Dem Zitat kann ich aber auch nicht entnehmen, dass Churchill im Bewusstsein handelte, das Völkerrecht gebrochen zu haben. Seine Einschätzung, dass sein Beschluss "höchst widerwärtig", und der "unnatürlichste" und "schmerzlichste" war, den er jemals fasste, kann sich ja auch auf eine Handlung beziehen, die er für sachlich geboten und rechtlich zulässig hielt. Zudem sollte man bei Churchills Ausdrucksweisen auch dessen Gemütserkrankung berücksichtigen. Der Mann war manisch-depressiv und malte so etwas in den literarisch düstersten Farben aus.
Was aber nicht die Frage beantworten würde, ob die französische Flotte im Rahmen des Rechts oder durch einen Rechtsbruch ausgeschaltet wurde. Man kann sich ja auch unbewußt rechtmäßig oder unbewußt rechtswidrig verhalten.
Sagen wir so:
Es war Churchill herzlich egal, ob er sich im Rahmen des Völkerrechts bewegte oder nicht.
Correlli Barnett beschreibt in seinem Standardwerk "Engage the enemy more closely - The Royal Navy in World War II" London 1991 S. 173 den Beschluss des Kriegskabinetts in der Sitzung vom 24. Juni, in der die Unterzeichnung des Waffenstillstandsvertrages durch Frankreich bekannt wurde, wie folgt:
Churchill confronted (the war cabinet) with the ruthless decision of of a Cromwell or Nelson , telling his colleagues, that they must act 'solely in accordance with the dictates of our own safety'. .......... It also discussed the the operational problems of sinking the French ships, which ...... could only be done ' in a surprise attack at dawn and without any form of prior notification'. Yet even now ..... the Cabinet found it 'hard to make' a decision to order 'the destruction of people who only 48 hours ago had been Allies.....'
Barnetts Zitate beziehen auf das Protokoll der Kabinettssitzung.
Das Kriegskabinett beschloss ferner, den in britischen Häfen und Alexandria befindlichen Einheiten der französischen Marine zu verbieten, in See zu gehen, in Alexandria unter Androhung der Beschießung bei einem derartigen Versuch. Weiterhin wurde beschlossen, dass zum frühestmöglichen Zeitpunkt, dh sobald überlegene britische Streitkräfte vor Ort sein konnten, das französische Geschwader in Mers el Kebir undOran weggenommen oder vernichtet werden sollte. Dieser Zeitpunkt war der 3. Juli.
In den ersten Stunden des 3. Juli überfielen englische Truppen die in Portsmouth und Plymouth liegenden französischen Einheiten, wobei der Plan, die Besatzungen im Schlaf zu überraschen fast aufging. Die Besatzung des U-Kreuzers "Surcouf" wehrte sich und es gab englische und französische Tote.
Aus Alexandria funkte Admiral Cunningham seine strikte Ablehnung jeglicher Gewaltanwendung gegen die dort liegenden französischen Einheiten, und erklärte das gleiche in bezug auf das Geschwader in Mers el Kebir. Churchill erlaubte Cunningham, mit dem französischen Admiral Godfroy zu verhandeln, und es gelang ihm, trotz der Ereignisse in England und Mers el Kebir, eine Demilitarisierung auf dem Verhandlungswege zu erreichen. Churchill behinderte ihn in seinen Verhandlungen über eine friedliche Lösung durch eine zwischenzeitlich erhobene Forderung Godfroy möge seine Besatzungen "at once" reduzieren und ein Telegramm: "Do not (Repeat) NOT fail."
In der Nacht vom 2. zum 3. Juli erhielt Admiral Somerville von Churchill den Text des Ultimatums, der Admiral Gensoul in Mers el Kebir zu übermitteln war. Es war befristet auf 6 Stunden ließ keine Demilitarisierung vor Ort zu, wie sie in Alexandria angeboten worden war. Außerdem wurde Somerville angewiesen, die ganze Aktion am 3. Juli abzuschließen. Wegen der anderen Situation in Alexandria und der Befürchtung, dass die Aktion auf französischer Seite zu hohen Verlusten, auch bei Zivilisten, führen würde, entwarf der Admiral of the Fleet Pound am Vormittag eine Nachricht an Somerville, die ihm eine Demobilisierung der französischen Einheiten vor Ort erlaubt hätte. Der Entwurf wurde vom Kriegskabinett auf Wunsch Churchills abgelehnt. Churchill war der Mann, der hier ständig auf rücksichtsloses Vorgehen drängte.
Captain Holland, ein sehr frankophiler früherer Marineattaché in Paris, wurde zu Gensoul geschickt, um das Ultimatum zu übermitteln. Es erschien ihm zunächst, dass die Franzosen darauf eingehen würden und er riet dringend von Gewalt ab. Am Nachmittag ging Holland noch einmal zu Gensoul, dem nun wohl erst aufging, dass die Briten ihn tatsächlich angreifen würden. Er hatte inzwischen die Nachricht über das Blutvergießen in Plymouth beim Überfall auf die französischen Schiffe erhalten.. Um 17.15, während Holland noch verhandelte, erhielt Gensoul einen Funkspruch von Somerville, dass er um 17.30 das Feuer eröffnen werde. Holland verabschiedete sich und fuhr zurück.
Um 17.55 eröffneten die Briten das Feuer und um 18.04 befahl Somerville, das Feuer wieder einzustellen. Inzwischen waren 1.250 Franzosen, die sich praktisch nicht wehren konnten, tot.
Churchill handelte hier völlig rücksichtslos, getreu dem Toast Stephen Decatur's: "Right or wrong, my country!", den G.K. Chesterton wie folgt kommentiert hat:
'My country, right or wrong' is a thing no patriot would ever think of saying except in a desperate case. It is like saying 'My mother, drunk or sober.'
Gilbert K. Chesterton
Aber vielleicht war es ein "desparate case'. Ich denke, es ist kein Fall für spitzfindige völkerrechtliche Analysen, denn das Verhalten der Briten ist auf jeden Fall auch rechtlich fragwürdig. Man denke etwa an das Propotionalitätsprinzip und das Abkommen, betreffend die Beschießung durch Seestreitkräfte in Kriegszeiten. Aber ich will das hier nicht vertiefen.