Wie weit in den Alltagleben reichte die Macht der Kirche(n)?

Du wirst jetzt sicher wieder eine Suada auf mich niederpasseln lassen
@El Quijote fürchte dich nicht vor der prasselnden Suada, mach es einfach wie die vielen Leute in vielen Jahrhunderten, denen die sagenhaft übermächtige Kirche allerlei mit Nachdruck verbot: sie kümmerten sich nicht darum. Trotz aller Predigten florierten Kebsen, Kurtisanen, Mätressen, ja der Volksmund gönnte sich sogar einen klerikalen Wortwitz bei der Bezeichnung des Lupanars: Zatzenstift.
Sooooo allmächtig war keine Kirche, sooooo nachhaltig regierte sie nicht ins Alltagsleben und sooooo furchterregend wird die Suada nicht prasseln ;) :)
 
Man wusste also schon damals: Wissen ist Macht.

Und 44 Jahre später kam der Index Librorum Prohibitorum.

Quelle: Digitale Kommunikation: Vernetzen, Multimedia, Sicherheit; by Christoph Meinel, Harald Sack. Digitale Kommunikation

Siehe dazu auch die 3 vorherigen Seiten.

Ja wenn aber doch all die Bibelverbote nicht verhindern konnte, dass vor Luther allein im deutschsprachigen Raum mehr als 70 Übersetzungen der Vulgata erschienen, wie will man das als Beleg für die unerhörte Macht des Papsttums verwenden?


Erst recht nicht hatte der Papst die Macht, irgendjemanden davon abzuhalten etwas zu lesen. Das glaubst du doch wohl selbst nicht, dass irgendeine Empfehlung eines Bischofs irgendjemanden abgehalten hat, eine nicht autorisierte Bibelübersetzung zu lesen, wenn man denn lesen konnte.

Wer konnte denn überhaupt im Mittelalter lesen?
 
"Etwa zur selben Zeit als Koberger in seine deutsche Bibel in einer hohen Auflage druckte, ist wahrscheinlich am selben Ort ein Gutachten über die Gefahren der Verbreitung von volkssprachigen Bibeln entstanden. Der Inkunabelforscher Ferdinand Geldner hat diesen lateinischen handschriftlich überlieferten Traktat mit dem Incipit Avisamentum salubre quantum ad exercicium artis impressorie literarum ‚Heilsame Anweisung, die Ausübung der Buchdruckerkunst betreffend‘ in einem Sammelband des Nürnberger Gelehrten Hartmann Schedel in der Bayerischen Staatsbibliothek entdeckt. [...] Das ‚Avisamentum‘ hat den Charakter eines theoretisch-theologischen Gutachtens, praktische Konsequenzen fordert es nicht. Aber auch praktische Maßnahmen gegen die Verbreitung von Übersetzungen aus dem Griechischen und dem Lateinischen sind aus dieser Zeit bekannt. Im Jahr 1485 formuliert der Erzbischof von Mainz, Berthold von Henneberg, ein Zensuredikt, daß sämtliche Übersetzungen aus der griechischen oder lateinischen Sprache ins Deutsche jeweils vor dem Druck und die gedruckten Übersetzungen vor dem Vertrieb durch eigens dazu bestellte Universitätslehrer in Mainz oder Erfurt approbiert werden müssten. Anzeichen dafür, daß dieses Zensuredikt auf die Verbreitung der deutschen Bibel in irgendeiner Form gewirkt hat, gibt es nicht.
Nach Kobergers Riesenauflage wurde die Bibel in den süddeutschen Städten des Reichs bis 1518 noch insgesamt fünfmal gedruckt.
[...]
Zur Frage der Bibelverbote bleibt festzuhalten, daß erst zu dem Zeitpunkt, als die deutschen Bibeldrucke den Charakter von eigenständigen Laienbibeln hatten, eine Stellungnahme wie das Avisamentum salubre entstanden ist und vereinzelt Zensuredikte erlassen werden. Dies mag Zufall sein – die Erlasse stellen jedenfalls keinen ausdrücklichen Zusammenhang zu einer der deutschen Bibelausgaben her. Sie können kaum als ein wirksames Bibelverbot funktioniert haben, denn keiner der Drucker ist exkommuniziert worden, und keine der Maßnahmen scheint die Verbreitung der deutschen Bibel in der Frühdruckzeit wirkungsvoll eingeschränkt zu haben. Ihre Verbreitung ging – auch für die katholische Seite zuende mit dem Erscheinen von Luthers Septembertestament."

Als Reaktion auf die Lutherbibel erschienen in rascher Folge drei Bibelübersetzungen aus der Hand von Luther-Gegnern. Die erste katholische Vollbibel erschien sogar noch kurz vor Luthers Erstausgabe der Vollbibel.

 
Will sagen: Du siehst nur "Wissen ist Macht", aber ignorierst tradutore tradittore, also die zweite Seite der Medaille.
Sicher tradutore tradittore ist ein Punkt*, den man berücksichtigen muss, aber das war nicht der Grund für die damalige Verbote, sondern die Furcht, unliebsame bzw. Gedanken könnten allzu weite Verbreitung finden, wenn man aus dem "Griechischen, Lateinischen oder einer anderen Sprache" übersetzte – so der Erzbischof von Mainz. Dem schloss sich Leo X. später an mit dem Argument, es ginge nicht, dass Hinz und Kunz das gleiche wüssten, wie Kleriker.

Aber der Bedarf nach Bibelübersetzungen war da, daher auch Luthers Erfolg. Im Nachhinein muss man sagen, die Entscheidung der katholischen Kirche, dem Volk die Bibel vorzuenthalten, war genauso falsch wie die, unliebsame Bücher zu indizieren. Trotzdem ging und geht diese Praxis weiter - bei totalitären Staaten scheint sie ein Muss zu sein. Und totalitär war und ist die diktatorisch regierte katholischen Kirche bis heute.

Sooooo allmächtig war keine Kirche, sooooo nachhaltig regierte sie nicht ins Alltagsleben
Das kann man nur sagen, wenn man die Tatsache ignoriert, dass Bücher- und Menschen verbrannt wurden, weil sie es wagten, Worte niederzuschreiben und dabei den eigenen Kopf zu gebrauchen. Die Inquisition ging über Leichen – jetzt fehlt nur noch, dass du sagst, das war die Kirche nicht, sondern die weltlichen Herrscher.

* Ich sehe keine großen Probleme bei Übersetzungen, schließlich werden heute alle möglichen und unmöglichen Texte übersetzt. Wenn grobe Fehler auftauchen, werden sie halt bereinigt. Aber bei der Bibel ist das anscheinend nicht möglich – nach Jahren der Zusammenarbeit haben sich Theologen der evangelischen Kirchen aus dieser verabschiedet, weil Rom das letzte Wort haben wollte. Trotzdem nimmt die augenblickliche katholische Bibel für sich in Anspruch einheitsübersetzt, d.h. von katholischen und evangelischen Theologen übersetzt, zu sein, was schlicht falsch ist. Das ist Etikettenschwindel.

PS:
Sie können kaum als ein wirksames Bibelverbot funktioniert haben, denn keiner der Drucker ist exkommuniziert worden, und keine der Maßnahmen scheint die Verbreitung der deutschen Bibel in der Frühdruckzeit wirkungsvoll eingeschränkt zu haben.
So etwas kann man nur sagen, wenn man die Abschlachtung der Katharer und Waldenser und später der Protestanten nicht als das wertet, was sie war: Durchsetzung der einen Wahrheit um jeden Preis.
 
Zuletzt bearbeitet:
Dem schloss sich Leo X. später an mit dem Argument, es ginge nicht, dass Hinz und Kunz das gleiche wüssten, wie Kleriker.
Da würde mich mal interessieren, wie das Leo wortwörtlich formuliert hat.
Wer weiß, vielleicht ist das ein ähnlicher Schmarrn wie der angeblich vom Papst befohlene Katzenmord.

Jedenfalls haben Hinz & Kunz nach 1515 fröhlich Bibelübesetzungen gedruckt, kein Drucker ist deswegen belangt worden.


Trotzdem nimmt die augenblickliche katholische Bibel für sich in Anspruch einheitsübersetzt, d.h. von katholischen und evangelischen Theologen übersetzt, zu sein, was schlicht falsch ist. Das ist Etikettenschwindel.
Da bist Du mal wieder einem populären Irrtum aufgesessen:

Die Einheitsübersetzung sollte die einheitliche Bibel aller deutschsprachigen Bistümer werden. Der Name „Einheitsübersetzung“ spiegelt dieses Ziel wider. Entgegen einem verbreiteten Missverständnis bedeutet der Name nicht, dass eine gemeinsame Bibelübersetzung der römisch-katholischen und der evangelischen Kirche erstellt werden sollte. Zwar waren evangelische Theologen seit Beginn an den Arbeiten beteiligt, aber eine Ablösung der in der evangelischen Kirche gebräuchlichen Lutherbibel wurde von dieser zu keinem Zeitpunkt angestrebt.
 
PS: So etwas kann man nur sagen, wenn
... man nicht in der Lage ist, einem Text das zu entnehmen, was er aussagen will.


Da würde mich mal interessieren, wie das Leo wortwörtlich formuliert hat.

Habs schon gefunden:

Wie ich mir schon dachte, wird da mitnichten das Argument verfochten, man müsse Wissen vom Laienvolk fernhalten, es geht wie immer darum, dass der Verbreitung "schädlicher Irrtümer" Einhalt zu gebieten ist. (Die Leichtigkeit, mit der dank des modernen Buchdrucks Wissen verbreitet werden kann, wird sogar über den grünen Klee gelobt.)
Und dann wird verfügt, dass alle Druckwerke einer bischöflichen Zensur unterliegen. Wer ohne Erlaubnis druckt, wird exkommuniziert, die Druckerei wird für ein Jahr geschlossen.

Und nun geht es um die Frage: Wie weit in die Druckereien reichte die päpstliche Macht? Wie viele Druckereien wurden geschlossen, wie viele Buchdrucker exkommuniziert?
 
So etwas kann man nur sagen, wenn man die Abschlachtung der Katharer und Waldenser und später der Protestanten nicht als das wertet, was sie war: Durchsetzung der einen Wahrheit um jeden Preis.
Versuche bitte nicht die Torpfosten zu verschieben, während die andere Mannschaft ihren Elfmeter schießt.

Du hast die Behauptung aufgestellt, der Versuch, Bibelübersetzungen abseits der von Rom bestätigten Lehrmeinung zu sanktionieren, beweise die Allmacht der Kirche. Dir wurde entgegnet, dass die Reichweite dieser Verbote begrenzt war, und sich kaum jemand daran gehalten hat.

Hättest Du Deine Behauptung als Frage formuliert und nicht als feststehende Tatsache, hätten wir die Diskussion in dieser Schärfe nicht.
 
Aber der Bedarf nach Bibelübersetzungen war da, daher auch Luthers Erfolg.
Ich meine aber, dass Luther bereits sehr bekannt und in Sachen popularität sehr erfolgreich in Norddeutschland war, bevor er seine Bibelübersetzung ablieferte.

Im Nachhinein muss man sagen, die Entscheidung der katholischen Kirche, dem Volk die Bibel vorzuenthalten, war genauso falsch wie die, unliebsame Bücher zu indizieren.
Verzeihung, die Vorstellung die katholische Kirche hätte "dem Volk" die Bibel vorenthalten und Luther hätte sie "dem Volk" zugänglich gemacht, die haut so nicht hin.
Das überschätzt die Effektivität der Verbreitungsmethoden wirklich enorm.

Ich verweise da einmal mehr auf die "Gutenberg-Bibel" Deren Auflage wurde 1452-1454 in einer Auflagenstärke von 180 Stück produziert, davon 150 Ausgaben auf Papier und 30 Ausgaben (die deswegen noch deutlich teurer gewesen sein dürften), auf Pergament.

Allein Mainz hatte zu dieser Zeit allerdings (gemäß Wiki nach enormem Bevölkerungsrückgang duch die Pest), an die 6.000 Einwohner.
Überschlägig konnten nach den 2 Jahren, die Gutenberg und co. mit dem Produzieren ihrer Bibeln verbrachten, also etwa 3-4% der Einwohner mit einer Bibel versorgt werden.
Das war sicherlich viel viel schneller und kostengünstiger, als ohne Buchdruck mit beweglichen Lettern, aber noch immer weit davon entfernt, dass sich jeder irgendwie eine Bibel ins Regal hätte stellen können.

Nun ging die Entwicklung nach Guttenberg weiter, die Drucktechnik wurde effektiver, die Herstellung auch von Papier wurde günstiger, so dass sich in den 70-80 Jahren zwischen Gutenberg und Luther am potentiellen Verbreitungsvolumen durchaus noch etwas tat, aber es ändert nicht denn grundsätzlichen Umstand:

Die Revolution damals bestand nicht darin, dass Bücher für jedermann erschwinglich geworden wären, sondern darin, dass sie mittelfristig für die oberen 10% der Bevölkerung, nicht bloß für die 2-3% der adligen Oberschicht bezahlbar wurden.
Und darin, dass Flugblätter und Flugschriften, die sehr stark mit bildlichen Darstellungen arbeiten konnten und damit auch einem nach wie vor weitgehend analphabetischem Publikum etwas sagen konnten, starke Verbreitung finden konnten.

Der Alphabetisierungsgrad der Bevölkerung, dürfte damals unter 10% gelegen haben (wobei die Rate bei der männlichen Bevölkerung deutlich höher gewesen sein dürfte, was dann die Zahl der Haushalte erhöht haben mag, in denen mindestens eine Person lesen konnte).


Das heißt: Die Fähigkeit tatsächlich selbst die Bibel zu lesen und nicht auf die Vermittlung anderer angewiesen zu sein, stand lediglich einer krassen Minderheit zur Vefügung, die sich vor allem in den sozialen Oberschichten gefunden haben dürfte.
Und auf diese Kreise dürfte sich zunächst auch die wirtschaftliche Fähigkeit beschränk haben tatsächlich allein oder gemeinschaftlich eine eigene Bibel zu erwerben.

Überflüssig zu erwähnen, dass ein Teil der literaten Bevölkerung aus Klerikern berstand, die die Bibel auch ohne Übersetzung aus dem Lateinischen lesen konnten.
Dann bleiben in der Bevölkerung vielleicht noch 5-6% Nichtkleriker, die damals tatsächlich lesen konnten und die dürften fast alle den jeweiligen Oberschichten entstammt sein und über einen entssprechenden wirtschaftlichen Hintergrund verfügt haben.

Worauf will ich hinaus? Ganz einfach: Wer damals grundsätzlich lesen und sich Bücher leisten konnte, der verfügte grundsätzlich auch über die Mittel Lateinunterricht nehmen zu können.
Das heißt wenn bei jemandem, der begütert genug war, sich das leisten zu können tatsächlich der Wille da war die Bibel zu erwerben und sie lesen zu können, dürfte die lateinische Fassung das geringere Problem gewesen sein.
Ist ja durchaus nicht so, dass Nichtklerikern das Erwerben von Lateinkenntnissen verboten oder unmöglich gewesen wäre.


Der Anspruch, dass wirklich jedermann die Bibel tatssächlich erwerben und in seiner Muttersprache auch lesen könnte, ohne der Vermittlung zu bedürfen, der wird erst im 19. Jahrhundert eingelöst, da war Luther bereits seit 400 Jahren unterm Torf.

Trotzdem ging und geht diese Praxis weiter - bei totalitären Staaten scheint sie ein Muss zu sein. Und totalitär war und ist die diktatorisch regierte katholischen Kirche bis heute.
Der wesentliche Unterschied zwischen dem Handeln der Kirche und irgendwelchen totalitären Staaten, besteht im Hinblick auf Zensurgepflogenheiten darin, dass die Kirche im Bezug auf die Bibel ja den Text selbst an und für sich nicht verboten hat, sondern lediglich die Übersetzung und dass sie es auch durchaus auch den Nichtklerikern nicht verunmöglicht hat, Latein zu erlernen (vorausgesetzt, dass sie sich das leisten konnten, andererseits, war Bildung im Allgemeinen eine Frage der finanziellen Mittel, was sie ja leider, mindestens in Teilen bis heute geblieben ist).

Und an dem Punkt geht deine Sichtweise nicht auf, dass das Beharren auf dem Latein vor allem das Ziel verfolgt hätte die Bevölkerung in Unwissen zu halten.
Im Hinblick auf die Fähigkeit sich die Bibel selbst ohne Vermittler (dieser sei Übersetzer oder Vorleser) selbst zu erschließen, blieb die analphabetische Bevölkerung unwissend.

Ob derjenige, der die volkssprachliche Bibel vorlas alles korrekt vorlas, irgendwas verdrehte, hinzufügte oder wegließ, dass war für die analphabetische Bevölkerung genau so wenig nachvollziehbar, wie der Beruf eines Priesters oder der Kirche in bestimmten Fragen auf den lateinischen Text.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich meine aber, dass Luther bereits sehr bekannt und in Sachen popularität sehr erfolgreich in Norddeutschland war, bevor er seine Bibelübersetzung ablieferte.
Luthers Bibelübersetzung hatte v.a. zwei Vorteile gegenüber den vorigen Übersetzungn:
1.) Sie war alltagssprachlich.
2.) frühere Übersetzungen waren direkte Übersetzungen, die Satzkonstruktionen hielten sich also stark an die hebräischen/aramäischen und griechischen Originaltexte, Luthers Übersetzung war eine semantische bzw. idiomatische Übersetzung.
Die direkte Übersetzung nimmt auf die Zielsprache und ihre grammatischen Strukturen wenig Rücksicht, orientiert sich an der Syntax der Originalsprache, ist also für Rezipienten der Zielsprache weiterhin schwer zu verstehen. Die semantische und mehr noch die idiomatische Übersetzung nehmen dagegen die Zielsprache stärker ins Auge, orientieren sich an deren Syntax und den Bedürfnissen der Rezipienten, entfernen sich dafür aber weiter vom Originaltext.

Verzeihung, die Vorstellung die katholische Kirche hätte "dem Volk" die Bibel vorenthalten und Luther hätte sie "dem Volk" zugänglich gemacht, die haut so nicht hin.
Man muss Luther schon zugestehen, dass er eine Demokratisierung des Wissens erreichen wollte. Sola fide, sola scriptura, solus Christus, sola gratia" - Allein durch den Glauben, allein die Schrift, allein Christus, allein durch Gnade!

Es gibt Holzstiche aus der Zeit (protestantische Propagandabildchen), die stellen katholische Messen und protestantische Gottesdienste einander gegenüber. In der katholischen Messe doziert ein Priester und das Gemeindevolk ist zum Zuhören ‚verdammt‘, wohingegen im protestantischen Gottesdienst die Gläubigen die Bibel ‚studieren‘. Wie gesagt, solche Darstellungen findet man auf propagandistischen Flugblättern, dennoch zeigt sie doch etwas von der lutheranischen Idee, auch wenn es natürlich eine hohe Analphabetenrate gab. John ‚Killjoy’ Knox, der schottische Reformator, führte so etwas wie Sonntagsschulen ein, wo nach dem Gottesdienst die Bibel studiert wurde (sprich auch lesen gelernt wurde), wer dort nicht erschien, musste sich rechtfertigen, der soziale Druck, nicht nur den Gottesdienst, sondern auch die Sonntagsschule zu besuchen, war sehr hoch. (die dt. Wikipedia setzt Somntagsschulen erst im 18. Jhdt. an, erfolgreich umgesetzt erst im 19. Jhdt.; die engl. Wikipedia ähnlich, findet aber einen ital./kath. Vorläufer bereits im 16. Jhdt.)
De facto war es zwar lange so in protestantischen Gebieten, dass der Adel bestimmte, wer Gemeindepfarrer würde, aber das Ideal der Reformation war, dass die Gemeinden sich ihre Pfarrer selbst wählten (was, ich springe wieder nach Schottland, zu einigen Kuriosa führte: im 19. Jhdt. spaltete sich die Scottish Free Church (SFC) von der presbyterianischen Kirche ab, eben weil die Pfarrer von den Lairds bestimmt wurden, wohingegen dieses doch das Recht der Gemeinde sein sollte; natürlich gehörte alles Land den Lairds, weswegen die SFC keine Kirchengebäude an Land errichten konnte. Aber in Schottland gibt es viele Lochs. Und so gab es auf den ein oder anderen Loch schwimmende Kirchen....)

Der wesentliche Unterschied zwischen dem Handeln der Kirche und irgendwelchen totalitären Staaten, besteht im Hinblick auf Zensurgepflogenheiten darin, dass die Kirche im Bezug auf die Bibel ja den Text selbst an und für sich nicht verboten hat, sondern lediglich die Übersetzung und dass sie es auch durchaus auch den Nichtklerikern nicht verunmöglicht hat, Latein zu erlernen (vorausgesetzt, dass sie sich das leisten konnten, andererseits, war Bildung im Allgemeinen eine Frage der finanziellen Mittel, was sie ja leider, mindestens in Teilen bis heute geblieben ist).
Ohne Dions Einschätzungen, die besonders in der Wortwahl (neudeutsch: im Wording) mal wieder absolut unangemessen sind, zu teilen, würde ich dir hier doch widersprechen wollen. Natürlich hat die Kirche den Bibeltext nicht zensiert. Und natürlich hatte sie auch rationale Gründe dafür, der Übersetzung in die Volkssprachen skeptisch gegenüber zu stehen. Das hat eben zur Konsequenz gehabt, dass ~ 99 % der Bevölkerung der Zugang zur Bibel und zu den Glaubensinhalten nur über Interpretatoren (also Priester) zugänglich war. Das wollte Luther ändern. Und selbst wenn man nicht lesen konnte, so könnte man doch im Gottesdienst mithören (und musste nicht irgendein lateinisches Gebrabbel über sich ergehen lassen).

Ob derjenige, der die volkssprachliche Bibel vorlas alles korrekt vorlas, irgendwas verdrehte, hinzufügte oder wegließ, das war für die analphabetische Bevölkerung genau so wenig nachvollziehbar, wie der Beruf eines Priesters oder der Kirche in bestimmten Fragen auf den lateinischen Text.
Zumindest wäre solcher Missbrauch durch die volkssprachliche Übersetzung gegenüber dem Interpretationsmonopol Lateinkundiger erschwert. Aber so oder so müsste man niedrige Beweggründe unterstellen. Wenn die Leute aber an Gott glaubten, dann sollte man davon ausgehen, dass sie gerade gottesdienstliche Handlungen gewissenhaft durchführten.
 
Luthers Bibelübersetzung hatte v.a. zwei Vorteile gegenüber den vorigen Übersetzungn:
1.) Sie war alltagssprachlich.
2.) frühere Übersetzungen waren direkte Übersetzungen, die Satzkonstruktionen hielten sich also stark an die hebräischen/aramäischen und griechischen Originaltexte, Luthers Übersetzung war eine semantische bzw. idiomatische Übersetzung.
Die direkte Übersetzung nimmt auf die Zielsprache und ihre grammatischen Strukturen wenig Rücksicht, orientiert sich an der Syntax der Originalsprache, ist also für Rezipienten der Zielsprache weiterhin schwer zu verstehen. Die semantische und mehr noch die idiomatische Übersetzung nehmen dagegen die Zielsprache stärker ins Auge, orientieren sich an deren Syntax und den Bedürfnissen der Rezipienten, entfernen sich dafür aber weiter vom Originaltext.
Ich will gar nicht luthers durchaus orriginelle Leistung infragestellen.

Wenn ich auf Dions Behauptung, Luthers Erfolg sei seiner Bibelübersetzung geschuldet gewesen antwortete:

Ich meine aber, dass Luther bereits sehr bekannt und in Sachen popularität sehr erfolgreich in Norddeutschland war, bevor er seine Bibelübersetzung ablieferte.
Dann ging es mir vor allem darum, Luther in erster Linie durch seine "Thesen", und dem bekannt wurde, was darauf folgte, nicht an und für sich durch die Gesamtübersetzung der Bibel.
Es waren die "Thesen", die die einfache Bevölkerung erreichten und die entsprechende Stimmung erzeugten, nicht die Übersetzung der Bibel.

Unabhängig davon ob man es für plausibel halten möchte, dass die Übersetzung der Bibel durch Luther vollständig auf der Wartburg passierte, oder ob er damit viel früher begonnen hatte, konnte er die Arbeit daran jedenfalls erst in dieser Zeit beenden.

Da waren aber die Disputationen in Leipzig und in Heidelberg. Das Zitat nach Augsburg und Luthers Weigerung zum Widerruf, die Androhung der Exkommuniktation, das Zitat vor den Wormser Reichstag, die abermalige Weigerung zu widerrufen, Exkomunikation, Reichsacht und das geheimnissvolle Verschwinden danach längt gelaufen.

Luther war publizistisch erfolgreich und im hablen römisch-deutschen Reich bekannt, wie ein bunter Hund, bevor er seine Bibelübersetzung vorlegte.



Darauf lege ich deswegen so viel Wert, weil Dions Narrativ ja darauf hinausläuft, dass mit der Bibelübersetzung die Bevölkerung den Machtmissbrauch der Kirche erkannt und sich deswegen empört habe.

Nein, die schlug sich schon auf die Seite Luthers und empörte sich, bevor sie Gelgenheit haben konnte Luthers Bibelübersetzung zu konsumieren.


Langfristig, hatte Luthers Werk sicherlich auch für die Herausbildung der deutschen Hochsprache ungeheuerliche Wirkungen, die man in keinem Fall geringschätzen sollte, völlig d'accord.
Nur Luthers Bibelübersetzung hatte nicht die kurzfristigen Wirkungen, die Dion ihr zuschreibt. Dafür fehlten gänzlich die Voraussetzungen.

Man muss Luther schon zugestehen, dass er eine Demokratisierung des Wissens erreichen wollte
Ich bin der letzte, der ihm den gute Willen absprechen wollte und würde ihm durchaus, dass er das in the long run auch ein gutes Stück weit erreicht hat, weil er es schaffte, innerhalb seiner Gefolgschaft das Sozialprestige der Fähigkeit lesen und schreiben zu können deutlich aufzuwerten.
Webers Vorstellung eines besonderen Einflusses der prothestantische Ethik auf den kapitalistisch-industriellen Prozess würde ich so wie das mal postuliert wurde, zurückweisen.
Aber ich würde der protestantischen Ethik und Anschauungsweise und dazu gehört nicht nur die Möglichkeit die Bibel selbst zu lesen, sondern im Prinzip auch die Pflicht das zu tun um die postulierte immediate Verbindung zwischen dem Gläubigen und Gott auch tatsächlich ralisieren zu können, durchaus einen massiven Impact auf die flächendeckende Durchsetzung von Elementarbildung zuschreiben.
Die wurde in den protstantsichen Territorien nämlich tatsächlich im weitüberwiegenden Maße eher realisiert, als in den Katholischen.

Und hierfür war sicherlich auch der Schritt der Volkssprachlichen Schriftsprache und Lithurgie sehr hilfreich.

Bei den weiteren Ausführungen deinerseits in diesem Abschnitt bin ich völlig d'accord.

Ohne Dions Einschätzungen, die besonders in der Wortwahl (neudeutsch: im Wording) mal wieder absolut unangemessen sind, zu teilen, würde ich dir hier doch widersprechen wollen. Natürlich hat die Kirche den Bibeltext nicht zensiert. Und natürlich hatte sie auch rationale Gründe dafür, der Übersetzung in die Volkssprachen skeptisch gegenüber zu stehen. Das hat eben zur Konsequenz gehabt, dass ~ 99 % der Bevölkerung der Zugang zur Bibel und zu den Glaubensinhalten nur über Interpretatoren (also Priester) zugänglich war. Das wollte Luther ändern. Und selbst wenn man nicht lesen konnte, so könnte man doch im Gottesdienst mithören (und musste nicht irgendein lateinisches Gebrabbel über sich ergehen lassen).
Ja, natürlich konnt man im Gottesdienst mithören.
Und natürlich bekam man dadurch einen anderen Zugang zu religiösen Inhalten, als wenn da der katholische Priester Harry Potter-mäßig irgendwelche lateinischen Zauberformeln aufsagte.

Aber die Kontrolle darüber, was im Gottesdienst gelesen wurde und was gehört werden konnte, die hatten noch immer Priester.

Wenn man jetzt mit Dion unterstellen möchte, dass die Priester aus Eigennutz schon immer die Bibel zum eigenen Zweck verbogen und ausgelegt hätten, nunja, das konnten sie theoretisch auch weiterhin, daran änderte die volkssprachliche Lithurgie des Gottesdienstes nichts.

Die Bibel in ihren verschidenen Überlieferungstraditionen ist in sich bei vielen Themen Widersprüchlich und natürlich konnte ein Priester, auch wenn die Predigt nicht auf Latein, sondern Deutsch gehalten wurde, bestimmte Auslegungen stärken, in dem er bestimmte Texte in der Predigt preferierte und andere eher wegließ.
Ob das, was der Priester in der Predigt da möglicherweise mit Inbrunst behauptete so eindeutig war, wie er es darstellte, oder ob andere Texte vorhanden waren, die widersprüchliches behaupteten, konnte doch das analphabetische Gemeindemitglied nicht nachvollziehen.
Auch nicht das Gemeindemitglied, das zwar grundsätzlich lesen, sich aber keine eigene Bibel leisten konnte um das Werk in seiner Gesamtheit nachzuvollziehen.

Konnte es passieren, dass irrgendjemand in der Gemeinde saß, der eine eigene Bibel hatte und volkssprachlich lesen konnte, den Priester dabei ertappte? Klar konnte das passieren.
Genau so gut konnte es aber auch passieren, dass im Publikum 1-2 Leute drinn saßen, die Latein durchaus verstanden.
Z.B. der nachgeborene Sohn eines reichen Landbesitzers, der in Vorbereitung auf das Priesteramt durchaus mal Latein gelernt hatte, dann aber wegen des vorzeitigen Todes des älteren Bruders wieder in den weltlichen Stand wechselte um die Familie fortführen zu können oder ähnliche Konstellationen.
 
Zumindest wäre solcher Missbrauch durch die volkssprachliche Übersetzung gegenüber dem Interpretationsmonopol Lateinkundiger erschwert. Aber so oder so müsste man niedrige Beweggründe unterstellen. Wenn die Leute aber an Gott glaubten, dann sollte man davon ausgehen, dass sie gerade gottesdienstliche Handlungen gewissenhaft durchführten.
Dem würde ich jetzt widersprechen.

Dion nimmt ja an, dass Missbrauch des Wissensvorsprungs an der Tagesordnung gewesen wäre, um die Privilegien der Priesterschaft zu sichern.

Nur, diejenigen, die sich eine Bibel und die Bildung sie zu lesen leisten konnten, gehörten ja ebenfalls den priviligierten Schichten an, die von dem gleichen ständischen System genau so profitierten, wie die Preisterschaft.
Es war eben nicht das Volks was da laß, sondern es war der Geblüts- und "Geldadel". Und der hatte genau so ein Motiv Schutzzäune um die eigenen Privilegien zu errichten, wie die Geistlichkeit und wahrscheinlich noch wesentlich stärkere Motive, als der relativ arme niedere Klerus (warum der ein besonders Interesse daran gehabt haben sollte die Privilegien der kirchhlichenn Großwürdenträger zu schützen, an denen er selbst wenig Anteil hatte, müsste Dion übrigens mal erklären).

D.h. wenn man wie Dion annimmt, dass es in Sachen Religion und Lithurgie vor allem um Volksverarschung und Bereicherung/Rechtfertigung des eigenen Reichtums und Gesellschaftlichen Standes gagengen wäre, gibt es keinen Grund, warum die volkssprachliche Übersetzung der Bibel dass geändert haben sollte.
So lange die Bevölkerung nicht so weit alphabetisiert war, dass auch bei den weniger Begüterten die Fähigkeit zu Lesen einigermaßen regelmäßig anzutreffen war und so lange Bibeln für den Normalo-Untertanen nicht bezahlbar waren, blieb der größte Teil der Bevölkerung (und zwar der vor allem der minderbegüterte und minderpriviligierte Teil) weiterhin von der Vermittlung vor allem der Priviligierten Schichten abhängig, was Glaubensinhalte betrifft und damit behielten diese eine Machtposition, die sich theoretisch missbrachen ließ.

Warum Nichtkleriker nun eine kleinere Neigung haben sollten, die analphabetische Bevölkerung zu bescheißen, obwohl bestimmte Bibelstellen (Paulusbrief, Obrigkeit und ähnliches) oder Interpretationen davon mitunter auch ihre Privilegien sicherten, mitnichten nur die des hohen Klerus, als Kleriker, dass müsste Dion jetzt erklären.


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Ich persönlich halte die ganze Diskussion eigentlich für Mumpitz, weil ich nicht davon ausgehe, dass das Hauptanliegen der Kleriker das maximale Auspressen und Verarschen der Bevölkerung gewesen wäre.

Wenn man es aber wie Dion annehmen wollte, dann wäre die deutsche Lithurgie- und Schriftsprache unter diesen Umständen kein besonders großes Hindernis gewesen.
 
Ich habe heute wenig Zeit, deshalb antworte ich nur auf diesen Einwand:
Jedenfalls haben Hinz & Kunz nach 1515 fröhlich Bibelübesetzungen gedruckt, kein Drucker ist deswegen belangt worden.
Aus der von dir verlinkten "Concilium Lateranense V Documenta 1512-1517" geht hervor, dass nicht nur Drucker, sondern auch Autoren mit der Exkommunikation bedroht wurden, falls sie ohne Genehmigung eine Schrift drucken lassen. Luther wurde bekanntlich exkommuniziert, deshalb greift dein Einwand nicht.
 
Ich habe heute wenig Zeit, deshalb antworte ich nur auf diesen Einwand:

Aus der von dir verlinkten "Concilium Lateranense V Documenta 1512-1517" geht hervor, dass nicht nur Drucker, sondern auch Autoren mit der Exkommunikation bedroht wurden, falls sie ohne Genehmigung eine Schrift drucken lassen. Luther wurde bekanntlich exkommuniziert, deshalb greift dein Einwand nicht.
Das liest sich ja so, als sei Luther wegen der Bibelübersetzung exkommuniziert worden. Ob du das so meinst oder nicht, das ist Unsinn, der nicht unwidersprochen stehen bleiben kann. Luther wurde im Januar 1521 wegen seiner Thesen, die er sich zurückzunehmen weigerte exkommuniziert. Mit der Übersetzung der Bibel fing er etwa zwei Monate nach seiner Exkommunikation an.
 
Die Bibel – ob in Latein oder in der Volkssprache – hatte und hat das große Problem, in hohem Maß auslegungsbedürftig zu sein und Ansatzpunkte für unterschiedliche Auslegungen zu bieten. Auch Luther schuf ja keine neue Bibel, sondern zog bloß seine eigenen abweichenden Schlüsse. Auf seine Übersetzung könnte man ebensogut auch die traditionelle katholische Lehre stützen.

Die großen Differenzen zwischen den verschiedenen Konfessionen resultierten und resultieren generell nicht daraus, dass sie unterschiedliche Bibeln bzw. Bibelübersetzungen verwenden würden, sondern aus der unterschiedlichen Auslegung bzw. den unterschiedlichen Schlüssen, die sie aus der Bibel ziehen, dazu noch aus unterschiedlichen Traditionen und dem Umgang damit, etc. Im Kern verwenden alle relevanten Konfessionen dieselben Bibeltexte, lediglich in den weniger wichtigen Büchern weichen sie zum Teil voneinander ab. (Diverse apokryphe Evangelien, Briefe, Offenbarungen etc. entfalteten nie eine große Breitenwirkung.)
 
* Ich sehe keine großen Probleme bei Übersetzungen, schließlich werden heute alle möglichen und unmöglichen Texte übersetzt. Wenn grobe Fehler auftauchen, werden sie halt bereinigt.
Dass du die Probleme nicht siehst, ist kein Argument. Es gibt Gründe, warum bei Historikern Latein und zwei moderne Fremdsprachen bis zum Abschluss des Grundstudiums nachzuweisen sind (das gilt für Lehramtsstudenten nicht mehr in allen Bundesländern), wer Alte Geschichte, Ägyptologie oder Klass. Archäologie studiert, muss Griechisch nachweisen. Theologen müssen Latein und Griechisch und Hebräisch bzw. Griechisch oder Hebräisch nachweisen, Islamwissenschaftler Arabisch und Persisch oder Türkisch. Das hat Gründe. Nämlich Unabhängigkeit von Übersetzungen und somit von Interpretationen.

Ein konkretes Bsp. aus Diskussionen hier im Forum: Forenteilnehmer versuchten den Angrivarierwall als ad hoc-Bauwerk zu interpretieren. Die Interpretation war zwar militärisch unsinnig, aber das hielt sie nicht davon ab, sie so zu interpretieren (die Stelle besagt, dass der Wall Angrivarier und Cherusker - die gemeinsam gegen Germanicus kämpften - voneinander trennen sollte). Sie bezogen sich bei ihrer Interpretation auf die bekannte Übersetzung von Walther Sontheimer (1964). Ins lateinische Original schauten sie nicht hinein (weil sie auch Latein nicht konnten). Daher entging Ihnen, dass in dem fraglichen Satz Imperfekt (nicht abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit) und Plusquamperfekt (Vorvergangenheit, plus quam perfectus > mehr als in der Vergangenheit abgeschlossen) nebeneinander standen, Sontheimer aber alles als Perfekt übersetzte, also grammatisch formal alles auf derselben Zeitebene, wohingegen der lateinische Originaltext zwei verschiedene Zeitebenen hatte. Sontheimer hat halt so übersetzt, wie es semantisch im Deutschen normal war, also semantisch übersetzt, nicht direkt.
Die semitischen Sprachen kennen formal gesehen keine Gegenwarts- und Vergangenheitsform, sondern nur Perfekt (wird im Arabischen für die Vergangenheit verwendet) und Imperfekt (wird in Arabischen für dies Gegenwart verwendet). Im Bibelhebräischen werden diese Formen in der deutschen grammatischen Tradition AK (Perfekt, Afformativkonjugation) und PK (Imperfekt, Präformativkonjugation) genannt. Sie werden i.d.R. natürlich je nach Kontext, beide als Vergangenheitsformen übersetzt, eben abgeschlossene oder nicht abgeschlossene Handlung in der Vergangenheit.
In der griechischen Grammatik gibt es Dinge, die kennt die deutsche Grammatik gar nicht (mehr), mitunter kann man solche grammatischen Strukturen, die in Sprache A existieren, aber in Sprache B nicht, überhaupt nicht adäquat übertragen. Oder man benötigt Periphrasen.
Spanisch: ha muerto - er starb (Perfekt, aber in einem Zeitraum, der nicht abgeschlossen ist: ha muerto hoy - er starb heute
Murió - er starb (Perfekt, aber in einem Zeitraum, der abgeschlossen ist: murió ayer - er starb gestern
Aber: ha muerto este año - er starb in diesem jetzt laufenden Jahr.
Moría - er starb (Imperfekt, sinngemäß (Ruhrdeutsch: er war am Sterben am Dransen, gutes Deutsch: er lag im Sterben
Obwohl wir Perfekt und Imperfekt kennen, habe ich die spanischen Perfektformen ins deutsche Imperfekt übertragen und für das spanische Imperfekt eine Verbalperiphrase (er lag im Sterben) verwendet, weil das jeweils die gewünschte Aussage am besten darstellt.
Und ich habe noch gar nicht über Semantik gesprochen....
 
Ich habe heute wenig Zeit, deshalb antworte ich nur auf diesen Einwand:

Aus der von dir verlinkten "Concilium Lateranense V Documenta 1512-1517" geht hervor, dass nicht nur Drucker, sondern auch Autoren mit der Exkommunikation bedroht wurden, falls sie ohne Genehmigung eine Schrift drucken lassen.

Wenn Du mal Zeit hast, erstell doch bitte eine Liste von Autoren, die aufgrund ihrer Bibelübersetzung exkommuniziert wurden...

Damit Du nichts zusammensuchen musst, was vom gegenwärtigen Diskussionspunkt ablenkt, zitiere ich noch einmal die Aussage von Christina Wulf, über die Du Dich so echauffiert hast:

"Sie können kaum als ein wirksames Bibelverbot funktioniert haben, denn keiner der Drucker ist exkommuniziert worden, und keine der Maßnahmen scheint die Verbreitung der deutschen Bibel in der Frühdruckzeit wirkungsvoll eingeschränkt zu haben."
 
Luthers Bibelübersetzung hatte v.a. zwei Vorteile gegenüber den vorigen Übersetzungn:
1.) Sie war alltagssprachlich.
2.) frühere Übersetzungen waren direkte Übersetzungen, die Satzkonstruktionen hielten sich also stark an die hebräischen/aramäischen und griechischen Originaltexte, Luthers Übersetzung war eine semantische bzw. idiomatische Übersetzung.
Die direkte Übersetzung nimmt auf die Zielsprache und ihre grammatischen Strukturen wenig Rücksicht, orientiert sich an der Syntax der Originalsprache, ist also für Rezipienten der Zielsprache weiterhin schwer zu verstehen. Die semantische und mehr noch die idiomatische Übersetzung nehmen dagegen die Zielsprache stärker ins Auge, orientieren sich an deren Syntax und den Bedürfnissen der Rezipienten, entfernen sich dafür aber weiter vom Originaltext.

Die Mentelin-Bibel von 1466 hielt sich eng an die lateinische Vulgata, ohne Berücksichtigung der hebräischen/aramäischen und griechischen Originaltexte. Das war auch bei den sprachlich mehr oder weniger modernisierten hochdeutschen Nachfolgedrucken der Fall. Die Kölner Übersetzungen von 1478 ins Niedersächsische bzw. Niederrheinische nahmen hingegen tatsächlich die Zielsprache(n) stärker ins Auge:

"Auch der Text der Kölner Bibeln läßt erkennen, daß der oder die Übersetzer eine leserfreundliche Bibel im Sinn hatten. Die Vorlage ist zwar ebenfalls die lateinische Vulgata, die Umsetzung bewahrt aber nicht deren Sprachstruktur, sondern bemüht sich um eine dem
Niederdeutschen adäquate Wiedergabe. [...] Mit den beiden Kölner Bibeldrucken war zum ersten Mal eine gedruckte deutsche Bibelausgabe entstanden, die in Ausstattung, Übersetzung und texterschließenden Elementen den Erfordernissen einer Lesebibel für Laien genügen konnte. Eine solche zu schaffen war auch das in der Vorrede der Kölner Bibeln erklärte Ziel der Redaktoren.
[...]
Während im niederdeutschen Sprachgebiet zumindest Teile der Bibel für jede Ausgabe neu übersetzt worden sind, beschränken sich die oberdeutschen Drucker auf Revisionen an der Vulgata und eine fortschreitende Anpassung der zunächst dem Latein verpflichteten Übersetzung an die deutsche Sprache." (Christina Wulf)
 
Damit Du nichts zusammensuchen musst, was vom gegenwärtigen Diskussionspunkt ablenkt, zitiere ich noch einmal die Aussage von Christina Wulf, über die Du Dich so echauffiert hast:
"Sie können kaum als ein wirksames Bibelverbot funktioniert haben, denn keiner der Drucker ist exkommuniziert worden, und keine der Maßnahmen scheint die Verbreitung der deutschen Bibel in der Frühdruckzeit wirkungsvoll eingeschränkt zu haben."
Ah, das
Jedenfalls haben Hinz & Kunz nach 1515 fröhlich Bibelübesetzungen gedruckt, kein Drucker ist deswegen belangt worden.
war gar nicht von dir? ;)

Aber egal. Das Zitat, das du dannach brachtest, ist wohl aus: Christine Wulf, Göttingen – Die Bibel im Spannungsfeld zwischen Laienemanzipation und Bibelverbot - Deutsche Bibeldrucke vor Luther.

Sie bertrachtet in ihrem Vortrag ausschließlich Bibeldrucke vor Luther. Für die Zeit mag die Aussage stimmen, für danach nicht, wie ich das bereits mit dem Hinweis auf die Exkommunizierung Luthers deutlich gemacht habe, was du aber nonschalant übergehst, in dem du nun ein Zitat bringst, das für die Zeit nach Luther keine Relevanz hat.

Dennoch ist dieser Vortrag lesenswert, weil er in das Denken des 15. Jahrhunderts einen Einblick gewährt – Zitate:

Ausdrücklich verzichten die Kölner Bibeln auf eine Übersetzung des Hohen Liedes; denn dieses Buch sei von so hogen synnen, daß es für junge Leute die Gefahr von Mißverständnissen berge.

Etwa gleichzeitig mit dem Erscheinen der Kölner Bibeln erhielt die Kölner Universitätsgeistlichkeit ein päpstliches Breve, das gegen die Bibellektüre insbesondere gegen das Bibelstudium von Frauen gerichtet war.

Am Schluß des Avisamentum steht die Mahnung, daß den volkssprachigen Bibeln schon in den Anfängen vorsorglich entgegenzutreten sei, denn diese Übersetzungen führten zu einer Schwächung der kirchlichen Hierarchie, sie gefährdeten den rechten Glauben und führten letztlich zur Verdammnis der Seelen.


Was entnehmen wir aus diesen 3 Zitaten? Dass

- es da eine Angst vor Sexualität (vulgo Fleischeslust) gab,
- die Kirche schon damals gegen die Bibellektüre und misogyn war,
- man (oder zumindest der Autor des Avisamentum) die Angst hatte, die volksprachlichen Bibeln würden die Kirche schwächen und den rechten Glauben gefährden

Nichts anderes sagte und sage ich hier.
 
Sie bertrachtet in ihrem Vortrag ausschließlich Bibeldrucke vor Luther. Für die Zeit mag die Aussage stimmen, für danach nicht, wie ich das bereits mit dem Hinweis auf die Exkommunizierung Luthers deutlich gemacht habe, was du aber nonschalant übergehst, in dem du nun ein Zitat bringst, das für die Zeit nach Luther keine Relevanz hat.
Das liest sich ja so, als sei Luther wegen der Bibelübersetzung exkommuniziert worden. Ob du das so meinst oder nicht, das ist Unsinn, der nicht unwidersprochen stehen bleiben kann. Luther wurde im Januar 1521 wegen seiner Thesen, die er sich zurückzunehmen weigerte exkommuniziert. Mit der Übersetzung der Bibel fing er etwa zwei Monate nach seiner Exkommunikation an.
bzgl Luthers Exkommunikation siehe @El Quijote

Ansonsten bin ich gespannt auf die Heerscharen exkommunizierter Buchdrucker nach Luther...
 
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