Konfession, Antisemitismus und NS

Selbst wenn es sich um Ausnahmefälle handelt, gehören diese Ausnahmefälle zur Betrachtung und haben berücksichtigt zu werden, sind aber nicht auszulassen.
Das Beispiel des Klerikers vom Hof Ludwig des Frommen der zum Judentum konvertierte oder das Süßkind von Trimberg es in den Codex Manesse schaffte, zeigt, dass zu diesen Zeiten das Klima das zuließ.

Du gräbst auf den Hinweis, dass sich vor dem 11. Jahrhundert keine Pogrome fassen lassen, einen Bischof aus dem 2. Jahrhundert aus, dessen Einlassung du mal eben als ständige Position der Kirchen bis 1945 hinstellst (mit welcher Berechtigung eigentlich? Welche Befugnisse hatte nämlicher Bischof verbindliche Lehren für die ganze Kirche festzulegen und wo genau ist das kodifizieert und kanonisiert?)
Das ist auch so ein Punkt, denn man muss sich schon fragen, wie viel Einfluss Melitôn auf das (lateinische) Christentum tatsächlich hatte. Dem lateinischen Christentum wird er überhaupt nur durch Eusebios Kirchengeschichte bekannt gewesen sein. Eusebios muss Zugang zu verschiedenen Schriften Melitôns gehabt haben, die er auflistet, die aber zum größten Teil nicht auf uns gekommen sind (was seine Bedeutsamkeit schon in Frage stellt). Melitôns Osterpredigt, die Schrift, in der er die Juden des Gottesmords bezichtigt und ihnen abspricht, das auserwählte Volk zu sein liegt als griechischer, syrischer und koptischer Text vor, sowie eine von der syrischen Fassung abhängige armenische Übersetzung von der allerdings mehr Text erhalten ist, als von der aramäischen), eine lateinische Fassung der Osterpredigt ist nicht bekannt. Also ein Bischof von dem die meisten Schriften, deren Existenz von Eusebios überliefert ist, nicht auf uns gekommen sind und dessen Osterpredigt im Westen keine Verbreitung fand.

Damit negiere ich weder die Existenz des Gottesmordsvorwurfs im lateinischen Christentum, noch sonstigen christlichen Antijudaismus. Aber anstatt da eine Tradition ab Melitôn zu zeichnen, sollte man sich ansehen, wann diese Stimmen im lateinischen Christentum laut wurden.

@El Quijote hat sich an dieser Stelle weiter vorgewagt, als ich das tun würde, wenn er schreibt, dass es bis zum 11. Jahrhundert keine nennenswerte Judenverfolgung durch die Kirche(n) oder das Christentum gegeben habe.
Ich würde mich wegen der streckenweise eher schlechten Quellenlage in der Spätantike und dem Frühmittelalter nicht darauf kaprizieren wollen, dass es das definitiv nicht gegeben habe, aber es scheint jedenfalls quellenmäßig nicht fassbar zu sein.
nicht nennenswert und definitiv nicht liegen weit auseinander.

Aber mit den Quellen sprichst du etwas wichtiges an. Ein Problem ist, dass in den historiographischen Quellen, den Traditionsquellen, eigentlich immer nur das Berichtenswerte behandelt wird. Pogrome waren berichtenswert. Die Phasen friedlichen Zusammenlebens, vor allem dann, wenn sie als Normalzustand wahrgenommen wurden, waren nicht berichtenswert. Und daher ist in den Quellen eher etwas über Pogrome erfahren, als über den Normalzustand.
Indirekte Zeugnisse des Zusammenlebens sind in den historiographischen Quellen kaum überliefert, dazu bedarf es dann sperriger archivalischer Quellen, die aber niemand abschrieb. Deren Erhaltung also allenfalls akzidentell ist. Das ergibt notwendigerweise ein schiefes Bild. Deshalb ist es für Historiker so wichtig, zwischen Dokumenten und Monumenten zu unterscheiden.
 
Ich möchte gern noch einmal nachfragen: Welche Argumente hältst Du für stichhaltig?

Wie gesagt, in der Gesamtschau halte ich ihre Argumente für überzeugend; das heißt nicht, ich teile jedes einzelne. Auch möchte ich den Begriff des "Wegbereiters" differenzierter verwenden als @Dion, und zwar im faktischen, nicht im moralischen Sinne; ich sehe keinen Sinn darin, von "Schuld" zu sprechen oder den Einfluss von Martin Luthers Wirken auf die Geschichte des 20. Jahrhunderts quantifizieren zu wollen.

Dass Luther Juden verabscheute und gegen die Juden agitierte, diesen im Einflussbereich der neuen Lehre Nachteile bescherend, dürfte unstrittig sein. Ebenso scheint es mir eine Tatsache zu sein, dass Luther als prominentester Reformer einen erheblich größeren persönlichen Einfluss auf seine neue Lehre ausüben konnte als seine Kollegen im Geiste, die im Wesentlichen regional beschränkt blieben.

Luther vermarktete sich besser, er hatte den Charme des Rebellen, der dem Kaiser selbst die Stirn geboten hatte, und stand mit den reformierten Fürsten auf du und du. Kein Wunder, dass bis heute vor allem an ihn erinnert wird: Es gibt keine Calvinstadt Genf, nur eine Lutherstadt Wittenberg, und außerhalb der Schweiz auch kein Zwingli-Jahr, wogegen man 2017 in vielen christlichen Ländern ein Lutherjahr beging.

Kurzum, es erscheint mir plausibel anzunehmen, dass Luther dem deutschen Protestantismus einen Stempel aufdrücken konnte, dessen Abdruck noch lange zu sehen war. Plausibel deshalb, weil die Beobachtung offenbar bestätigt, dass sich in protestantischen Ländern anderer Prägung weniger Antisemitismus regte, etwa in England. (Das Gegenargument, in England hätten kaum Juden gelebt, überzeugt mich nicht; Fremdenfeindlichkeit braucht zur Entstehung keine Nachbarschaft zu Fremden.)

Das bedeutet freilich nicht, dass Luther in eine Ahnenreihe des Nazismus gehört. Die Nazis mussten sich auch nicht auf ihn beziehen oder beziehen können; sie brauchten bloß genügend antisemitische Vorurteile in Deutschland vorzufinden, um Unterstützer hinter sich zu sammeln bzw. den Rest zu opportunistischem Stillhalten zu ermuntern. Und zu diesen Vorurteilen gehörten eben auch religiöse.
 
Natürlich nicht, denn man kann nicht erwarten, dass eine bis dahin omnipotente päpstliche Kirche



Darüber hinaus bist du, @Scorpio, nicht auf Johannes 8:42-44 eingegangen: Da werden Juden von Jesus als Teufelsbrut bezeichnet, was dem Christentum u.a. dazu diente, Judenverfolgung zu rechtfertigen. Das war, neben des Hauptvorwurfs, sie seien Gottesmörder, auch eine der Ursache des Übels, das Juden während der 1700 Jahre in christlichen Ländern widerfahren ist.

Omnipotente Papstkirche?

Wo und wann soll die denn existiert haben?

Es wäre mal interessant, eine Liste der allmächtigen Päpste anzufertigen, die vor dem römischen Volkszorn oder frondierenden Adeligen in die Engelsburg flüchten mussten oder aus Rom vertrieben wurden.

Für solche Zwecke bauten die allmächtigen Päpste ja eigens den Pasetto di Borgo.

Über weite Perioden in der Geschichte der allmächtigen Papstkirche gibt es Päpste , Gegenpäpste und Gegen-Gegen-Päpste am laufenden Meter. Von 1378 bis 1417 gab es das Große Abendländische Schisma. Zur Vorgeschichte des Großen Abendländischen Schismas gehörte das Avignonesische Papsttum von 1309 bis 1376, auch als "Babylonische Gefangenschaft der Kirche" bekannt (oder auch nicht bekannt). Da musste es sich die allmächtige Kirche und die omnipotenten Päpste gefallen lassen, dass sie für gut 70 Jahre unter Kuratel der Könige Frankreichs gestellt wurde.

Also mit Omnipotenz war es auch schon vor der Reformation nicht weit allzu weit her.


Zu Jesus Zeiten gab es noch kein Christentum, Jesus war Jude, seine Jünger waren Juden, und auch seine Adressaten waren Juden. Es gibt im Neuen Testament zahlreiche Zitate Jesu, die darauf hindeuten, dass seine Lehre sich an Juden, an das Volk Israel richtet. . Es gibt immer wieder Passagen, in denen Jesus betont, er sei nicht gekommen, das (mosaische) Gesetz aufzuheben, sondern zu erfüllen.
 
Das Beispiel des Klerikers vom Hof Ludwig des Frommen der zum Judentum konvertierte oder das Süßkind von Trimberg es in den Codex Manesse schaffte, zeigt, dass zu diesen Zeiten das Klima das zuließ.
Mir ist schon klar, war das Beispiel intendierte ;-)
Es kann nur mMn nicht angehen, wenn gerade Dion, der in diesem Thema regelmäßig abseitige Schriften und Einlassungen heranzitiert und ihnen eine Bedeutung zumisst, die sich aus keinen Quellenzeugnissen ableiten lässt, hier die Bedeutung von Einzelzeugnissen negieren möchte.

Mir ist natürlich klar, dass das Zeiten eines besonders günstigen Klimas waren, die beileibe nicht immer vorherrschten und die man nicht wird verallgemeinern können.
Gleichwohl sollte sich Dion, der dazu neigt in der eigenen Argumentation einzelne übeerlieeferte Episoden zu verallgemeinern lieber damit beschäftigen, als das vom Tisch zu wischen.

Damit negiere ich weder die Existenz des Gottesmordsvorwurfs im lateinischen Christentum, noch sonstigen christlichen Antijudaismus. Aber anstatt da eine Tradition ab Melitôn zu zeichnen, sollte man sich ansehen, wann diese Stimmen im lateinischen Christentum laut wurden.

Eben.
Womit wir wieder bei der Thematik wären, dass das bloße Vorhandensein einer Schrift keinen Beweis für ihre Wirkmächtigkeit liefert.
Und vor allem gibt es ja noch immer einen Unterschied, zwischen einer theologischen These die irgendwann einmal aufgestellt wurde und eine entsprechende Verbreitung fand und einer offiziellen Lehrmeinung der Kirche, von der Dion ausgeht.
Die konnte natürlich ein einzelner Bischof nicht mal eben aufstellen, heißt, sofern wir hier wie Dion das vorschwebt über eine offizielle Position der Kirche reden, müsste er eigentlich den Beschluss eines Konzils oder später einen kurialen Beschluss oder eine päpstliche ex-cathedra-Entscheidung benennen können, die das als offizielle Lehrmeinung der (katholischen) Kirche sanktioniert und wo dieser Beschluss kodifiziert ist.

Ich sage frei heraus, ich habe keine Ahnung, ob es eine solche Erhebung dieser These zur offiziellen Lehrmeinung gegeben hat, wenn ja dann würde mich das durchaus interessieren und ich mir das gerne einmal näher ansehen, aber da Dion es ja behauptet wird er das ja wissen und daher näher benennen können.

Ansonsten macht er sich ein Bisschen sehr einfach. Ein Bischof allein konnte in der alten, später der katholischen Kirche sicherlich einflussreiche theologische Thesen aufstellen, aber keine allgemeingültigen Lehrmeinungen und Luther hatte als Reformator natürlich großen Einfluss auf die Entwicklung der sich herausbildenden evangelischen Kirchen, wobei man dann abr eben auch nicht übersehen sollte, dass bei den lutherischen Landeskirchen gerade auch die Fürsten als offizielle Chefs dieser Veranstaltungen eine nicht zu unterschätzende Rolle spielten und die wiederrum hatten in der Regel kein Interesse an Mord, Totschlag und Anarchie in ihren Territorien, konnten demnach auch kein Interesse an Schriften Luthers haben, die genau dazu aufriefen, bzw. daran mit solchen Schriften die Bevölkerung aufzuhetzen.
Gerade im Zeitalter der Aufklärung hätte man sich mit solchen Einlassungen auch extrem angreifbar gemacht und zu der ans Pathologische grenzenden Panik der regierenden Fürsten vor jeglicher Form der Versammlung und Selbstermächtigung der Bevölkerung in Restauration und Vormärz passen solche Aufrufe ebenfalls nicht, auf katholischer, wie protstantischer Seite.

Ein Problem ist, dass in den historiographischen Quellen, den Traditionsquellen, eigentlich immer nur das Berichtenswerte behandelt wird. Pogrome waren berichtenswert.

Damit hast du sicherlich grundsätzlich recht, die Frage ist dann eben, wenn so etwas stattgefunden hat, wie viele Aufzeichnungen davon gemacht wurden, denn wenn es sich um ein regional eher begrenztes Phänomen gehandelt haben sollte, wäre natürlich die Wahrscheinlichkeit größer, dass es relativ wenige Aufzeichnungen davon gab und diese irgendwo verschollen und nicht auf uns gekommen sind, dass ist ja über einen Zeitraum von fast 2.000 Jahren durchaus denkbar.
Mit der Bemerkung, dass das Berichtenswert weil außergewöhnlich gewesen wäre, hast du sicherlich genau so recht damit, wie damit, dass wir über den Normalzustand, in dem nichts außergewöhnliches passierte, was berichtenswert gewesen wäre, deutlich weniger Aufzeichnungen haben.

In diesem Zusammenhang könnte man aber natürlich das Gedankenexperiment machen und einfach mal geistig für jedes Jahr, in dem nichts derartiges überliefert ist, eine Notiz mit dem Inhalt "keine besonderen Vorkommnisse" anlegen und dass am Ende den überlieferten Ereignissnachrichten gegenüberstellen.
Das würde dann ein völlig anderes Bild ergeben, als eine kompakte Aufzählung übrlieferter Ereignisse.
 
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Es wäre mal interessant, eine Liste der allmächtigen Päpste anzufertigen, die vor dem römischen Volkszorn oder frondierenden Adeligen in die Engelsburg flüchten mussten oder aus Rom vertrieben wurden.

Nicht zu verssen, die allmächtigen Päpste, die vor ergrimmten römisch-deutschen Königen/Kaisern reisaus nehmen mussten unter Kuratell des noch allmächtigeren französischen Königs gerierten und sich mit mindestens genau so allmächtigen Gegenpäpsten herumschlagen mussten.
 
Was redest du da? Im 19. Jahrhundert hat man noch zu Söhnen und Enkeln von Konvertiten Jude gesagt – siehe z.B. Richard Wagner in seinem Traktat „Das Judenthum in der Musik“, der fast zum Vergessenwerden von Felix Mendelssohn Bartholdy in 19. Jahrhundert führte. Kein Wunder, dass Hitler Wagner verehrte.

t.

Im 19. Jahrhundert kam ja auch der moderne motivierte Antisemitismus auf, der im Judentum nicht eine Religionsgemeinschaft sah, sondern eine Rasse mit angeblich feststehenden Charaktermerkmalen. Indem aber biologistische Kriterien und nicht das Bekenntnis des Einzelnen entscheidend wurden, konnte ein Jude natürlich auch nicht angeblich angeborene Charaktermerkmale ablegen.

Das ist ja gerade ein Unterschied zwischen dem traditionellen Antijudaismus.

Die Vorurteile Luthers gegen Konvertiten richteten sich auch nicht gegen ihr Blut, sondern gegen deren Motivation und die Ernsthaftigkeit der Confessio, die er anzweifelte. Seine ganze Argumentation ist eine theologische, nicht eine rassistische.

Es ist jedenfalls etlichen konvertierten Juden gelungen, sich in die christliche Mehrheitsgesellschaft zu integrieren, und bei etlichen Leuten hätte man das ohne bürokratische Aufzeichnungen überhaupt gar nicht mehr rekonstruieren können. Es gab ja dann auch den ein oder anderen SS-Mann, der bei genealogischen Nachforschungen feststellte, dass Vorfahren jüdisch-versippt waren.
 
Wie sieht es damit eigentlich praktisch aus?
Natürlich gab es theoretisch das christlich begründete Zinsverbot, letztendlich war die Zeit Luthers aber auch die Zeit der Fugger und der Medici, so dass es erscheint, als wäre das in praxi zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst überholt gewesen, abgesehen von der Möglichkeit das dezidierte Zinsverbot durch allerhand Kunstgriffe zu umgehen (Vermittlungsgebühr für einen Kredit, Gebühr für das Bereitstellen von Zahlungsmitteln, Gebühr für die Dienstleistung des Entleihens, Gebühr für das Ausstellen entsprechender Urkunden, ggf. versteckte Profitmargen durch überhöhte Wechselkurse, falls ein Kredit in Fremdwährung benötigt wurde oder getilgt werden sollte etc. etc. die Möglichkeiten ohne Explizite Zinsen mit Gewinn Geldgeschäfte zu betreiben waren mit genügend Phantasie ja durchaus gegeben), wann änderte sich das eigentlich konkret dahingehend, dass Geldgeschäfte auch zunehmend in christliche Hände übergingen?

Würde mich einfach mal interessieren, weil mir da etwas die Vorstellung fehlt.

Die Grundlagen des modernen Bankwesens liegen in Italien. Seit Mitte des 13. Jahrhunderts betätigten sich italienische Bankiers als Pfandleiher, Geldhändler und -Verleiher. Mit bargeldlosem Wechselverkehr waren sie anderen Kaufleuten überlegen, und nach einiger Zeit wussten es auch die Päpste zu schätzen, wenn italienische Bankiers Kirchengelder aus England oder Deutschland nach Italien überführten und dafür eine Provision kassierten.

Es hatten aber auch schon die Templer so etwas wie ein Bankensystem aufgebaut. Als Geld- und Pfandleiher und später als Bankiers waren die Medici großgeworden.

Die Fugger erwarben Wohlstand durch den Textilhandel und Reichtum durch das Bergwerksgeschäft und sie stiegen als Bankiers ein, indem sie vor allem Geld von Kirchenfürsten wie Melchior von Meckau anlegten, die nach außen hin bemüht waren, ihren Wohlstand zu verschleiern.
An den wirklich lukrativen Geschäften waren Christen unter sich. Juden durften kein Land erwerben, und es war ihnen auch verboten, Getreide auf dem Halm zu kaufen.

Juden übernahmen Klein- und Kleinstkredite mit extrem langer Laufzeit. Es kam häufig vor, dass es schwierig war, ihr Geld zurück zu erhalten.

Der einzige wirklich lukrative Geschäftszweig, der von Juden dominiert wurde, war das Juweliergewerbe.
 
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Da scherst du jetzt alle reformatorischen Gruppen der Reformationszeit über einen Kamm.
Ja, das tue ich, weil alle diese Gruppen auf Luther zurückgehen. Dass die einen strenger, die anderen etwas milder in der Auslegung der Bibel waren, geschenkt. Abgesehen davon, hat auch Luther für die Entfernung von Bildern und Statuen aus Kirchen plädiert; dabei schränkte er ein, dass man manche zu Lehrzwecken aufbewahren sollte. Dafür hätten wenige Bilder/Statuen ausgereicht, aber wie es so ist, die Geister, die er rief, wurde er nicht mehr los.

Ich habe nichts dergleichen getan und das solltest du mir auch nicht unterstellen.
Welche Zweck hat in diesem Zusammenhang die Nennung von 2 Ausnahmen? Ich habe das empfunden als: Wenn jemand vom Hof Ludwigs des Frommen vom Christentum zu Judentum konvertieren konnte, und 500 Jahre später jemand vom Judentum zum Christentum konvertieren und anschließend sogar Bischof werden konnte, konnte es mit der Judenverfolgung nicht so schlimm gewesen sein.

Wenn es in Europa über 1700 Jahre permanenten Verfolgungsdruck gegeben hätte, dann hätte das Judentum in Europa bereits die Christianisierung nicht überlebt.
Verfolgung heißt ja nicht in jedem Fall Tötung. Ich habe schon geschrieben: Die Juden wurden vertrieben, gingen, wo sie noch toleriert wurden – und dürften sich nach einiger Zeit wieder ansiedeln: Sie waren ja trotz allem ein wichtiger Wirtschaftsfaktor. Und seit der Antike wohnten sie in den Städten abseits der Christen, um so ihren Sabbath und ihre Feiertage ungestört feiern zu können. Später – um das Jahr 1000 rum – wurde ihnen das sogar zur Auflage gemacht. Angeblich für ihren eigenen Schutz.

Diese Ghettoisierung der Juden hatte wohl auch dazu beigetragen, dass bei Christen die Argwöhn wuchs: Was mach die Juden da? Sicher was Verbotenes!

Wann Juden verboten wurde Handwerk zu betreiben und Land zu besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls wurde das kirchliche Verbot für Christen, Zinsen zu nehmen, nicht immer umgesetzt: Templer z.B. nahmen auch Zinsen. Trotzdem zeigt sich hier die Macht der Kirche: Sie griff aus religiösen Gründen in die Wirtschaft ein.

Wobei man sich u.a. auf die Szene vor dem Tempel berief, als Jesus die Wechselbänke umwarf. Diese aber standen da rechtens, denn die Besucher des Tempels – einmal jährlich musste jeder Jude ab einem Alter von 20 Jahren die Tempelsteuer bezahlen – mussten das ausschließlich in der einzig zugelassenen Währung Schekel tun. Aber viele Auswärtige haben andere Währung mit sich geführt und mussten sie in Schekel umtauschen. Dafür waren die Wechsler da, die für ihren Dienst 4,3 % nahmen. Und sind da bis heute, denn die Regel, Tempelsteuer nur in Schekel zu bezahlen, gilt nach wie vor. Im Übrigen hat Jesus als Jude diese Tempelsteuer auch bezahlt.

Das bedeutet freilich nicht, dass Luther in eine Ahnenreihe des Nazismus gehört. Die Nazis mussten sich auch nicht auf ihn beziehen oder beziehen können; sie brauchten bloß genügend antisemitische Vorurteile in Deutschland vorzufinden, um Unterstützer hinter sich zu sammeln bzw. den Rest zu opportunistischem Stillhalten zu ermuntern. Und zu diesen Vorurteilen gehörten eben auch religiöse.
Die Nazis haben sich aber auf Luther bezogen: Allein „Der Stürmer“ hat seit 1924 immer wieder antijüdische Zitate aus Luthers Schriften gebracht. Und die Auflage stieg stetig, sie betrug in den 30er Jahren fast eine halbe Million wöchentlich. Nicht zu vergessen sind die „Stürmer-Kästen“, die fast in jeder Stadt standen, wo man die aktuelle Ausgabe kostenlos lesen konnte – hier ein Beispiel:

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Zitat aus Wikipedia:

Im ganzen Deutschen Reich waren Tausende der Stürmer-Kästen an stark frequentierten Orten aufgestellt, z. B. an Straßenbahn- und Bushaltestellen, öffentlichen Plätzen, Fabrikkantinen, in der Nähe von Krankenhäusern und Kirchen und trotz ihres teils pornographischen Inhalts mitunter sogar in Schulen.
(…)
Allein für die Jahre 1937 und 1939 listete der Stürmer etwa je 700 neu hinzugekommene Standorte an Stürmer-Schaukästen auf; nicht berücksichtigt wurden in diesen Summen die nicht gemeldeten Kästen.


Und trotzdem sagt @Shinigami hier unwidersprochen, die meisten Deutschen wüssten nicht, was Luther da über die Juden geschrieben. :mad:
 
Natürlich gab es theoretisch das christlich begründete Zinsverbot, letztendlich war die Zeit Luthers aber auch die Zeit der Fugger und der Medici, so dass es erscheint, als wäre das in praxi zu diesem Zeitpunkt ohnehin längst überholt gewesen, abgesehen von der Möglichkeit das dezidierte Zinsverbot durch allerhand Kunstgriffe zu umgehen
dazu nur ein kleines Streiflicht:
(...)Als vermeintlichen Schuldigen belastete er Lippold, den kurfürstlichen Münzmeister und Hoffaktor, und unterstellte ihm 1571 Unterschlagungen landesherrlicher Einkünfte und ungerechtfertigte Bereicherung. Als Hofjude war Lippold Kreditgeber und verdiente daher an gezahlten Zinsen. Über die Höhe der Zinsen wurde schon zu Joachims II. Lebzeiten geklagt, dieser wies die Beschwerden aber zurück. Er verwies darauf, dass lutherische Kreditgeber im märkischen Frankfurt an der Oder sogar höhere Zinsen nahmen, was angesichts der sich entwertenden Landeswährung auch nicht verwunderlich ist. (...)
aus https://de.wikipedia.org/wiki/Lippold_Ben_Chluchim

Allerdings darf dabei folgendes nicht übersehen werden:
Die Entwicklung des Bankwesens in Italien bspw. durch die Lombarden ab dem 13. Jahrhundert zeigt, dass die Christen das Geschäft professionell übernahmen. Das weltliche Recht kannte faktisch kein Zinsverbot mehr.[21]
aus https://de.wikipedia.org/wiki/Zinsverbot#Christliche_Konfessionen
So entwickelte sich im Antijudaismus des Mittelalters das Stereotyp des reichen, habgierigen, betrügerischen Juden, des Geldjuden. Der allergrößte Teil der jüdischen Bevölkerung lebte in ärmlichen Verhältnissen, so dass sie gar nicht über die Mittel verfügten, um als Geldverleiher aufzutreten. Es gab aber zweifellos einige wenige begüterte Juden, die – neben den viel zahlreicheren christlichen Geldverleihern – tätig waren, was weder den Bezug zu Juden noch eine Verallgemeinerung zulässt.[28]
 
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Welche Zweck hat in diesem Zusammenhang die Nennung von 2 Ausnahmen? Ich habe das empfunden als: Wenn jemand vom Hof Ludwigs des Frommen vom Christentum zu Judentum konvertieren konnte, und 500 Jahre später jemand vom Judentum zum Christentum konvertieren und anschließend sogar Bischof werden konnte, konnte es mit der Judenverfolgung nicht so schlimm gewesen sein.
Das ist falsch und meinen Worten nicht zu entnehmen. Du malst ein Bild, als hätten die Juden 1700 Jahre lang beständig unter Verfolgungsdruck gestanden. Und das stimmt einfach nicht. Es gab antijüdische Pogrome immer mal wieder an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeiten, insbesondere im Hoch- und SpätMA, mal am Rhein, mal in England, mal in Spanien.... besonders im Gefolge der Kreuzzüge. Der Dichter Süßkind von Trimberg wird in der Manesseschen Liederhandschrift doppelt als Jude gekennzeichnet: einmal in der Überschrift, zum anderen mit seinem Erscheinungsbild. Natürlich ist das Antijudaismus. Aber kein Verfolgungsdruck. Als Dichter wurde er für wert befunden, neben vielen Rittern und dem Stauferkönig Konradin im Codex Manesse mit Bild und mehreren seiner Gedichte vertreten zu sein. 1800 Jahre jüdisches Kulturleben in Europa konnte es nicht geben, wenn immer und überall Verfolgung stattfand.

Wobei man sich u.a. auf die Szene vor dem Tempel berief, als Jesus die Wechselbänke umwarf. Diese aber standen da rechtens, denn die Besucher des Tempels – einmal jährlich musste jeder Jude ab einem Alter von 20 Jahren die Tempelsteuer bezahlen – mussten das ausschließlich in der einzig zugelassenen Währung Schekel tun. Aber viele Auswärtige haben andere Währung mit sich geführt und mussten sie in Schekel umtauschen. Dafür waren die Wechsler da, die für ihren Dienst 4,3 % nahmen. Und sind da bis heute, denn die Regel, Tempelsteuer nur in Schekel zu bezahlen, gilt nach wie vor. Im Übrigen hat Jesus als Jude diese Tempelsteuer auch bezahlt.
Das ist ein ganz anderes Thema und die Bedeutung und Historizität der Stelle ist durchaus umstritten.

Die Nazis haben sich aber auf Luther bezogen: Allein „Der Stürmer“ hat seit 1924 immer wieder antijüdische Zitate aus Luthers Schriften gebracht. Und die Auflage stieg stetig, sie betrug in den 30er Jahren fast eine halbe Million wöchentlich. Nicht zu vergessen sind die „Stürmer-Kästen“, die fast in jeder Stadt standen, wo man die aktuelle Ausgabe kostenlos lesen konnte – hier ein Beispiel:
In dem Bild kann ich keinen Lutherbezug erkennen, und damit möchte ich nicht einmal in Abrede stellen, dass die Nazis auch mal Luther zitiert haben.
Du musst auch keine offenen Türen einrennen und die Existenz von Stürmerkästen belegen oder das der Stürmer ein antisemitisches Hetzblatt war (das sogar einige überzeugte Nazis für ordinär hielten).

Und trotzdem sagt @Shinigami hier unwidersprochen, die meisten Deutschen wüssten nicht, was Luther da über die Juden geschrieben. :mad:
Das ist auch eine falsche Schlussfolgerung, die du tätigst: erstmal müsstest du nachweisen, dass als solche gekennzeichnete Lutherzitate regelmäßig im Stürmer erschienen.
 
Die Nazis haben sich aber auf Luther bezogen. Der Stürmer hat seit 1924 immer wieder antijüdische Zitate aus Luthers Schriften gebracht.


Bei Hitler lässt sich ja ziemlich genau rekonstruieren, aus was für Quellen sich sein Antisemitismus speiste: Der hatte nicht Luthers Pamphlet von 1543, sondern die Protokolle der Weisen von Zion im Hinterkopf, der hatte im Hinterkopf Versatzstücke von Lanz von Liebenfels, von Lueger, von Schönerer, von Gobineau von Houston Stewart Chamberlain. Von Stoecker

Hitlers Lösung der Judenfrage war keine theologische, keine politische, sondern eine der Schädlingsbekämpfung. Er sah das Judentum nicht als eine Religionsgemeinschaft, sondern als eine Rasse, eine kriminelle Vereinigung und sich selbst als eine Art Robert Koch der Politik, der die Menschheit von einem Virus, von einem Bazillus befreite.

Was Luther den Juden vorwarf, dass sie Christen zum Abfall verführen, dass sie Jesus nicht als Messias anerkennen, dass sie im Irrtum beharren, das hat Hitler überhaupt nicht interessiert, das war für ihn alles Schwulst und Geschwurbel.

Er hat sich durchaus gerne mal mit Martin Luther verglichen, bei den Vergleichen hat er aber immer nur das Bild des Reformators bemüht, den übermächtige Gegner in seiner Mission behindern, niemals hat er sich auf Luthers Judenhetze bezogen, geschweige denn behauptet, dass er in der Judenfrage Luthers Werk ausführt.

In dem NS-Propagandafilm Jud Süß beruft sich ein Kriegskamerad des Herzogs Karl Alexander auf ein Luther Zitat, und im Stürmer wurden Auszüge aus Luthers Pamphlet immer wieder abgedruckt. Streicher rechtfertigte schließlich seine Hetze damit, dass er schließlich nur ausgeführt habe, was Luther vorgeschlagen habe.

Nur was beweist das? Bei Streicher handelte es sich doch um eine ganz billige Entschuldigungs-Taktik. Ein Whataboutismus, so als sei Streicher in irgendeiner Weise entschuldigt, als ob er schließlich nur Ideen ausgeführt hätte, auf die ihn Luther gebracht hat. Wenn die Nazis sich auf Luther beriefen, dann doch nur, weil Luther über soviel Ansehen verfügte, dass man ihn vereinnahmen wollte als Bruder im Geiste.

Luthers Einstellung zu Juden radikalisierte sich im Laufe der Jahre immer mehr. Sein Juden-Pamphlet von 1543 zeichnet sich durch abstruse, populistische, kaum umzusetzende Forderungen aus. Luthers Pamphlet zeugt von kaum verhohlenen Vernichtungsphantasien. Dieses Pamphlet widerspricht elementaren Grundlagen des Christentums und widerspricht auch vielem, was Luther selbst über Juden geschrieben hatte.

Selbst aus Luthers radikalsten Äußerungen ließ sich aber beim besten Willen nicht eine Legitimation für die Ermordung von Juden ableiten.
 
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Und trotzdem sagt @Shinigami hier unwidersprochen, die meisten Deutschen wüssten nicht, was Luther da über die Juden geschrieben. :mad:

Lieber Dion.
Zunächstmal ist es eine Unsitte, auf Einlassungen von Personen trotz Aufforderungen nicht zu reagieren und sich einem Gespräch auf diese Weise zu entziehen, sich dann aber bei anderen darüber zu beschweren, dass die diese Einlassungen so wie sie gemacht wurden nicht in der Weise angreifen, wie du das gerne hättest.

Wenn du eine Auseinandersetzung mit meinen Einlassungen wünschst, dann führe sie, wenn du sie ignorieren möchtest, weil du der Meinung bist, sie wären keiner Erwiederung wert, auch in Ordnung, aber sich dem Gespräch entziehen und dann über Aufforderungen an andere Stimmung machen um dir unliebsame Positionen in Misskredit zu bringen, über die du dich mit dem Postulanten nicht auseinandersetzen möchtest, ist nun wirklich ganz schlechter Stil.
Das sollten wir uns hier nicht zur Gwohnheit werden lassen.
Ich denke auch dass es bei den übrigen Diskutanten nicht gut ankommt, wenn du ihnen zumutest im Namen deiner Positionen deine Aufgabe diese zu vertreten zu übernehmen.

Kommen wir zum Inhaltlichen:

Die Nazis haben sich aber auf Luther bezogen: Allein „Der Stürmer“ hat seit 1924 immer wieder antijüdische Zitate aus Luthers Schriften gebracht.

1. Hat @El Quijote bereits darauf hingewiesen, dass zu belegen wäre, inwiefern diese Zitate überhaupt als Zitate mit Ursprung Luther kenntlich gemacht wurden.
2. Wie dir ja bekannt ist, dürfte Luthers Traktat "von den Juden und ihren Lügen", alleine schon auf Grund seiner Länge, schwerlich in einen Stürmer-Artikel gepasst haben, was bedeutet, selbst wenn auf Luther Bezug genommen worden wäre, konnte über dieses Medium Luthers vollständige Ansicht überhaupt nicht vermittelt werden, sondern es konnten allenfalls aus dem Zusammenhang gerissene Versatzstücke vermittelt werden, die kaum geeignet gewesen sein dürften Luthers vollständige Ansichten zu vermitteln.
3. Mag die Weimarer Justiz zwar den Rechtsextremisten vieles durchgehen lassen haben, was aber nicht bedeutet, dass die sich alles erlauben konnten.
Ein Abdruck und öffentliches Ausstellen der Stellen bei Luther, die zu dezidierten Gewalttaten auflieriefen, werden die Nazis mindestens in der Weimarer Zeit schon deswegen unterlassen haben, um nicht mit der Justiz in Konflikt zu geraten, denn die hätte bei orchestriertem flächendeckenden Aufruf zu Mord und Brandstiftung oder öffentlichem Gutheißen von solchem nicht untätig bleiben können, selbst wenn sie noch so sehr darum bemüht war den Rechtsextremen extrem weite Spielräume zu belassen.
4. Die Auflage des "Stürmers" mag in den 1930er Jahren auf nahezu eine halbe Million gestiegen sein, nur sollte man nicht übersehen, dass dieses Blatt, sofern von Privatpersonen aboniert ohnehin nur von eingefleischten Nazis bezogen wurde, die vom Antisemitismus nicht mehr überzeugt werden mussten, sondern längst Antisemiten waren, auch ohne Luther-Zitate.
Im Übrigen in dem von dir zitierten Wiki-Artikel zum "Stürmer" steht auch, was du hier ausgelassen hast, nämlich, dass die genaue Auflagenstärke des Stürmers sich nicht ermitteln lässt, dass Blatt aber von verschiedenen sachverständigen Historikern zwischen 1927 und 1933 auf eine Auflagenstärke von zwischen 20.000 und 25.000 Exemplaren geschätzt wurde, das ganze also eine eher verschwindend geringe Reichweite gehabt haben dürfte, im Besonderen wenn man bedenkt, dass ein Großteil davon ohnehin an Personen ging, die längst Nazis und Antisemiten waren oder von NS-Parteistellen geordert wurden.
5. Stürmer-Kästen mögen dann im Laufe der 1930er Jahre bis 1945 eine öffter anzutreffende Erscheinung gewesen sein, angesichts der geringen Auflage bis 1933 dürfte es sich vor der Machtübernahme Hitlers eher um eine Seltenheit gehandelt haben.
6. Das Aufstellen von Stürmer-Kästen an "stark frequentierten Orten" betraf vor allem die Großstädte. In denen schnitten die Nationalsozialisten allerdings bis 1933 deutlich unterdurchschnittlich ab, was jetzt nicht unbedingt dafür spricht, dass irgendwelche Lutherzitate, die angesichts des Formats und der Rechtslage ohnehin nur aus dem Zusammenhang gerissene Versatzstücke darstellen konnten und auf die schlimmsten Stellen von Luthers Einlassungen wahrscheinlich aus rechtlichen Gründen verzichten mussten, den Nazis die Menschen in Scharen in die Arme trieben.
7. Entsprechend des Umstand, dass sich diese Form der Propaganda vor allem an die städtischen Millieus richtete (anderes war bei einer so geringen Auflagenstärke nicht flächendeckend möglich), wird man davon ausgehen dürfen, dass der Großteil der NS-Wähler, die im ländlichen Osten und Norden saßen, wo es auf den Dörfern kaum "Stürmer-Kästen" gegeben haben dürfte, das eher nicht mitbekommen haben wird.
8. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre, bedeutet das noch lange nicht, dass das großartig ernst genommen worden wäre, der Stürmer war bekannt dafür ein vulgäres Hetzblatt der NS-Bwegung zu sein, dass es mit den Tatsachen nicht immer unbedingt besonders genau nahm.
Das ausgerechnet dieses Medium mit aus dem Zusammenhang gerissenen Versatzstücken dazu geeigneet gewesen wäre die Bevölkerung auf die Ansichten der Nazis einzuschwören darf bezweifelt werden. Der Stürmer war in erster Linie ein Blatt, dass an die niederen Instinkte derer apellierte die ohnehin bereit waren die nationalsozialistische Ideologie als Wahrheit zu betrachten und sich nicht für eine Auseinandersetzung mit dem Thema interessierten sondern nur für die Bestätigung ihrer Weltanschauung.

Fazit:

Der Umstand, dass Versatzstücke von Luthers Einlassungen im Stürmer abgeedruckt wurden allein beweist nicht, dass das große Resonanz gehabt hätte (die geringe Auflage bis 1933 legt das Gegenteil nahe), beleegt nicht, dass diese Zitate überhaupt als solche erkennbar waren und belegt auch nicht, dass diese vor 1933 den Großteil der NS-Wählerschaft im ländlichen Norden und Osten überhaupt erreicht hätte.
Nach 1933 mag das intensiviert worden sein und größere Reichweite entwickelt haben, nur in diesem Fall hätte es nicht dazu beigetragen Hitler den Weg zu bereiten, allenfalls würde man dann noch argumentieren können, dass es möglicherweise die Akzeptanz des nationalsozialistischen Antisemitismus in der Bevölkerung nach erfolgter Machtübernahme erhöht habe.
Auch dies müsste allerdings unbewiesene und unbeweisbare Mutmaßung bleiben, denn durch die Gleichschaltung der Presse, die sukzessive stärker werdende Repression abweichender Meinungen und die politische Monopolisierung des öffentlichen Raums durch die NSDAP und ihre Nebenorganisationen, haben wir für die Zeit zwischen 1933/1934 und 1945 keine verlässlichen Meinungsbilder er Bevölkerung, sondern nur die Veröffentlichte Meinung der Nazis selbst und Stimmungsbilder, die Exilorganisationen wie die SoPaDe zu erstellen versuchten, die aber auf Grund der eingeschränkten Möglichkeiten offen zu agieren oft nur regional, zeitlich beegrenzt oder millieugebunden wirklich aussagekräftig sind.

Mit anderen Worten:

Einzig auf Grund, des Umstands, dass der "Stürmer" mal Versatzstücke abgedruckt haben mag gibt es wenig Anlass meiner Kernbehauptung, dass die betreffende Schrift Luthers (zumal als Gesamtzusammenhang) einem Großteil der protestantischen Bevölkerung wahrscheinlich überhaupt nicht bekannt war, zu widersprechen.
Für den Wüterich-Smiley gibt es also keinen Grund.
 
Im Artikel über "Der Stürmer" (Link siehe oben) lese ich – Zitat (alle Fettschreibungen, auch in anderen Zutaten, durch mich):

Auch religiöse Themen bildeten einen Teil des antisemitischen Repertoires des Stürmers, beispielsweise in Gestalt von Juden als Ritualmördern, Gottesmördern und Urfeinden des Christentums. Dabei wurde auf antijudaistische Mythen über rituelle Menschenopfer, Brunnenvergiftung und Ähnliches zurückgegriffen.

Und unter antijudaistische Mythen lese ich – Zitat:

Da Juden Jesus von Nazaret nicht als den Messias und Sohn Gottes anerkennen, stellten sie das kirchliche „Wahrheitsmonopol“ schon durch ihr Dasein in Frage. Sie wurden daher seit dem 4. Jahrhundert im christlichen Europa rechtlich, sozial und ökonomisch benachteiligt, ausgegrenzt und (besonders im Hochmittelalter und in der frühen Neuzeit) oft verfolgt, vertrieben und vielfach ermordet. Dies rechtfertigten Christen wiederum als „Strafe“ oder „Fluch Gottes“ für die angebliche „Verstockung“ oder „Gotteslästerung“ der Juden.[1]

Der Antijudaismus der Alten Kirche untermauerte großenteils überkommene judenfeindliche Stereotype, die in Ägypten verbreitet waren, mit einer Ideologie, die aus der Bibel hergeleitet, in gesamtkirchliche Lehren integriert, offiziell geschürt, europaweit verbreitet und so zu einem kulturellen Dauerzustand in der Geschichte Europas wurde.[2] Er gilt deshalb als historische Voraussetzung des neuzeitlichen Antisemitismus. Das Verhältnis beider Formen zueinander und damit die Definition von Antisemitismus werden in der Antisemitismusforschung diskutiert.

Und weiter:

Seit 380 kam es zu vereinzelten Stürmen auf heidnische Tempel und jüdische Synagogen.
(…)
Unter dem Druck der Kirche entzogen die spätantiken Kaiser den Juden immer mehr frühere Rechte. Theodosius II. verbot den Bau neuer Synagogen und setzte 415 den letzten jüdischen Patriarchen, Gamaliel VI., wegen Verstoßes dagegen ab. Das beendete 429 das jüdische Patriarchat in Palästina. Der Kaiser legalisierte 438 die Umwandlung alter Synagogen in Kirchen. Die kirchlichen Konzile vom 4. bis 7. Jahrhundert erließen zahlreiche Edikte, die den Kontakt mit Juden und deren Einfluss unterbanden.
(...)
So sollte das Judentum im Zustand der unterworfenen, gottfeindlichen, schwindenden Minderheit bleiben. Die entsprechende Kaisererlasse von 315 bis 429 wurden im Codex Theodosianus, danach im Codex Iustinianus gesammelt und wurden so zum Vorbild mittelalterlicher Judenpolitik.
(…)
Dass das Judentum dennoch weiter existierte, erklärte Augustinus in De Civitate Dei (420) so: „Die Juden sind Zeugen ihrer Bosheit und unserer Wahrheit.“
(...)
Diese Haltung bestimmte den Umgang mit jüdischen Minderheiten unter christlicher Herrschaft: Die Juden wurden in untergeordneter Stellung gehalten, um an ihnen die Überlegenheit des Christentums demonstrieren zu können.


Wahr ist aber, dass Juden im Karolinger Reich Schutz genossen. Aber auch da durften sie kein Land besitzen, was in der entstehenden Feudalgesellschaft ein gravierender Nachteil war. Sie konnten sich nur in den Städten niederlassen, wo sie aber nicht in Zünfte aufgenommen wurden, weil sich diese auch als christliche Bruderschaften verstanden. Also blieb ihnen nur Trödelhandel, Pfandleihe oder Kreditvergabe.

Und im Wikipedia Artikel über Martin Luther und die Juden lese ich – Zitat:

In der NS-Zeit wurden Luthers Judentexte häufig neu herausgegeben. Die Nationalsozialistische Propaganda benutzte sie ebenso wie die rassistischen DC und deren innerkirchliche Gegner.[128]
(…)
1937 und 1938 bekräftigten zwei Artikel
[im Stürmer], Luther müsse als „unerbittlicher und rücksichtsloser Antisemit“ gelten und die evangelischen Pastoren müssten das viel stärker predigen.
(…)
Das „Deutsche Lesebuch für Volksschulen“ von 1943 präsentierte unter dem Titel „Der Jude, unser Erzfeind“ judenfeindliche Zitate „großer Deutscher“, darunter Luther.[131] Das „Geschichtsbuch für höhere Schulen“ (7. Klasse: „Führer und Völker“) von 1941 kommentierte Lutherzitate von 1543: „Keiner vor und nach ihm hat die Juden, diese ‚leibhaftigen Teufel‘, mit solcher elementaren Wucht bekämpft wie er…“.[129]


Seit April 1933 benutzten die DC Luther für ihren Kampf für eine gleichgeschaltete „Reichskirche“, Ausschluss der Judenchristen und „Entjudung“ der kirchlichen Botschaft.
(…)

Beim reichsweiten „Luthertag“ (19. November 1933) stellten auch nicht zur DC gehörige Theologen wie Paul Althaus Luther und Hitler als verwandte Helden einer „großen nationalen Wende“[133] und Ahnherren des deutschen Volkstums dar. So betonte der angesehene Lutherforscher Erich Vogelsang gegen den jüdischen Historiker Reinhold Lewin: Luther habe erkannt, dass die ganze jüdische Geschichte seit Jesu Kreuzigung vom Fluch Gottes bestimmt sei.
(...)
Daher dürfe die Kirche dem Judentum auf keinen Fall ein göttliches Daseinsrecht zugestehen, sondern müsse wie Luther „alles ‚Judaisieren‘ und ‚Judenzen‘“ als „innere Zersetzung durch jüdische Art“ entschieden bekämpfen und den Staat zum „Durchgreifen“ mit „scharfer Barmherzigkeit“ auffordern.[134] Luther habe die Gefahr der Ausbeutung und Versklavung des „Wirtsvolkes“ durch das jüdische „Gastvolk“ und dessen Vertreibung als einzige realistische Lösung erkannt..
(…)
Der Literaturhistoriker Walther Linden betitelte seine Ausgabe von 1936 „Luthers Kampfschriften gegen das Judentum“ und nannte sie
das „heute noch vollauf gültige völkisch-religiöse Bekenntnis des großen deutschen Reformators“.[137]
(…)

Gegen die Novemberpogrome (9./10. November 1938) protestierte keine Kirchenleitung. Einige DC-Kirchenführer rechtfertigten diese Verbrechen mit Luthers Judentexten.
(…)
DC-Bischof Martin Sasse stellte in seinem weit verbreiteten Pamphlet „Martin Luther über die Juden: Weg mit ihnen!“ (23. November 1938) ausgewählte Lutherzitate so zusammen, dass die nationalsozialistische Judenverfolgung als direkte Erfüllung von Luthers Forderungen erschien. Dieser „deutsche Prophet“ habe sich, „getrieben von seinem Gewissen“, vom Judenfreund zum „größten Antisemiten seiner Zeit“ gewandelt. Diese Stimmen waren keine extremen Einzelmeinungen, da die meisten evangelischen Kirchenführer die staatliche Judenverfolgung seit 1933 immer wieder bejaht hatten.[139]
(…)

Die 1934 gegründete Bekennende Kirche widersprach staatlichen Übergriffen auf die evangelische Lehre, nicht aber der Judenverfolgung.

Und so weiter und so fort.
 
Ich stelle mir die ganze Zeit die Frage: Wie wird man Antisemit? Ich würde ja vermuten, dass jemand, der kein Antisemit ist und über Luthers Judenschrift stolpert, eher erschrocken sein wird. ER wird in der Folge vielleicht versuchen, Luthers Haltung zu verheimlichen. Wer aber schon antisemitische Tendenzen hat und zugleich Luther als Vorbild sieht, wird sich durch so eine Hetzschrift bestärkt fühlen.

Aber wieviele Menschen werden explizit wegen Luther zum Antisemiten? Mal von der NS-Zeit abgesehen. Da war es schon nützlich, Luther der Art instrumentalisieren zu können.



Luther hat den Antijudaismus ja nicht efunden. Er ist seit den Anfängen des Christentums mit ihm veknüpft. Deshalb erscheint es mir bizarr, Luther besonders herauszupicken. Auf der anderen Seite haben Menschen, die in der Öffentlichkeit stehen und eine gewissen Anhängerschaft haben auch eine besondere Verantwortung für ihre Äußerungen. Einem Popstar würde man so eine Hetzschrift heute jedenfalls nicht durchgehen lassen. :D

Das ist schon sehr verurteilenswert, setzt aber Luther nicht mit Himmler gleich.
 
Ja, das tue ich, weil alle diese Gruppen auf Luther zurückgehen.
Die Behauptung, dass alle reformatorischen Gruppen der Reformationszeit letztendlich auf Luther zurückgingen ist sachlich falsch.
Richtig ist, dass Luther diejenige Persönlichkeit gewesen ist, an der sich die Frage einer Reformation der kahtolischen Kirche jedenfalls im Reich maßgeblich entzündete. Das hielt ander Reformatoren nicht davon ab ganz eigene Auslgungen zu entwickeln und sicht mitunter darüber mit Luther mächtig zu verzwanken.

Abgesehen davon, hat auch Luther für die Entfernung von Bildern und Statuen aus Kirchen plädiert
Ja, aber nicht für Vandalismus.
Und deine Behauptung die Entfernung von Bildern sei ein Akt des blinden hasses auf Rom und den Papst gewesen, derer man nicht habhaft hätte werden können, ist auch nicht plausibel.
Schon aus dem Grund nicht, dass die wenigsten Bilder und Plastiken in den Kirchen nördlich der Alpen explizit Päpste oder irgendwas explizit römisches gezeigt haben dürften, dass sich als solches Feindbild überhaupt geeignet hätte.

Der Anlass für die Bilderstürmerei dürfte mitunter damit zusammenhängen, wie ernst die Bevölkerung die Thematik des Bilderverbots nahm, wenn man eine Rückbesinnung auf die Bibel selbst zum Maßstab nimmt und inwiefern sich Heiligenverehrung möglicherweise als Götzendienst verstehen ließ.
Aufhänger für beides lieferte die Bibel selbst, insofern könnte man Luther hier allenfalls den Vorwurf machen der Bevölkerung qua Übersetzung die Schrift aus der sich Bilderstürmerei begründen ließ zugänglich gemach zu haben.

Im Kern wird man nicht einmal Luthers Postulat der Armut der Kirche als Aufhänger dafür nehmen können, denn damit hätte man sicherlich die Abschaffung von kostbaren Reliquiaren, Prukgewändern und wertvollem, veräußerbaren mobilen Vermögenswerten begründen können, allerdings kaum die Zerstörung immobiler steinerner Statuen und Plastiken, Holzarbeiten oder kunstvoll ausgestaltter Fenster, die sich überhaupt nicht in einer Form kapitalisieren ließen, dass man es anderen Zwecken zu gute hätte kommen lassen können, sondern deren Zerstörung einfach nur reine Verschwendung war.

Verfolgung heißt ja nicht in jedem Fall Tötung. Ich habe schon geschrieben: Die Juden wurden vertrieben, gingen, wo sie noch toleriert wurden – und dürften sich nach einiger Zeit wieder ansiedeln
Mit Verlaub, auch Vertreibungen waren kein allgegenwärtiges Phänomen.

Wann Juden verboten wurde Handwerk zu betreiben und Land zu besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis.

Das dürfte auch regional unterschiedlich gewesen sein. Im Übrigen auch der Zuschnitt der Verbote an und für sich.

Im Besonderen in Osteuropa scheinen sich Juden in der Vormoderne häufig als Schankwirte verdingt zu haben (was wohl auch dort zu judenfeindlichen Vorurteilen führte, die unter anderem auf den Vorwurf des Wuchers abstellten), ein Phänomen dass es in Mittel- und Westeuropa in dieser Form wohl nicht so stark gegeben hat.

Was das Verbot von Landbesitz angeht, bin ich überfragt.

Ein dezidiertes flächendeckendes Verbot einem Handwerk nachzugehen, gab es ja in dieser Form meines Wissens nach nicht, sondern den Ausschluss der Juden aus den zünftig organisierten Teilen des Handwerks, durch Verwährung einer Mitgliedschaft in den Zünften.
Insofern das Zunftwesen vor allem ein städtisches Phänomen war und die Gründung und Durchsetzung der Zünfte dementsprechend den Stadtgründungen folgte, wird sich das vor allem im ausgehenden 12. bis 14. Jahrhundert, im Gefolge der großen Wellen der Stadtgründungen allmählich etabliert haben, was das Heilige Römische Reich angeht, möglicherweise in Italien etwas früher.

Wann Juden verboten wurde Handwerk zu betreiben und Land zu besitzen, entzieht sich meiner Kenntnis. Jedenfalls wurde das kirchliche Verbot für Christen, Zinsen zu nehmen, nicht immer umgesetzt: Templer z.B. nahmen auch Zinsen. Trotzdem zeigt sich hier die Macht der Kirche: Sie griff aus religiösen Gründen in die Wirtschaft ein.

Inwiefern sie damit realiter in die Wirtschaft eingriff, darüber kann man streiten, einfach weil es genügend Möglichkeiten gab dieses Verbot zu umgehen, wenn man wollte.

Ein Verbot Zinsen auf eine bestimmte Geldsumme zu nehmen beeinhaltete ja nicht unbedingt ein Verbot sich die Dienstleistung einen Kredit bereit zu stellen oder zu vermitteln einmalig bezahlen zu lassen.

Sofern es sich um Kredite für den Fernhandel handelte, unterband das Zinsverbot auch nicht die Möglichkeit einen Kredit in einer anderen Währung an eine Rückzahlung in heimischer Währung zu einen sehr hohen Wechselkurs zu gewähren.

Man wird sich auch bei anderen Modellen, wie Krediten für den Kauf von Land darüber unterhalten können, inwiefern es dezidiert gegen das Zinsverbot verstoßen hätte, sich etwa neben der Rückzahlung auf einige Jahre Rechte am Niesbrauch von Teilen des Grundes zu sichern und diese Weiter zu verkaufen oder sie von Tagelöhnern bewirtschaften zu lassen und die Erträge zu veräußern oder diese Rechte anschließend gegen Bezahlung, die dann nicht mehr unmittelbar etwas mit dem Entleihen des Geldes zu tun hatten abzulösen, etc. etc.

Da waren einige Modelle denkbar, neben anderen Praktischen Einfällen wie Bearbeitungsgebür, Gebühr für die Ausstellung schriftlicher Verträge etc.

Es war also auch für Christen, die das Zinsverbot achteten durchaus möglich durch die Investition von Geld Geld zu verdienen, die Steuerungswirkung dadurch halte ich für vernachlässigbar.

Ich würde dir allerdings zustimmen, dass die Kirche aus religiösen Gründen in das Wirtschaftsleben eingriff und dies allerdings eher durch die Religiöse Begründung von Zeiten in denen nicht oder nur eingeschränkt gearbeitet wurde (der siebente Tag, diverse Feiertage usw.)
Wenn man einen Beweis für nachhaltiges hineinreden der Kirche in die wirtschaftlichen Verhältnisse sucht, dann dürfte der eher hier zu suchen sein, als im Zinsverbot, möglicherweise auch, insofern die Kirche selbst die Obrigkeit stellte oder das Legitimierte durch das Verbot des Bejagens von Wild und Fisch oder des Entwendens von Holz aus Wäldern die nicht zur Allmende gehörten etc.
 
Nach deinem letzten Beitrag, Dion, habe ich den Eindruck, dass ein ganz grundlegendes Missverständnis vorliegt.
Die Existenz von kirchlichem bzw. christlichem Antijudaismus und dass es zwischen kirchlichem bzw. christlichem Antijudaismus und dem Rassenantisemitismus argumentative Kontinuitäten gibt, bestreitet niemand. Es bestreitet auch niemand, dass Antijudaismus oft genug aus den Gelehrtenstuben heraus brach und sich in tödlicher Gewalt auf der Straße Bahn brach. Du musst also mit Wikipedia-Zitaten nichts belegen, was allgemein geteilt wird.

Was nicht communis opinio ist, ist, dass es einen direkten Weg gibt, der von Wittenberg nach Babin Yar, Riga, Treblinka oder Auschwitz führt. Was nicht communis opinio ist, ist, dass Antijudaismus - den es unbestritten immer gab - immer gleichermaßen tödliche Konsequenzen hatte.

Ich hatte mehrfach das Beispiel des mittelhochdeutschen Dichters Süßkind von Trimberg vorgestellt:
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Dass dieser doppelt als Jude, nämlich, als "Jude von Trimperg" schriftlich und durch den Judenhut darstellerisch, gekennzeichnet ist, ist Antijudaismus. Da gibt es nichts dran zu rütteln. Dieser Antijudaismus bedeutete für Süßkind aber keine Einschränkung in seiner Dichtkunst, er verhinderte nicht seine positive Rezeption als Dichter, wissend, dass er Jude war, er bedeutete keine Lebensgefahr für Süßkind.

Es gab ganze Generationen von Juden, die im christlichen Europa friedlich und unbeschadet leben konnten. Und es gab Generationen, welche die Erfahrung machten, dass sie nirgends langfristig sicher wären, nur weil sie Juden waren. Beides ist Realität in Europa in den letzten 2000 Jahren gewesen und ist es leider - selbst in Dtld. wieder, wo ich vor ein paar Jahren noch der Überzeugung war, dass die Mehrheitsgesellschaft von Antisemitismus geheilt sei - stellenweise immer noch.

Im Cid-Epos gibt es eine Stelle, die hochantijudaistisch ist. Der Cid ist verbannt worden und benötigt Geld, um Männer zu werben. Sein Freund Martín Antolínez stellt Kontakt zu zwei Juden her, Rachel und Vidas (mit Rachel ist nicht der Frauenname gemeint, sondern der jüdische Männername Ragel, Vidas löst Eva Salomonski in Rachel e Vidas in Vox Romanica 15 (1956) in Ḥayyīm auf, was ich für wenig plausibel halte).
Der Cid und Martín Antolínez fühlen zwei schwere Truhen mit Sand und legen obenauf guadamecí. Guadamecí von der Stadt Ghadames, ist golddurchwirktes Leder.

Fablo mio Çid | [...]
«¡Martin Antolinez | sodes ardida lança!
Si yo bivo| doblar vos he la soldada.
Espeso e el oro | e toda la plata;
bien lo vedes | que yo no trayo [nada],
e huebos me serie | pora toda mi compaña;
fer lo he amidos, | de grado non avrie nada.
Con vuestro consego | bastir quiero dos archas;

incamos las d'arena | ca bien seran pesadas,
cubiertas de guadalmeçi | e bien enclaveadas.


Diese mit Sand gefüllten und gut verschlossenen Truhen bringen sie zu den Juden Rachel und Vidas, und bitten diese, die Truhen aufzubewahren. Martín Antolínez schmeichelt den Juden noch "meine teuren Freunde":

«¿O sodes, Rachel e Vidas, | los mios amigos caros?
En poridad | f(l)ablar querria con amos.»
[...]
El Campeador [...]
Tiene dos arcas | lennas de oro esmerado.

[...]
Dexado ha heredades | e casas e palaçios;
aquelas non las puede levar, | si non, ser ien ventadas;
el Campeador dexar las ha | en vuestra mano,
e prestalde de aver | lo que sea guisado.
Prended las archas | e meted las en vuestro salvo;
con grand jura | meted i las fes amos
que non las catedes | en todo aqueste año.»
Rachel e Vidas | seyen se consejando:
«Nos huebos avemos | en todo de ganar algo.
Bien lo sabemos | que el algo gaño,
quando a tierra de moros entro | que grant aver saco;
non duerme sin sospecha | qui aver trae monedado.
Estas archas | prendamos las amas,
en logar las metamos | que non sean ventadas.
Mas dezid nos del Çid: | ¿de que sera pagado,
o que ganançia nos dara | por todo aqueste año?»
Respuso Martin Antolinez | a guisa de menbrado:
«Mio Çid querra lo que ssea aguisado,
pedir vos a poco | por dexar so aver en salvo;
acogen sele omnes | de todas partes menguados;
a menester | seis çientos marcos.»


Der Cid (el Campeador) hat - so Martín Antolínez zu den Juden - zwei Kisten voller Gold, die er nicht mit sich führen kann, aber wenn er sie in Burgos lässt, werden sie verkauft, die Juden sollen die Kisten aufbewahren und nach einem Jahr dafür eine Belohnung von 600 Mark erhalten. Wenn sie die Kisten vor Jahresfrist öffneten, würden sie das Geld nicht erhalten:

que sobre aquelas archas | dar le ien .vi. çientos marcos
e bien gelas guardarien | fasta cabo del año;
ca assil dieran la fe | e gelo avien jurado
que si antes las catassen | que fuessen perjurados,
non les diesse mio Çid | de la ganançia un dinero malo.

Zudem gaben sie als Pfand für die Kisten 300 Mark in Silber und 300 Mark in Gold. Der Cid hat ihnen also 600 Mark abgeschwatz und die Kisten als Pfand dortgelassen und ihnen einen Zins von 100 % nach Jahresfrist versprochen, sollte der Cid nach Jahresfrist nicht zurückkehren, dürften sie die Kisten mitsamt ihres Inhalts verkaufen.
Natürlich hat der Cid das nie vor: Letztlich betrügt er die beiden Juden um 600 Mark. Das Epos verurteilt das nicht, im Gegenteil, dieser Betrug wird als Heldenstück gefeiert und es wird nur noch einmal darauf eingangen, nämlich als Rachel und Vidas Minaya ansprechen, dass der Cid sich ihrer entledigt hätte und sie ihn suchen wollten. Danach hören wir nichts mehr von ihnen, der Verfasser nimmt diesen Strang nicht wieder auf.

Was zeigt uns diese Episode? Der Cid-Epos ist von 1207 (
Per Abbat le escrivio | en el mes de mayo en era de mill e .cc xlv. años. < Ära Hispanica 1245 = AD 1207) ggf. auch früher (die Debatte lautet: ist Per Abbat der Verfasser des Epos oder nur ein Kopist?, Frühstdatierung 1140, die von Menéndez Pidal vertreten wurde, ich halte das für fraglich).
Damals war es in Spanien also absolut kein moralisches Problem, Juden zu betrügen, wahrscheinlich haben die Zuhörer des Epos die Episode als Schwank aufgenommen und herzhaft gelacht. Der Subtext ist klar: Die betrügerischen Händler werden zu ihrerseits Betrogenen. Dennoch werden die beiden Juden als zwei Personen betrachtet*, die durchaus selbstbewusst mit Rittern verhandeln und auch auf diese zugehen (der historische Minaya - respektive Alvar Háñez/Fáñez gehörte zur kastilischen Elite und ist auf mehreren Königsurkunden bezeugt, wurde später Herzog von Toledo) ohne deswegen um ihr Leben fürchten zu müssen. Das kam dann - wenn man die Episode als historisch erachtet, muss sie 1081 passiert sein - 300 Jahre später, als 1391 von Sevilla ausgehend in mehreren Städten Massaker an Juden begangen wurden.


*eigentlich ist das so nicht ganz richtig, denn dass es sich bei Rachel e Vidas nicht um Individuen handelt, mag man daran erkennen, dass sie immer gemeinsam handeln. Alle ihre Aktionen werden immer ausdrücklich von Rachel e Vidas ausgeführt, egal, ob sie sprechen, jemandem die Hände küssen oder was auch immer sie tun. Und die Namen werden auch nie ausgetauscht, also man liest sie nie in der umgekehrten Reihenfolge Vidas e Rachel.




 
Clark bezieht sich aber nicht auf die Person Hitlers. Er schlägt vor, dass Luthers Plädoyer für den gehorsamen Untertan eine quasi natürliche Obrigkeitsnähe in die DNA des deutschen Protestantismus eingebracht habe, die spätestens im Kulturkampf zur Obrigkeitshörigkeit entartet sei. Durch die preußische Dominanz in Deutschland sei in ganz Deutschland eine besonders unkritische Haltung zur Obrigkeit aufgekommen, sowie gerade im Militär und Staatsdienst ein Kadavergehorsam. Diese Annahme passt auch zu den durchaus nicht rundheraus ins Reich der Apologien zu verweisenden Berichte vieler Offiziere und Staatsdiener, sie hätten sich auch gegen ihr Gewissen zum Gehorsam verpflichtet gefühlt. Uns heute mag dergleichen verwerflich vorkommen, wenn nicht sogar als Schutzbehauptung, aber das macht es nicht weniger real.

Ich glaube nicht, dass der Führungsstil der preußischen Armee sich durch Kadavergehorsam auszeichnete oder auch nur auf blinden Kadavergehorsam ausgerichtet war. Sicher, in der preußischen Armee konnte man sich darauf verlassen, dass Befehle befolgt wurden, und die Disziplin war zeitweise barbarisch. Friedrich II. vertrat den Standpunkt, dass ein Soldat die Unteroffiziere mehr fürchten müsse, als den Feind.

Es gab aber eine Reihe preußischer Kommandeure, die Soldaten einen eigenständigen Verstand zubilligten. Hans Joachim von Zieten, den ein Vorgesetzter vernichtend beurteilte: "Ist von gar kleiner Statur und leiser Stimme" schaffte in seinem Husarenkorps die Prügelstrafe ab und hielt seine Truppe in guter Disziplin. Den Offizieren wurde in der preußischen Armee durchaus ein großer Ermessensspielraum überlassen, und es gab immer wieder mal Offiziere, die in besonderer Situation eigenmächtig handelten.
Vor allem ist hier ein Yorck von Wartenburg zu nennen, der völlig eigenmächtig die Konvention von Tauroggen 1813 schloss.

Selbst in der Wehrmacht würde ich nicht von Kadavergehorsam sprechen. Hitler hat Kadavergehorsam mit Terror durchgesetzt, aber in einzelnen Operationen haben Manstein oder auch Model sich über direkte Weisungen Hitlers hinweggesetzt. Im März 1943 geschah es sogar, dass Paul Hauser, Kommandeur der Waffen SS den Gehorsam verweigerte.

Selbst in der Wehrmacht wurde Offizieren beigebracht, dass ein Offizier offenkundig sinnlose Befehle nicht befolgen musste. Es konnte einem niemand befehlen, aus dem Fenster zu springen.

Eigentlich war die Ausbildung in der preußischen Armee eher angelegt, kritische, mitdenkende, verantwortungsfrohe Offiziere heranzubilden, als blinden Kadavergehorsam.

In der Tradition der preußischen Armee haben immer wieder kritische Offiziere eine Rolle gespielt.

Der Prinz von Homburg, der den Befehl des Kurfürsten missachtet und die Schlacht von Fehrbellin gewinnt, mag eine literarische, mythologisch überhöhte Sagengestalt gewesen sein, aber die Traditionen die man mit dem Prinzen von Homburg, mit Zieten, mit Yorck von Wartenburg lässt sich ja nicht übersehen. Dass ein Großteil der Wehrmachtsgenerale eben leider nicht das Format eines Yorck von Wartenburg hatte, heißt ja auch wieder nicht, dass in der Wehrmacht Kadavergehorsam herrschte.

Ihre Erfolge hatte sie nicht zuletzt der Auftragstaktik zu verdanken, die den Offizieren großen Ermessensspielraum ließ und so organisiert war, dass jeder Offizier fähig sein sollte, jederzeit die Aufgaben des nächsthöheren Rangs zu übernehmen.
 
Ich glaube nicht, dass der Führungsstil der preußischen Armee sich durch Kadavergehorsam auszeichnete oder auch nur auf blinden Kadavergehorsam ausgerichtet war.

Ich auch nicht und würde, in diesem Zusammenhang einfach mal mit den Ereignissen von September-November 1918 argumentieren wollen.
Wenn wir vom Kaiserreich und Kadavergehorsam reden, sollte man doch nicht übersehen, dass es die kaiserlichen preußischen Generale Hindenburg und Ludendorff waren, die die Konsequenz zogen sich der Obrigkeit in Form von KWII zu entledige und zwar weil Ludendorff explizit fürchtete, Moral und Gehorsam des Westheeres auf Dauer nicht mehr aufrecht erhalten zu können.
Schaut man sich den Weltkrieeg Nr. 1 als ganzes an, und den Umstand, dass die Generalität sofort beginnt den Kaiser aus allen damit zusammenhängenden militärischen Entscheidungen so weit als möglich heraus zu drängen und spätestens seit 1916 massiv am Stuhl von Bethman-Hollweg zu sägen, würde ich meinen, dass jedenfalls von Kadavergehorsam der höheren Offizieere hier keine Rede sein kann.

Insofern auch etwas skurril, wenn sich 1945 dann höhere Offizieere darauf beriefen, dass sie angeblich Befehle befolgen mussten, obwohl sie selbst das zwischen 1914 und 1918 möglicherweise etwas anders gehandhabt hatten und da zu einer preußischen Armee gehörten, deren Spitzen unwidersprochen Kaiser und Reichskanzler kaltstellte und sich in Belangen in denen ihnen das nicht passte über die Obrigkeit hinwegsetzte oder massiven Druck dahin ausübte, dass die Obrigkeiten ausgetauscht würden (Bethmann-Hollweg), bis sie den Wünschen der höheren Militärs entsprachen.
 
Aber wieviele Menschen werden explizit wegen Luther zum Antisemiten? Mal von der NS-Zeit abgesehen.
Warum diese Einschränkung? Als die Nazis an die Macht kamen, war der Antisemitismus schon ca. 70 Jahre ein fester Bestandteil der Gesellschaft – Richard Wagner hat seine Schrift „Das Judenthum in der Musik” 1850 unter Pseudonym geschrieben, danach eine erweiterte Version unter seinen Namen herausgegeben, welche eine ungeheure Wirkung zeigte – Zitat:

Wagners Wirkung geht weit über den musikalischen Bereich hinaus. Literaten und Maler, Philosophen und Bildhauer haben sich ebenso mit ihm befasst wie Germanisten, Historiker, Politik- und Religionswissenschaftler.

Und weil er, wie Luther, nicht irgendjemand war, hatten seine Worte Gewicht. Und offenbar traf er damit den Geist der Zeit. Aber was heißt das konkret? In der Gesellschaft gab es einen latenten Antijudaismus/Antisemitismus, aber nun, da ein berühmter Komponist das offen aussprach, begannen jene, die ähnlich dachten, aber dies bisher nicht auszusprechen wagten, auch offen gegen die Juden zu polemisieren. (Man kennt das auch aus unseren Tagen: Lange Zeit war es verpönt, gegen Juden zu sein, aber nachdem eine offen rassistische Partei es in den Bundestag schaffte, gibt für bestimmte Leute kein Halten mehr; das sind/waren wahrscheinlich jene, die diese Partei gewählt haben, dies aber zuvor und danach in den Umfragen nie zugaben. Heute kennen sie diesbezüglich keine Scheu mehr.)

Zeitgeist gab und gibt es immer. Mal weht er hierhin, mal dorthin. Ich habe mich auch nicht träumen lassen, dass ich eine Zeit erleben werde, in der aus den alten Büchern Worte getilgt werden, weil sie rassistisch sind und als solche nicht mehr in unsere Zeit zu passen scheinen. Das geschieht nach dem Motto: Aus den Augen, aus dem Sinn. Das ist nichts anderes als Unangenehmes unter den Teppich kehren zu wollen – reine Kosmetik.

Diese Kosmetik war auch in der sog. viktorianischen Gesellschaft bestimmend. Frauen hatten z.B. keinen Hintern mehr, sondern nur noch verlängerten Rücken, wer trotzdem Hintern sagte, war ungezogen und wurde als solcher fortan gemieden. Die äußere Form war alles, aber die Gesellschaft war in Wirklichkeit wie eh und je – nur: Es geschah heimlich.

Wie kriege ich wieder die Kurve zurück zum Thema? Ach ja – der Antijudaismus und Antisemitismus waren immer vorhanden, aber sie waren nicht immer sichtbar. Warum hat man Juden verboten, Land zu besitzen? Weil man denen dann auch Adelsprädikate verleihen müsste, denn in jener Zeit besaß nur Adel Land. Aber Juden wurden als minderwertig angesehen – die Gründe dafür habe ich gestern zitiert – und durften kein Land erwerben bzw. Lehnsmänner werden.

Also mussten sie sich in den Städten niederlassen, wo sie aufgrund der Enge ab und zu mit ihren christlichen Nachbarn aneinandergerieten. Wenn bei den Christen die Arbeit aufgrund des Sonntags/Feiertags ruhte, ging sie bei den Juden weiter – und umgekehrt. Es gab im Mittelalter sehr viele christliche Feiertage, bei den Juden weniger. Und es könnte sein, dass Juden dadurch mehr arbeiteten und damit mehr Geld verdienten als ihre christlichen Nachbarn – jetzt abgesehen davon, dass das Arbeiten an einem christlichen Feiertag einem Frevel gleichkam.

Ab Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Juden nach und nach den Christen gleichgestellt. Sie konnten Land besitzen und die Macht der Zünfte wurde zunehmend eingeschränkt, bis es nach 50 Jahren oder so in „Deutschland“ zu einer Gewerbefreiheit kam. Jetzt konnte jeder, der genug Geld hatte, ein Gewerbe, eine Manufaktur oder gar eine Fabrik betreiben. Das bewirkte einen Wirtschaftsaufschwung – siehe sog. Gründerjahre –, der allerdings auch Verlierer produzierte und damit neue soziale Verwerfungen mit sich brachte. Nun hieß es, Deutsche müssten in Fabriken schuften, die den Juden gehörten. Und es kam wieder zum Vorwurf Luthers: Die Juden arbeiten nicht – sie leben von der Arbeit anderer.

Man sieht: Für Antijudaismus/Antisemitismus gab es viele Gründe religiöser, sozialer und wirtschaftlicher Art.
 
Ich begnüge mich jetzt mal damit auf die gröbsten Unstimmigkeiten einzugehen, ansonsten müsste ich jetzt einen mehrere Seiten langen Sermon fabrizieren:

Ach ja – der Antijudaismus und Antisemitismus waren immer vorhanden, aber sie waren nicht immer sichtbar.

Ich denke wo das Problem darin liegt zu behaupten etwas sei konstant vorhanden, nur nicht fasasbar, sollte klar sein. Das hat dann nichts mehr mit nüchterner Betrachtung zu tun, sondern mit persönlicher, nicht objektivierbarer Weltdeutung des Postulanten.
Ist in etwa so, als wenn ich unterstellen würde, dass du meinen Einlassungen schon immer zustimmen wolltest, es nur noch nicht weißt, weswegen es nicht fassbar ist, man deine Zustimmung aber allgemein als gegeben voraussetzen könne.
Ich glaube mit der Annahme wärst du nicht einverstanden.

Warum hat man Juden verboten, Land zu besitzen? Weil man denen dann auch Adelsprädikate verleihen müsste, denn in jener Zeit besaß nur Adel Land. Aber Juden wurden als minderwertig angesehen – die Gründe dafür habe ich gestern zitiert – und durften kein Land erwerben bzw. Lehnsmänner werden.

In mehr als einer Hinsicht falsch:

1. Setzte der Besitz von Land nicht zwangsläufig eine Erhebung in den Adel voraus. Es hat das gesamte Mittelalter hindurch auch immer die Figur des Freibauern gegeben, die im begrenzten Maße eigenes Land besaß, aber nicht zum Adel gehörte. Im Besonderen in Großbritannien, dessen antijüdische Politik im Mittelalter durch die Vertreibung der Juden im 12. Jahrhundert besonders rabiat ausfiel, waren die "yeomen" ein durchaus ziemlich verbreitetes Phänomen.
Auch unfreie Bauern, die ihrem Herrn gegenüber Scharwerkspflichtig oder zinspflichtig waren, konnten neben den Teilen des Güterkomplexes, die sie im Namen ihres Herrn zu bewirtschaften hatten durchaus auch im geringen Umfang über eigenen Landbesitz verfügen, nur reichte dieser in der Regel nicht hin um daraus den eigenen Lebensunterhalt samt Abgaben/Heeresdienst zu bestreiten.
Die Behauptung, dass Landbesitz per se eine Zugehörigkeit zum Adel vorausgesetzt hätte, ist sachlich zu allen Zeiten falsch.
Er wurde später mitunter notwendig, um größere Güterkomplexe (Rittergüter etc.) erwerben zu können, die traditionell mit einem Adelsprädikat verbunden waren.
Das galt aber bei weitem nicht für jedes x-beliebige Stück Land.

2. Wäre darauf hinzuweisen, dass ein "Lehen" nicht zwangsläufig irgendetwas mit Landbesitz zu tun haben musste, ein Lehen konnte auch in einer Belehnung mit bestimmten Amtsbefugnissen, z.B. der Befugnis im Rahmen des Königs recht zu Sprechen, Steuern einzusammeln etc. etc. bestehen.
Inwiefern also eine Belehnung jüdischer Personen mit einem Lehen in Form von Amtsbefugnissen zu jeder Zeit ausgeschlossen gewesen wäre, wäre zu hinterfragen, zumal wenn man bedenkt, dass "Lehen" an und für sich von uns zwar stark mit dem Mittelalter assoziiert wird, de facto als Rechtsfigur bis ins 20. Jahrhundert hinein existierte und die sich in der Neuzeit etablierender Figur des jüdischen Hofagenten, einer Verleihung weitgehender Befugnisse im wirtschaftlichen Sektor sehr nahe kommt.
Auch wäre zu hinterfragen, inwiefern sich aus den verschiedenen Urkunden, die die Juden als dezidierte "Kammerknechte" des Kaisers unter dessen Schutz stellten eine de facto Belehnung ableiten ließe.

Also mussten sie sich in den Städten niederlassen
Nö, selbst die Unmöglichkeit selbst größere Mengen Land für sich zu erwerben oder mit Territorien belehnt zu werden führte zu keinem Zwang in die Städte zu gehen.
Ein Großteil der mittelalterlichen Landbevölkerung besaß nicht genügend Land um auf sich gestellt davon leben zu können und war de facto darauf angewiesen sich als Unfreie bei lokalen Herren zu verdingen und die Allmende (Weideflächen, Wälder, zu weilen auch Ackerland etc. dass der Gemeinde gehörte und nicht im Privatbesitz war, mit nutzen zu können).
Rein wirtschaftlich gesehen, zwang das Verbot Land zu besitzen die Juden nicht in die Städte, wirschaftlich bestand die Möglichkeit sich im Status der Unfreiheit auch ohne eigenen Landbesitz entsprechend bei einem Herren zu verdingen, wie das auch andere taten und außerhalb der Städte gab es in der Regel auch keine Zünfte, deren Statuten die Aufnahme jüdischer Mitglieder verboten hätten, so dass auch handwerkliche Tätigkeiten als (neben)Erwerbsgrundlage in diesen Räumen infrage gekommen wären.

Städte boten auf dem Gebiet des Handels und auch Teilen des Handwerks zunächst einmal attraktivere Möglichkeiten, sofern Landerwerb ausgeschlossen war.
Die Zünfte schlossen in der Regel Juden als Mitglieder zwar nach und nach aus, aber zum einen dauerte es mitunter bis sich ein Zunftwesen überhaupt ausbildete und zum anderen waren auch nicht alle Bereiche des Handwerks in den Städten so stark vertreten, dass eine zünftige Organisation jedes einzelnen Handwerkszeiges überhaupt Sinn machte.
Letztendlich waren die Zünfte eine Einrichtung, die vor allem den Markt regulierten und Preisdumping und Ausschaltung einzelner Marktteilnehmer verhinderte.
Das war aber in Handwerkszweigen die in einer Stadt unterproportional vertreten waren und die Nachfragepotentiale ohnehin nicht bedienen konnten, überhaupt nicht notwendig, so dass es für zahlenmäßig kleine Handwerkszweige, deren Angehörige auch ohne Regulierungen ihr Auskommen hatten, überhaupt nicht unbedingt Sinn ergab, eigene Zünfte herauszubilden oder sich anderen Zünften anzuschließen.
Insofern gab es da durchaus Nischen, die von Stadt zu Stadt verschieden sein konnten.

Es gab im Mittelalter sehr viele christliche Feiertage
Ja, aber nur weil es Feiertage gab heißt das nicht, dass an jedem dieser Tage konsequent die Arbeit geruht hätte. Das war sicherlich bei den größeren religiösen Festen so, aber nicht konsequent an jedem religiösen Feiertag.

Ab Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts wurden Juden nach und nach den Christen gleichgestellt.
In West- und Mitteleuropa ja, oder wenigstens teilweise. In Osteuropa (Russland) passierte des bis zum 1. Weltkrieg nicht, inwiefern das in der Donau-Monarchie, zumal in der ungarischen Reichshälfte konsequent passierte, da wäre ich überfragt.
 
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