Der "dünnen, erbärmlichen und dümmlichen" Formulierung folgt zB Herwig, Germany and the "Short-War" Illusion: Toward a New Interpretation?, JoMH 2002, S. 681 (und in seinen weiteren Publikationen)
"Die deutsche Kriegsentscheidung 1914 muss, auf Basis der Förster-These, vor dem Hintergrund einer militärischen Festlegung/Abstützung auf einen 40-tägigen Erstschlagsplan gegen Frankreich gesehen werden - begleitet von der Überzeugung von einem längeren, blutigen Abnutzungskrieg als einem möglicherweise nicht gewinnbaren Unterfangen [Anm: h.M. zum Standpunkt von Moltke].
Der Chef des Generalstbes hatte jedenfalls keine Zweifel/Illusionen über diesen "kommenden Krieg". Am 28.7.1914 - bereit, die große Symphonie des Schlieffen-Planes zu inszenieren - verfasste [der Militär] Moltke die geheime "Bewertung der politischen [sic!] Lage", die er am nächsten Tag dem Kanzler präsentierte [Anm: zuvor aber Wilhelm II.!]. Darin sprach Moltke vom kommenden Krieg als Weltkrieg ...
Mein Gott, Silesia, das ist doch alles überhaupt nicht umstritten. Umstritten ist nur die Frage, ob das Militär die URSACHE dafür war, so wie van Evera es mit den Worten "
...that the cult of the offensive was a principal cause of the First World War..." oder wie Wallach es mit seiner schwach dargelegten Argumentation von der Entmachtung der Politik durch das Militär behauptet.
Wir werden aber nie einer Lösung näher kommen, wenn wir ständig zwischen dem "langen Weg" in den Krieg und der Überbetonung der Julikrise hin und her springen.
Gehen wir es doch mal vom Anfang aus. Die tiefgreifenden Veränderungen, die sich infolge der Revolutionskriege im Nationalstaatsgedanken, in den Sozialstrukturen und im Militärwesen ergaben, sind zwar wichtig, aber die lasse außen vor und fange mit einem festen Datum an: 18. Januar 1871.
Wilhelm lässt sich in Versailles zum Kaiser krönen, das Deutsche Reich entsteht, eine neue Großmacht erscheint auf der europäischen Bühne. Das hat das Gefüge zwischen den Mächten durcheinandergebracht, denn es gab nun fünf Großmächte. Eine ungerade Zahl. Folge: Eine Pattsituation war ab sofort nicht mehr möglich, jede Großmacht hätte in einem Konflikt das "Zünglein an der Waage" spielen und - im Extremfall - allein über Krieg und Frieden entscheiden können. Das hat Bismarck ausgenutzt und versucht, Deutschland durch sein Bündnissystem in eine Lage zu bringen, aus der heraus das Reich immer "Zünglein an der Waage" sein und Frankreich ausgrenzen konnte.
Die Großmächte hatten Mühe, unter diesen Umständen ein neues Gleichgewicht miteinander zu finden. Das ist die politische Ausgangslage. Hier tritt das Militär als Faktor hinzu und verlieh dem gestörten Machtgefüge erhebliche Sprengkraft: Wir reden nämlich über eine Zeit, in der die Großmächte es als ihr natürliches Recht angesehen haben, jederzeit Krieg zu führen wenn sie es für sinnvoll hielten. Dass sie dazu fähig waren und dies hin und wieder unter Beweis stellten, war geradezu konstituierend für ihren Großmachtstatus! Dabei waren die Mobilisierungszeiten so kurz, dass jede Großmacht quasi aus dem Stand mit beträchtlicher Kraft hätte zuschlagen können.
Deshalb gab es in Deutschland einen Großen Generalstab - und vergleichbare Institutionen in den anderen Großmächten -, der nichts anderes zu tun hatte, als sich für jede mögliche Konfliktkonstellation Pläne für die Kriegführung auszudenken.
Ich vermute, bis hierhin sind wir uns noch einig, dass die Politik in vollem Ausmaß den Rahmen gesetzt hat, in dem das Militär planen (und im Notfall agieren) konnte. Das Militär hatte die Rolle von "Netz und doppeltem Boden" und sollte aktiv werden, wenn die Politik ihre Ziele nicht erreichte. Das waren auch nicht nur Planspiele, sondern ganz ernsthafte Optionen. Krieg galt damals als völlig normales Mittel der Politik.
Die Differenzen fangen an, wenn wir zu dem einen Spezialfall kommen, der für Deutschland besonders bedrohlich war: Ein Zwei-Fronten-Krieg gegen Frankreich und Russland, vielleicht sogar noch unter Beteiligung Englands. Auch für diesen Fall wurde beim Militär "vorausgeplant". "Höhepunkt" dieser Planung war der Schlieffenplan, der 1905 fertig war - und der keineswegs im Militär "geheim gehalten" wurde. Schlieffens Denkschrift - auch der Plan zur Missachtung der belgischen Neutralität - war der Politik sehr wohl bekannt.
Und hier kommt jetzt der Punkt, ab dem nicht mehr die Politik den Rahmen gesetzt haben soll, sondern das Militär selbst. Das ist aber einfach nicht plausibel. Es gibt dafür auf dem "langen Weg" keine Anhaltspunkte. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass es sich um mehr handelte als um ein Konzept für den von der Politik befürchteten Fall, dass es zu einem Zwei-Fronten-Krieg kommen könnte.
Es gibt auch keinen Anhaltspunkt dafür, dass es außer diesem Plan keine anderen mehr gegeben hätte. Es ist völlig widersinnig anzunehmen, dass bei einem (unwahrscheinlichen) Angriff Dänemarks zur Rückgewinnung verlorener Gebiete in Schleswig-Holstein in Deutschland sofort den Schlieffenplan ausgelöst worden wäre. Es ist nichtmal anzunehmen, dass dies bei einem Krieg um Elsass-Lothringen zwingend passiert wäre.
Dass das deutsche Militär weiterhin auch auf alle denkbaren anderen Konflikte vorbereitet war, zeigt sich zum Beispiel an der Verteilung von Festungen und Garnisonsstädten im Land, an der daraus erkennbarn Zuordnung von Truppen zu "gedachten" Großverbänden etc. Wenn man sich die jährlichen Großmanöver und Generalstabsreisen genau ansieht, findet man mit Sicherheit Belege, dass dabei immer auch für Lagen geübt wurde, die nichts mit Zwei-Fronten-Krieg zu tun hatten.
Eine "Übermacht" des Militärs über die Politik oder die Existenz von Offensiv-Dogmen kann man auch nicht einfach daraus ableiten, dass die Deutschen sich für den (offensiven) Schlieffenplan entschieden und andere, defensive Konzepte (z.B. den Festungsausbau, den von der Golz vorgeschlagen hatte) verworfen hatten. Hierfür müsste man sich erstmal ansehen, ob mögliche Alternativen überhaupt die Zielvorgaben hätten erfüllen können. Beispiel: Politik und Militär gingen übereinstimmend davon aus, dass die deutschen Truppen den vereinigten russischen und französischen weit unterlegen sein würden. In der Defensive abzuwarten, bis die beiden möglichen Kriegsgegner koordinert angriffen, konnte deshalb keine Option sein.
Eine Veränderung in der "Bedeutung" des Plans trat ein, als Bismarcks Bündnissystem bröckelte und Deutschland sich zunehmend von einem Bündnis aus drei anderen Großmächten bedroht sah (ob berechtigt oder nicht, ist dabei erstmal egal). Dies führte dazu, dass immer ernsthafter über einen Präventivkrieg nachgedacht wurde. Auch hier lag das aber wieder nicht daran, dass das Militär gedrängelt hätte, sondern resultierte aus der politischen Lage.
Dies führte dann auch nicht zwangsläufig zu einem Krieg. Ein Beleg dafür ist der russisch-japanische Krieg 1904/05. Schon zu jenem Zeitpunkt wurde in Deutschland ernsthaft erwogen, jetzt präventiv loszuschlagen. Das erfolgte damals nicht, weil ein Angriffskrieg gegen Frankreich innenpolitisch (bei der Arbeiterbewegung) nicht durchsetzbar war und weil Deutschland nicht sicher sein konnte, dass Österreich-Ungarn an dem Krieg teilnehmen würde. Beides rein politische Erwägungen.
Das sah dann in der Julikrise anders aus: Die Teilnahme Österreich-Ungarns war absolut sicher. Und die Zustimmung der Sozialdemokratie holte man sich, indem man einen frühen Kriegseintritt Russlands provozierte. Die deutsche Führung sah es einfach als eine günstige Gelegenheit an, den "Präventivkrieg" zu führen, von dem sie dachte, dass sie ihn irgendwann ohnehin führen müsse.
Zu dem Zeitpunkt konnte der militärische Aufmarsch die Politik dann nicht mehr von Friedensbemühungen abhalten, weil Friedensbemühungen gar nicht mehr angestrebt waren. Schon von dem Moment an nicht mehr, in dem der Kaiser seinen "Blankoscheck" ausgestellt hat. Diese Entscheidung hat er nämlich getroffen, ohne dass sie zu dem Zeitpunkt notwendig war. Es bestand noch gar kein Anlass anzunehmen, dass der sich abzeichnende Krieg auf dem Balkan von einem Regionalkonflikt zu einem Weltkrieg eskalieren würde.
Mit entschiedener Diplomatie hätte sich zu dem Zeitpunkt vermutlich sogar noch ein Krieg auf dem Balkan verhindern lassen. Das wollte die deutsche Seite aber nicht. Sie wollte die "Gunst der Stunde" nutzen und den Krieg lostreten. Zitate, die das belegen, hast Du in Deinem vorletzten Beitrag ja schon angeführt.
Die daraufhin ausgelöste Mobilmachung konnte die deutsche Politik dann auch nicht in ihren Optionen beschränken. Der Krieg war schon beschlossen, eine Friedenslösung nicht mehr gewünscht. Und in dem Moment, da die Mobilmachung/der Aufmarsch begann, gab es auch keine Möglichkeit zur Umkehr mehr.
Dass Moltke am 28. Juli 1914 keine Zweifel am kommenden Krieg hatte, verwundert nicht. Er sollte ihn ja immerhin führen. Deshalb spielt es auch keine große Rolle mehr, was Moltke an dem Tag dem Kanzler schrieb. Das kann man wohl eher als "Argumentationshilfe" verstehen. Schließlich war Bethmann Hollweg der arme Kerl, der gegenüber der Weltöffentlichkeit den Einmarsch nach Belgien rechtfertigen musste.
Bereits am 2. oder 3. August wurde dann im Reichstag die erste Kriegsanleihe beschlossen - mit den Stimmen der Sozialdemokratie, deren Zustimmung ganz sicher nicht in einem kurzen Gespräch hergestellt werden konnte. Auch auf der innenpolitischen Ebene ist der Krieg also zielgerichtet vorbereitet worden.
Das alles sehe ich nicht als Ergebnis des Wirkens militärischer Dogmen. Es war das Ergebnis dessen, was im Wesen der Großmächte jener Zeit lag: Sie haben Krieg für ein ganz normales Mittel der Politik gehalten und sie waren überzeugt, dass es ihr Recht ist, jederzeit einen Krieg zu beginnen.
MfG
P.S.: Das konkrete militärische Handeln im Krieg und z.B. Schlieffens Aussagen dazu lassen die Existenz von Offensivdogmen auch eher unwahrscheinlich erscheinen. Zitate kann ich auf Wunsch am späteren Abend liefern.