der hochentwickelten westlichen Nationen zu schwächen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, daß bei einem Erfolg dieser Politik ein Vakuum entstünde, das sowjetisch-kommunistisches Eindringen erleichtern müßte. [...]
V. Praktische Folgerungen für die amerikanische Politik
Alles in allem haben wir es mit einer politischen Kraft zu tun, die sich fanatisch zu dem Glauben bekennt, daß es mit Amerika keinen dauernden Modus vivendi geben kann, daß es wünschenswert und notwendig ist, die innere Harmonie unserer Gesellschaft, unsere traditionellen Lebensgewohnheiten und das internationale Ansehen unseres Staates zu zerstören, um der Sowjetmacht Sicherheit zu verschaffen ... Aber ich möchte meiner Überzeugung Ausdruck geben, daß es in unserer Macht steht, das Problem zu lösen, und zwar ohne uns in einen großen militärischen Konflikt zu flüchten. Und um diese Überzeugung zu untermauern, möchte ich noch einige ermutigendere Bemerkungen machen:
Erstens. Im Gegensatz zu Hitlerdeutschland ist die Sowjetmacht weder schematisiert noch auf Abenteuer aus. Sie arbeitet nicht nach festgelegten Plänen. Sie geht keine unnötigen Risiken ein. Der Logik der Vernunft unzugänglich ist sie der Logik der Macht in hohem Maße zugänglich. Daher kann sie sich ohne weiteres zurückziehen - und tut das im allgemeinen -, wenn sie irgendwo auf starken Widerstand stößt. Wenn also dem Gegner genügend Hilfsmittel zur Verfügung stehen und er die Bereitschaft zu erkennen gibt, sie auch einzusetzen, wird er das selten tun müssen. Wenn die Situation richtig gehandhabt wird, braucht es zu keiner das Prestige verletzenden Kraftprobe zu kommen.
Zweitens. Gemessen an der westlichen Welt insgesamt sind die Sowjets noch bei weitem schwächer. Ob sie Erfolg haben, hängt also wirklich von dem Maß an Zusammenhalt, Festigkeit und Kraft ab, das die westliche Welt aufbringen kann. Und das ist ein Faktor, den zu beeinflussen in unserer Macht steht.
Drittens. Der Erfolg des sowjetischen Systems als Form der Machtausübung nach innen ist noch nicht endgültig erwiesen. [...]