Konfession, Antisemitismus und NS

Die Kirche hatte damit nichts zu tun. Sie war Konkurrent um die Deutungshoheit.
Das sehe ich anders. Nicht nur hatten sich die evangelischen Christen mehrheitlich zum Nazistaat bekannt, auch der hier so hoch gelobte Bonhoeffer schrieb 14 Tage nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte (auch getaufter Juden!) im April 1933 – Zitat (Fettschreibung durch mich):

Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“

Auch Bonhoeffer meinte also, dass die Juden an ihrem Unglück selbst schuld seien.

Und wie nahezu alle Organisationen und Verbände haben auch evangelischen Kirchen den sogenannten Arienparagraphen (verabschiedet am 7. April 1933) angewandt und nach und nach getaufte Juden aus den kirchlichen Diensten entlassen.

Zur Lenkung und Kontrolle der Presse im III. Reich siehe auch: https://ausstellungen.deutsche-digitale-bibliothek.de/ns-presse/#s0

Aus meiner Sicht genügt das bei Weitem nicht, wenn es Dir darum geht, das Verhältnis der evangelischen Kirche zur Ausgrenzung und Ermordung der deutschen und europäischen Juden zu klären.
Ach @Stradivari, dann lies halt dieses Dokument, das @hatl schon 14. Juni 2022 in diesem Faden gepostet und aus unerfindlichen Gründen kaum jemand gelesen, geschweige denn kommentiert hatte - ein Zitat daraus:

Die völkisch-protestantischen Diskurse liefen auf »Praxis« zu, und diese Praxis bedeutete im Kirchenleben des »Dritten Reiches« dann: Anwendung des Arierparagrafen als Kriterium für die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche, Stigmatisierung und Verdrängung »nichtarischer« Pfarrer und kirchlicher Mitarbeiter, Verweigerung der Taufe für »Nichtarier«, in extremen Fällen während der Kriegszeit schloss diese Haltung den Ausschluss von »nichtarischen« Christen von der Teilnahme am Gottesdienst ein. In Jochen Kleppers Tagebuch ist nachzulesen, was es für seine Stieftochter bedeutete, mit dem Judenstern in Berlin-Nikolassee zum Gottesdienst gehen zu müssen; und das in einer vornehmen, bildungsbürgerlichen Gemeinde des Berliner Südwestens, in der die Deutschen Christen kaum eine Rolle spielten.

Auch #40 in diesem Faden enthält Hinweise, wie sich Lutheraner während der Nazizeit verhielten. (Beachte bitte auch die darin enthaltene Links)
 
Nicht nur hatten sich die evangelischen Christen mehrheitlich zum Nazistaat bekannt, auch der hier so hoch gelobte Bonhoeffer schrieb 14 Tage nach dem Boykott der jüdischen Geschäfte (auch getaufter Juden!) im April 1933 – Zitat (Fettschreibung durch mich):

Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“

Auch Bonhoeffer meinte also, dass die Juden an ihrem Unglück selbst schuld seien.
so scheint es, wenn man aus dem Zusammenhang reissend isoliert zitiert - ich darf das
Zitat (Fettschreibung durch mich)
ein wenig ausführlicher zitieren (Unterstreichungen von mir, Gründe dafür sind selbsterklärend...)
Er begann den Aufsatz „Die Kirche vor der Judenfrage“, ergänzte ihn nach dem am 7. April 1933 erlassenen Arierparagraphen bis zum 15. April und trug ihn dann einem Pfarrerkreis vor. Im Juni ließ er den Aufsatz noch rechtzeitig vor Zensurmaßnahmen des NS-Regimes drucken. Er thematisierte damit als erster evangelischer Theologe neben Heinrich Vogel („Kreuz und Hakenkreuz“, 27. April 1933) das Verhältnis der NS-Rassenideologie zum christlichen Glauben. Er folgte zunächst der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre und gestand dem Staat das Recht zu, die „Judenfrage“ gesetzlich zu regeln und dabei „neue Wege zu gehen“, ohne dass die Kirche sich einmischen solle. Er griff auch die traditionelle antijudaistische Substitutionstheologie auf:

„Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“[13]

Doch in den ergänzten Thesen nahm er zur damaligen staatlichen Gleichschaltungspolitik, die den Rechtsstaat abschaffte, Stellung:[14]

„Der Staat, der die christliche Verkündigung gefährdet, verneint sich selbst.“

Daraus folgerte er drei kirchliche Aufgaben:

„1. Die Kirche hat den Staat zu fragen, ob sein Handeln von ihm als legitim staatliches Handeln verantwortet werden könne … 2. Die Kirche ist den Opfern jeder Gesellschaftsordnung in unbedingter Weise verpflichtet, auch wenn sie nicht der christlichen Gemeinde zugehören … 3. Wenn die Kirche den Staat ein Zuviel oder ein Zuwenig an Ordnung und Recht ausüben sieht, kommt sie in die Lage, nicht nur die Opfer unter dem Rad zu verbinden, sondern dem Rad selbst in die Speichen zu fallen.“

Zu den ersten beiden Aufgaben sah er die Kirche im deutschen Staat aktuell gefordert. Ob und wann ein direktes kirchliches Widerstandsrecht gegen diesen Staat gegeben sei, wollte er jedoch nicht den Einzelnen, sondern ein „evangelisches Konzil“ entscheiden lassen.[13] Damit erhob er anders als die meisten Mittheologen der späteren Bekennenden Kirche, die allenfalls die Kirchenmitgliedschaft der Judenchristen gegen Staatsübergriffe verteidigten, die Verteidigung der Menschenrechte zur gesamtkirchlichen Pflicht und trat von Beginn an für das gesamte verfolgte Judentum ein. Dabei hoffte er damals noch auf ein gemeinsames, vom Glaubensbekenntnis bestimmtes Handeln der Ökumene.

Doch dieser Konzilsgedanke war seinen lutherisch geprägten Hörern ebenso fremd wie die unter Umständen zu politischem Widerstand für die Juden nötige Christusnachfolge, so dass einige während seines Vortrags unter Protest den Raum verließen. Als Bonhoeffer später erkannte, dass er mit diesen Positionen auch in der Bekennenden Kirche isoliert blieb, entschied er sich eigenverantwortlich für seine individuelle Teilnahme am nicht-kirchlichen, militärischen Widerstand gegen das NS-Regime.
 
(irgendwie ist mir danach, auch mal nur ganz kurz und ohne alles drumherum (Kontext und so) zu zitieren) :
Damit erhob er (Bonhoeffer) anders als die meisten Mittheologen der späteren Bekennenden Kirche, die allenfalls die Kirchenmitgliedschaft der Judenchristen gegen Staatsübergriffe verteidigten, die Verteidigung der Menschenrechte zur gesamtkirchlichen Pflicht und trat von Beginn an für das gesamte verfolgte Judentum ein.
(Fettschreibung durch mich)
 
(Das Gegenargument, in England hätten kaum Juden gelebt, überzeugt mich nicht; Fremdenfeindlichkeit braucht zur Entstehung keine Nachbarschaft zu Fremden.)

Dass die Präsenz von Fremden eine Rolle spielt für die Verbreitung von Fremdenfeindlichkeit, wird sich kaum abstreiten lassen:

Lebten um 1880 in Großbritannien nur etwa 60.000 Juden, so erreichte die Zahl bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges etwa 265.000. Welche Folgen dieser Anstieg für die politische Kultur und die öffentliche Meinung in Großbritannien hatte, ist in der aktuellen historischen Forschung kontrovers diskutiert worden. Während Einvernehmen darüber herrscht, dass es trotz des veränderten politischen Klimas in Großbritannien nicht zur Herausbildung einer antisemitischen politischen Bewegung gekommen ist, dreht sich die Diskussion vor allem darum, inwieweit sich im Zuge der Einwanderungsbewegung auch in Großbritannien antisemitische Vorurteile und negative Judenbilder in der Gesellschaft verbreitet haben.
[...]
Gleichwohl kam es während des Krieges gar zu Ausbrüchen antisemitischer Gewalt in Großbritannien, wobei Terwey sowohl die Unruhen, zu denen es nach der Versenkung des Passagierschiffes „Lusitania“ im Mai 1915 in zahlreichen Städten Englands gekommen war, als auch die antisemitischen Gewaltexzesse von 1917, die in der englischen Industriestadt Leeds wie in London ausgebrochen waren, rekapituliert.
Rezension zu: S. Terwey: Moderner Antisemitismus in Großbritannien

Selbstverständlich bin auch ich der Ansicht, dass zur Pflege von Feindbildern keiner Auseinandersetzung mit der Realität (sei es über persönliche Kontakte, sei es über die Kenntnisnahme objektiver Fakten) bedarf.
 
Du kannst hier relativieren, unterstreichen und fettschreiben so viel du willst, @dekumatland, dennoch bleibt die entlarvende Aussage des einen Bonhoeffersatzes erhalten - Zitat:

„Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“

Okay, später hat sich Bonhoeffers Einstellung gegenüber Juden ins positive geändert, aber davon wollten seine lutherischen Freunde nichts wissen und auch in der Bekennenden Kirche blieb er mit seinen Ansichten isoliert, so dass ihm nichts anderes übrigblieb, als den Weg des Martyriums zu beschreiten.

Nach dem Krieg wurde er von der EKD für sein Opfer zum Heiligen … nein, zur Galionsfigur des evangelischen Widerstands erhoben, den es in Wirklichkeit nicht gab. Bonhoeffer war ein Rufender in der Wüste, denn das millionenfache Heer der Lutheraner stellte sich einfach taub.

Na ja, vielleicht waren sie wirklich taub. Taub geworden von den Fanfaren, die die Siegesmeldungen ankündigten – hier ein Beispiel: OKW-Sondermeldung mit Russlandfanfare -, schließlich ging es gegen Russen, neben Juden anderen Untermenschen, die selbstverständlich auch von den Juden unterwandert waren ...

Das alles dürfte in diesem Forum bekannt sein, dennoch sehe mich angesichts der Gegenrede mancher hier gezwungen, dies hier zu sagen. Wenn mir das als Aktionismus ausgelegt werden sollte – sei’s drum.
 
Du kannst hier relativieren, unterstreichen und fettschreiben so viel du willst, @dekumatland, dennoch bleibt die entlarvende Aussage des einen Bonhoeffersatzes erhalten - Zitat:

„Niemals ist in der Kirche Christi der Gedanke verloren gegangen, daß das ‚auserwählte Volk‘, das den Erlöser der Welt ans Kreuz schlug, in langer Leidensgeschichte den Fluch seines Leidens tragen muss.“
Und hast Du weiter gelesen?

Dieses Wissen der Kirche um den Fluch, der auf diesem Volk lastet, hebt sie weit hinaus über jedes billige Moralisieren, vielmehr weiß sie sich selbst als immer wieder ihrem Herrn untreue Kirche mit gedemütigt beim Anblick jenes verstoßenen Volkes.
 
Du kannst hier relativieren, unterstreichen und fettschreiben so viel du willst, @dekumatland,
Oh...wenn ich deine @Dion "Argumentationsweise" (aus dem Zusammenhang gerissenes selektives zitieren) übernehme, dann ist das, weil ich das tue, plötzlich "relativieren"? Und bei dir ist dieselbe "Methodik" edel?
Dazu ein literarischer Tipp: "laß ruhn den Stein, er trifft dein eigen Haupt" (Droste-Hülshoff, die Judenbuche)

Spaß beiseite: weise mir relativieren in meinen beiden vorigen Beiträgen nach.
 
Ich habe die Neuauflage vor mir; Luther wird da nicht erwähnt und eine Untersuchung auf "Korrespondenzen zwischen Nazi-Ideologie und Luthertum" ist eigentlich nicht Falters Forschungsgegenstand.

Das nicht, ggf. habe ich mich auch falsch ausgedrückt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Falter im Anschluss an seine Feststellung, dass Hitler und die NSDAP in den protestantischen Millieus überproportional gewählt wurde, dem so gleich auch die einschränkende Bemerkung hinzugesetzt hatte, dass dieser Umstand allerdings nicht beweist, dass der Protstantismus die (bestimmende) Ursache dafür wäre.

Ich muss dazu sagen, dass ich mich an die Auflage nicht mehr erinnere (müsste eine ältere gewesen sein), ich hatte mir das Werk vor Jahren (muss 6 oder 7 Jahre her sein) mal aus der Stadtbücherei geholt, bin mir aber ziemlich sicher, dass diese Bemerkung dort fiel, oder ich habe sie aus einer anderen Betrachtung und sie fälschlich an Falter asoziiert.

Ich werde das gerne nachprüfen und mir das Buch in nächster Zeit noch einmal aus der Bibliothek holen, müsste mir dafür allerdings etwas Zeit erbitten.

Welche Faktoren meinst Du? Wenn Du mir da zwei oder drei Stichworte liefern würdest, kann ich gern selber nachschauen.

Ich meine vor allem darüber hinausgehende regionalspezifische Faktoren, die vor allem auf der Provinzebene eine Rolle gespielt haben dürften.
Schaut man sich den agrarischen Osten an, hatte man es vor allem auch mit einer wirschaftlichen Krisengion, mit unterdurchscnittlicher Produktivität sehr schwacher Infrsstruktur, im Reichsdurchnitt relativ niedriger Bildung und einem hohen demographischen Druck durch überdurchschnittliche Geburtenraten zu tun.
Zudem in Teilen mit Regionen, in denen schon in der Kaiserzeit mit einer Germanisierungspolitik und damit dem anheizen nationalistischer Konflikte begonnen wurden, die sich durch das Aufkommen der Grenzfragen mit Polen verschärften und die von den Weimarer Regierungen durch dass Hineinpumpen von Mitteln in die entsprechende Propaganda, den Zollkrieg mit Polen etc. auch immer schön am Laufen gehalten wurden.

Bedenkt man diese Dinge verwundert es eigentlich selbst, wenn man den Protestantismus völlig aus dem Spiel lässt nicht, dass dort ziemlich rechtslastig gewählt wurde.
Die Region dürfte auch von der Weltwirtschaftskrise 1929 und der Bankenkrise 1931 in anderer Form betroffen gewesen sein, als andere Regionen:
Zwar gab es hier wenig Industrie die direkt betroffen gewesen wäre aber die Krise der Industrie dürfte für den argrarischen Osten das demographische Regulativ der Binnenmigration erheblich gestört haben, insofern mit der Massenarbeitslosigkeit mindestens zeitweise der Bedarf der Ballungsräume nicht mehr gegeben und Abwanderung keine sinnvolle Perspektive mher darstellte.
Möglicherweise mag es auch temporär zu einer Rückwanderungsbewegung von arbeitslos gewordenen Industriearbeitern gegeben haben, die aus diesen Regionen kamen, noch nicht lange in den Ballungsräumen verwurzelt waren und hofften die schlimmste Zeit bei der Familie auf dem Land besser zu überstehen.

Jedenfalls wird die Problematik die demographischen Überschüsse der Region nicht mehr an die Ballungsräume abgeben zu können, gerade für die kinderreichen Familien mit wenig rentablen Kleinbetrieben, ein massives Problem gewesen sein.
Insofern ein Großteil der agrarischen Betriebe im Osten nicht nur technisch rückständig, sondern auch verschuldet war, dürfte dann auch die Bankenkrise von 1931 massiv zugeschlagen haben, in Form wachsenden Drängens der Gläubiger auf Rückzalhung ausstehnder Kredite und Schwierigkeiten neue Kredite zu akzeptablen Konditionen aufnehmen zu können.

Ich kann das an der Stelle nicht beweisen, kann mir aber durchaus vorstellen, dass unter solchen Bedingungen, bestimmte Erzählungen der Nazis aus ganz anderen Gründen, als aus geligiöser Voreingenommenheit zogen:

Z.B. würde es mich in einem Millieu mit agrarischen Monostrukturen, ohne Aussicht eine bedeutende Industrie zu entwickeln, weil die Standortbedingungen nicht stimmen, mit niedriger Produktivität und gleichzeitig hohen Geburtenraten und Schwierigkeiten den demographischen Überschuss in ausreichendem Maße abzugeben, so überhaupt nicht wundern, wenn diese Umstände z.B. zu einer erhöhten Akzeptanz für das nationalsozialistische "Lebensraum-Konzept" geführt hätten

Z.B. würde es mich ebenfalls nicht wundern, wenn sich in einem Gebiet in dem viele Betriebe vor dem Problem drückender Schulden standen, sich ein ganz besonderer Brass auf Personen entwickelt hätte, die an Geldgeschäften verdienten, der für die Erzählungen des Antisemitismus, der die Juden stehts in Verbindung mit Wucherei gebracht hat, sehr anschlussfähig gewesen wäre.

Das wird man nicht landesweit verallgemeinern können und es ist sicherlich auch nicht geeignet die Wahlerfolge er Nazis insgesamt zu erklären, aber ich denke darüber sollte man sich unterhalten.
Durchaus auch im Hinblick auf andere Regionen, auch wenn es im Osten meiner Meinung nach am plakativsten ist, weil da das Meiste zusammen kommt.
 
Lebten um 1880 in Großbritannien nur etwa 60.000 Juden, so erreichte die Zahl bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges etwa 265.000.

Darf ich in diesem Zusammenhang fragen ob auch etwas zur geographischen Verteilung genannt wird? Würde mich interessieren. Die Einwanderung dürfte sicherlich schwerpunktmäßig die industriellen Ballungsräume also London, Birmingham, Nordengland und Glasgow betroffen haben, sind aber regionale Schwerpunktbildungen und Ausbildungenn spezifisch jüdischer Millieus in den Städten konkrt fassbar?
 
Und hast Du weiter gelesen?

Dieses Wissen der Kirche um den Fluch, der auf diesem Volk lastet, hebt sie weit hinaus über jedes billige Moralisieren, vielmehr weiß sie sich selbst als immer wieder ihrem Herrn untreue Kirche mit gedemütigt beim Anblick jenes verstoßenen Volkes.
Leider nein. Seinen Aufsatz "Die Kirche vor der Judenfrage" habe ich erst heute ganz gelesen. Insofern war meine Behauptung in Richtung Bonhoeffer eindeutig überzogen. Er war ein ehrenwerter Mann; und mit seiner Position gegenüber Juden in der evangelisch-lutherischen Kirche eine der seltenen Ausnahmen. Leider.

weise mir relativieren in meinen beiden vorigen Beiträgen nach.
Kann ich nicht. War echt schlau, das nur auf deine letzten beiden Beiträge einzuschränken, sonst ginge das für dich vermutlich nicht so gut aus. :D
 
Also mussten sie (die Juden) sich in den Städten niederlassen, wo sie aufgrund der Enge ab und zu mit ihren christlichen Nachbarn aneinandergerieten.

Wenn bei den Christen die Arbeit aufgrund des Sonntags/Feiertags ruhte, ging sie bei den Juden weiter – und umgekehrt. Es gab im Mittelalter sehr viele christliche Feiertage, bei den Juden weniger. Und es könnte sein, dass Juden dadurch mehr arbeiteten und damit mehr Geld verdienten als ihre christlichen Nachbarn – jetzt abgesehen davon, dass das Arbeiten an einem christlichen Feiertag einem Frevel gleichkam.


Man sieht: Für Antijudaismus/Antisemitismus gab es viele Gründe religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Art.

Am Vorabend der Französischen Revolution lebte die weitaus überwiegende Mehrheit der jüdischen Bevölkerung Europas auf dem Land. In einer Stadt (weiter) wohnen zu dürfen, war im 17. und 18. Jahrhundert viel mehr ein Privileg, als ein Fluch.

Städte, die (weiterhin) Juden duldeten, wiesen ihnen oft besondere Ghettos und Wohnbezirke zu. Da herrschten freilich durchaus beengte Wohnverhältnisse und abgesehen von wenigen lukrativen Gewerben auch sehr viel Armut.

Dennoch bot etwa die Freie Reichsstadt Frankfurt mit ihrem Judenviertel ungleich bessere Erwerbs- und Aufstiegsmöglichkeiten, als sich auf dem flachen Land boten. Es gab in Städten wie Frankfurt oder Gelnhausen berühmte Talmud Hochschulen, es gab in Städten viel eher Netzwerke, die einem Juden das Leben erleichtern konnten, viel mehr Möglichkeiten, irgendwo unterzukommen, einen Job als Schächter, Lehrer, Vorsänger, Beschneider oder Mazzen-Bäcker zu finden.

Viele Städte beschränkten jüdischen Zuzug, und im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts hatten Juden in Europa ihren urbanen Lebensraum verloren, waren ausgewiesen worden. In ganz Europa, vielleicht mit Ausnahme der Niederlande war ein Leben auf dem Land charakteristisch für jüdisches Leben. Ein Jude, der die Möglichkeit hatte, in einer Stadt zu leben, hatte im 16.-18. Jahrhundert allen Grund, Gott dafür zu danken- selbst wenn man im Judenviertel von Frankfurt oder Amsterdam nicht auf Rosen gebettet war. In einer Stadt boten sich ungleich mehr berufliche und soziale Chancen, als das auf dem Land der Fall war. Dort bot eigentlich nur der Vieh- und Häutehandel, der Juden Perspektiven bot.

In einer mittelalterlichen Stadt galt die Sonntagsruhe selbstverständlich auch für Juden. Selbst wenn Juden mehr hätten arbeiten wollen, hätten sie das an christlichen Feiertagen gar nicht gedurft.

Auch durch mehr Arbeitszeit ergab sich für Juden selten mehr Verdienst.

Relativ gute Verdienstmöglichkeiten boten sich für Juden nur in wenigen Geschäftsbereichen:

- Wo Juden Universitäten besuchen durften, waren jüdische Ärzte recht gefragt.

- Al Gelehrter Rabbi, Talmudlehrer. Städte wie Frankfurt, Amsterdam hatten berühmte Jeschiwen. Die Publikationen manches Kabalisten oder Rabbi wurden in ganz Europa gelesen
Ein wirklich lukratives Geschäft war das Juweliergewerbe. Der alte Mayer Amschel Rothschild war in seiner Eigenschaft als Münz- und Antiquitätenhändler in Kontakt mit Wilhelm IX. von Hessen (damals noch -Hanau) gekommen, der leidenschaftlicher Münzsammler war.
 
Das nicht, ggf. habe ich mich auch falsch ausgedrückt.
Ich bin mir ziemlich sicher, dass Falter im Anschluss an seine Feststellung, dass Hitler und die NSDAP in den protestantischen Millieus überproportional gewählt wurde, dem so gleich auch die einschränkende Bemerkung hinzugesetzt hatte, dass dieser Umstand allerdings nicht beweist, dass der Protstantismus die (bestimmende) Ursache dafür wäre.

Diese Aussage finde ich so nicht, vielmehr resümiert Falter am Ende des Unterkapitels recht eindeutig:

Die Ergebnisse diese Unterkapitels sprechen dafür, dass es sich im Falle der Konfessionszugehörigkeit wohl tatsächlich um einen »genuinen«, von anderen Größen weitestgehend unabhängigen Einflussfaktor handelt, der für das Wahlverhalten gegenüber der NSDAP bis ins Jahr 1933 von ausschlaggebender Bedeutung war.

Mag sein, dass es in der Erstauflage nicht so deutlich formuliert war, die habe ich gerade nicht vor mir.


Ich meine vor allem darüber hinausgehende regionalspezifische Faktoren, die vor allem auf der Provinzebene eine Rolle gespielt haben dürften.
Natürlich gab es weitere Faktoren, die eine Rolle gespielt haben: Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer Schicht, Berufszugehörigkeit etc., und natürlich gibt es auch ein Unterkapitel über die regionale Ausbreitung der NSDAP. Das ist das Kapitel vor der Untersuchung konfessionsspezifischer Einflüsse:

Betrachtet man die soziale und wirtschaftliche Struktur dieser Kreise und Gemeinden, so fällt auf, dass die NSDAP nach 1928 ihre größten Erfolge vor allem in agrarischen Regionen mit evangelischer Bevölkerungsmehrheit und in überwiegend protestantischen Kleingemeinden erreichte, während sie in katholischen Agrargebieten und Landgemeinden mit hohem Katholikenanteil in der Diaspora agierte. Wir wollen im Folgenden den Einfluss dieser beiden Merkmale zunächst getrennt und dann in ihrem Zusammenspiel untersuchen.
 
Ach @Stradivari, dann lies halt dieses Dokument, das @hatl schon 14. Juni 2022 in diesem Faden gepostet und aus unerfindlichen Gründen kaum jemand gelesen, geschweige denn kommentiert hatte - ein Zitat daraus:

Die völkisch-protestantischen Diskurse liefen auf »Praxis« zu, und diese Praxis bedeutete im Kirchenleben des »Dritten Reiches« dann: Anwendung des Arierparagrafen als Kriterium für die Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche, Stigmatisierung und Verdrängung »nichtarischer« Pfarrer und kirchlicher Mitarbeiter, Verweigerung der Taufe für »Nichtarier«, in extremen Fällen während der Kriegszeit schloss diese Haltung den Ausschluss von »nichtarischen« Christen von der Teilnahme am Gottesdienst ein. In Jochen Kleppers Tagebuch ist nachzulesen, was es für seine Stieftochter bedeutete, mit dem Judenstern in Berlin-Nikolassee zum Gottesdienst gehen zu müssen; und das in einer vornehmen, bildungsbürgerlichen Gemeinde des Berliner Südwestens, in der die Deutschen Christen kaum eine Rolle spielten.

Auch #40 in diesem Faden enthält Hinweise, wie sich Lutheraner während der Nazizeit verhielten. (Beachte bitte auch die darin enthaltene Links)

Natürlich verhielten sich Lutheraner zum Teil auf diese Weise, wobei es sich bei einer Berliner Gemeinde eher um Unierte gehandelt haben dürfte. Das hat doch auch niemand in Abrede gestellt? Generell vermied es die Mehrheit der deutschen Gesellschaft ganz eindeutig, den angegriffenen, entrechteten und später zum Teil ermordeten Juden zu helfen. Vom Mitläufertum bei Übergriffen über stummes Dabeistehen bis hin zu innerer Missbilligung gab es viele Reaktionen, während echte Unterstützung eher selten blieb. Das zeigte sich beispielsweise in der Reichpogromnacht in aller Öffentlichkeit, es gilt aber eben quer über die Konfessionen und sozialen Schichten hinweg.

Man kann das heftig kritisieren oder gar verurteilen, und auch wenn ich nicht sicher bin, wie wir Mitdiskutanten uns in einer Diktatur verhalten würden, könnte man dieser Verurteilung eine gewisse Berechtigung nicht absprechen.

Deine These lief aber doch auf etwas ganz anderes hinaus, wenn ich es recht sehe? Du hattest doch eine Traditionslinie von Luther zum Antisemitismus der evangelischen Pfarrer und Gläubigen in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus gezogen, oder? Und diese lässt sich eben nicht dadurch belegen, dass man zeigt, wie wenige Menschen damals bereit waren, ihren jüdischen Mitbürgern zu helfen. Gerade dadurch wird sogar noch deutlicher, wie außergewöhnlich die Bildung der Bekennenden Kirche gewesen ist, zumal viele ihrer Mitglieder eben keine grundsätzlichen Gegner des Regimes waren.
 
Darf ich in diesem Zusammenhang fragen ob auch etwas zur geographischen Verteilung genannt wird?
Nein, es wird nur die Zahl von 250.000 Juden genannt und in der Fußnote verwiesen auf: David Feldman, Englishmen and Jews sowie Todd M. Endelman, The Jews of Britain, 1656 to 2000. Berkeley, Los Angeles, London 2002
 
Eine größere Präsenz wird ab Mitte/Ende der 1930er Jahre gegeben gewesen sein, aber aus der Präsenz allein ergibt sich nicht, dass das auch konsumiert oder dem Zustimmung gezollt worden wäre.

Dazu vielleicht noch folgende Untersuchung (ich habe sie nur überflogen):

Karlheinz Reuband, Die Leserschaft des "Stürmer" im Dritten Reich: soziale Zusammensetzung und antisemitische Orientierungen

Die Sekundäranalyse der Umfrage erbrachte, dass eine Mehrheit der Bürger jemals Artikel im „Stürmer“ gelesen hat – zu Hause, in „Stürmerkästen“ oder auch anderswo.

https://www.ssoar.info/ssoar/bitstr...26-reuband-die_leserschaft_des_sturmer_im.pdf

Nennenswerte Auflagenhöhen und "Stürmerkästen" gab es, wie schon gesagt, erst in den Jahren ab 1933...
 
Der Nationalsozialismus, in der nach außen getragenen Ideologie, hat nie christlich argumentiert.
Die Agitation gegen Juden begründet sich darin dass sie "fremd", "volksfeindlich", "schädigend", "international", "mit den Feinden Deutschlands verbündet" und dessen "Untergang", "Schicksal" und "Verhängnis" seien.
Das sind alles keine christlichen Topoi.

Ästhetisch und inhaltlich ist die nationalsozialistische Propaganda dem linksradikalen Denken nahe, vor allem in der Beschreibung und Ausgrenzung von Gegnern, aber auch in der Bildsprache.

Ein anderer Topos ist der der "Rassenschande". Vor 1934 war die Besetzung des Rheinlands durch französische Truppen, vor allem durch Truppen aus den französischen Kolonien, ein Thema in der öffentlichen Diskussion, aber auch in der privaten Erinnerungskultur wie z.B. Autobiographien. "Das Diktat von Versailles" war "Schmach und Schande".

Diese Themen waren schon vor der Machtergreifung der NSDAP in weiten Kreisen der Bevölkerung Teil der ideologiegesteuerten Wahrnehmung.
 
@Dion, es freut mich sehr, dass Du Dich - nachdem Du unbedachte Schnellschüsse abgegeben hast - wenigstens nachträglich mit dem einen oder anderen Text auch lesend befasst hast:

Leider nein. Seinen Aufsatz "Die Kirche vor der Judenfrage" habe ich erst heute ganz gelesen. Insofern war meine Behauptung in Richtung Bonhoeffer eindeutig überzogen.

Ich habe das nun durchgelesen – Danke für den Link – hier nun meine Stellungnahme.

Wenn Du das verstehende Lesen generell den hier geposteten Beiträgen zuteilwerden ließest, bevor Du vom Leder ziehst, dann ließen sich auch solche Entgleisungen vermeiden:

wurde und werde ich von den Verteidigern der christlichen Religion bombardiert

Ich fühle mich von diesem Satz nicht angesprochen, und ich wüsste auch nicht, welcher der anderen Diskussionsteilnehmer sich davon angesprochen fühlen sollte.
 
Diese Aussage finde ich so nicht....

Das ist interessant, ich werde in nächster Zeit sehen, dass ich eine Erstauflage auftreibe. Ich war mir eigentlich relativ sicher es bei falter gelesen zu haben, oder ich verwechsle das mit einem anderen Text, der sich auf Falter bezog.

Jedenfalls will ich keinen Müll in die Welt setzen, wenn sich das entgegen meiner Behauptung da nicht findet, ziehe das selbstredend zurück und schaue mal, woher ich das sonst gehabt haben könnte.

Ich danke jedenfalls für deine Mühen.

Natürlich gab es weitere Faktoren, die eine Rolle gespielt haben: Geschlecht, Zugehörigkeit zu einer Schicht, Berufszugehörigkeit etc., und natürlich gibt es auch ein Unterkapitel über die regionale Ausbreitung der NSDAP. Das ist das Kapitel vor der Untersuchung konfessionsspezifischer Einflüsse:
Mir ging es im letzten Beitrag vor allem um die regionalen Phänomene.
Die Untersuchungen zu Geschlecht, Berufsgruppe, sozialer Schicht kenne ich.

Ich würde vor allem deswegen in der Diskussion auch auf regionalspezifische Besonderheiten hinaus wollen, weil die Wahlergebnisse der NSDAP auch in konfessionell und wirtschaftlich sehr ähnlich aufgestellten Gebieten, mitunter stark variieerten.
Schaut man sich z.B. die beiden Wahlen von 1932 an, muss etwa ins Auge fallen, dass z.B. innerhalb der Provinz Brandenburg, die beiden Potsdamer Wahlkreise deutlich weniger NSDAP wählten, als der Wahlkreis Frankfurt/Oder (Bis zu 15% weniger), obwohl die gesamte Region überwiegend evangelisch und landwirtschaftlich aufgestellt war.
Oder auch, dass Baden, obwohl es in seiner Bevölkerungsstruktur stärker katholisch gewesen sein dürfte als Würtemberg, stärker NSDAP wählte als letzteres.
 
Deine These lief aber doch auf etwas ganz anderes hinaus, wenn ich es recht sehe? Du hattest doch eine Traditionslinie von Luther zum Antisemitismus der evangelischen Pfarrer und Gläubigen in der Weimarer Zeit und im Nationalsozialismus gezogen, oder? Und diese lässt sich eben nicht dadurch belegen, dass man zeigt, wie wenige Menschen damals bereit waren, ihren jüdischen Mitbürgern zu helfen.

Da wäre ich mir nicht einmal sicher, ob man daraus nicht Erkenntnisse gewinnen könnte.
Denn wenn wie @Dion meint der Protestantismus entscheidend für die politischen Erfolge der Nazis und die Akzeptanz des Holocaust war, durch den Protestantismus also eine innere Bereitschaft vorhanden gewesen wäre, sich der Position und Machenschaften der Nazis in diesen Dingen anzuschließen (und dass könnte dann ja auch mit der Obrigkeitsstaats-These koresspondieren), dann müsste den Katholiken diese Bereitschaft ja gefehlt haben.

Das müsste sich in einer höheren Überlebenswahrscheinlichkeit der Juden und für jüdisch erklärten Personen in den katholischen Teilen Deutschlands, niedergeschlagen haben, denn selbst wenn die Bereitschaft tatsächlich selbst zu tätige Hilfe zu leisten Menschen zu verstecken auf Grund von Angst vor wie auch immer gearteten Nachteilen oder Konsequenzen fehlte, müsste man doch eines voraussetzen können:

Wer die Verbrechen der Nazis moralisch ablehnte, sei das auf Grund eines fehlenden lutherischen Hintergrunds oder aus anderen Gründen und Angst hatte selbst zu helfen, der wird jedenfalls im Gegensatz zu jemandem, der die Verbrechen der Nazis für richtig befand die Helfer und Verstecke, die ihm bekannt waren, nicht verpfiffen haben.
Folglich müssten die Zahlen der Denunziationen in diesen Gebieten dann geringer sein und die verfolgten Personen, größere Überlebenschancen gehabt haben.

Wäre die Frage, gäbe es hinreichend Daten das statistisch nachzuvollziehen?
Wenn ja, müsste das Ergebnis einer entsprechenden Untersuchung unweigerlich mehr Überlebende in den Katholischen Gebieten ausweisen und ungleich mehr Denunziationen in den protstantischen Gebieten.

Sonst wäre die Behauptung Luthers Wirken habe zu einer besonderen Bereitschaft der Protestanten zu Veerbrechen gegen die Juden und allee, die von den Nazis zu Juden erklärt wurden, geführt, hinfällig.
 
Oder auch, dass Baden, obwohl es in seiner Bevölkerungsstruktur stärker katholisch gewesen sein dürfte als Würtemberg, stärker NSDAP wählte als letzteres.

Dazu gibt es eine eigene Untersuchung:

Jürgen W. Falter und Hartmut Bömermann: Die unterschiedlichen Wahlerfolge der NSDAP in Baden und Württemberg, in: Dieter Oberndörfer und Karl Schmitt (Hrsg.), Parteien und regionale politische Traditionen in der Bundesrepublik Deutschland, Berlin 1991

Wikipedia liefert eine Zusammenfassung:

Das relativ schwächere Abschneiden der NSDAP in Württemberg erklärte die Wahlforschung durch das Zusammenwirken mehrerer Faktoren: Die zentralen ökonomischen Krisenkennziffern wie Arbeitslosigkeit, Staatsverschuldung und Wohnungsnot lagen in Württemberg deutlich niedriger als in Baden oder im Reich. Im Vergleich zum Reich gab es in Württemberg eine traditionell stärkere Verankerung des Linksliberalismus. Die protestantische Bevölkerung Württembergs hegte Skepsis und Abneigung gegen politische Großorganisationen sowie gegen neue Ideen und Entwicklungen. In den altwürttembergischen Gebieten gab es einen stark ausgeprägten Pietismus, der einen der Politik abgeneigten, antisäkularen und sozialen Grundzug beinhaltete. Hinzu kam die robuste Verbundenheit der protestantischen Landbevölkerung mit dem Württembergischen Bauern- und Weingärtnerbund, der bis 1933 seine Wähler erfolgreich an sich binden konnte. Er stellte damit eine Anomalie im politischen Gefüge des Reiches dar. Dabei setzte er auf den Antisemitismus ebenso wie auf einen der NSDAP ähnlichen Stil bis hin zum Führerprinzip und machte es Hitlers Partei deshalb zusätzlich schwer, sich erfolgreich als neue Kraft zu positionieren.[9] Die Kirchenbindung war in Württemberg insgesamt höher als im Reich. Das kompakte katholische Wählersegment befand sich in relativ homogenen katholischen Gebieten innerhalb des primär protestantischen Landes. Aufgrund ihres realen oder gefühlten Status als religiös-kulturelle Minderheit waren die katholischen Wähler in Württemberg deshalb dem Zentrum besonders treu.

Ein weiterer wichtiger Faktor, der dem Bestreben der NSDAP in Württemberg entgegenwirkte, war die relativ stabil regierende Koalition aus Zentrum, liberalen und protestantisch-konservativen Parteien. Somit fehlte der NS-Agitation in Württemberg eine zentrale Angriffsfläche, da es dort das den Republikgegnern verhasste System von Weimar in Regierungsverantwortung seit 1924 nicht mehr gab.
 
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