Sollten Nazi-Verbrecher heute noch verurteilt werden??

Ich wollte etwas anderes sagen: Nämlich ob man die Position (Aufgaben, Einfluss, Ansehen) einer Sekretärin in einem modernen Dienstleistungsunternehmen tatsächlich mit der Position einer Sekretärin in einem KZ vergleichen (bzw. von ersterer auf zweitere schließen) kann.

Dass (zumindest gerüchteweise) bekannt war, dass in KZs (auch in jenen, die keine dezidierten Vernichtungslager waren) schlimme Zustände herrschten, bezweifle ich nicht.
 
@El Quijote

Eine Unstimmigkeit bleibt aber bestehen, und daran ändern auch Besuche des KZ-Kommandanten bei F. nach Kriegsende nichts. Denn einerseits wird Irmgard F. im Urteil als Schlüsselfigur der KZ-Verwaltung bezeichnet, andererseits, Zitat, "konnte für keines der tatrelevanten Schriftstücke ohne vernünftigen Zweifel festgestellt werden, dass die Angeklagte daran physisch mitgewirkt hat".

Das passt einfach nicht zusammen. Die Anklage musste nämlich gar nicht beweisen, dass F. die tatrelevanten Schriftstücke selbst erstellt hatte. Es hätte bereits genügt, dass kein vernünftiger Zweifel daran bestehen konnte, dass niemand sonst dafür in Frage kam.

Dies wäre bspw. der Fall gewesen, wenn Dienstpläne, Dienstvorschriften und Zeugenaussagen belegen, dass niemand sonst befugt war, die Korrespondenz der Kommandantur zu bearbeiten, oder sich zeigen ließe, dass F. für gewöhnlich alle wichtigen Schriftstücke handelte, und es keinen Grund zur Annahme gab, dass sie ausgerechnet an den inkriminierenden nicht beteiligt gewesen wäre.

Man müsste mal eruieren, wie viele zivile Gehilfinnen die in Stutthof hatten.
 
Jetzt wollen wir doch mal bitte die Fakten sortieren.

Fakt 1:
Irmgard Fuchner arbeitete als Zivilangestellte in einer paramilitärischen Organisation beziehungsweise im Justizwesen. Das ist naiv zu glauben irgendein SS-Dienstgrad ließ sich Anweisungen von einer Zivilangestellten geben.
Daran hätte ich als Soldat kein Stück gedacht. O.K., als Rekrut oder Gefreiter hatte ich Respekt von dem Zivilangestellten in der Kleiderkammer. Aber wenn mal die Schulterstücke nicht mehr nackt sind, passiert so was nicht mehr. Es gibt selbst in einer ziemlich unmilitärischen Bundeswehr einen Korpsgeist. Ich glaube, EQ fehlt da einfach der Stallgeruch aus einer militärischen Umgebung. Bei der SS reden wir da noch einmal von einer ganz anderen Nummer. Es gibt gute Fernsehdokumentationen über die weiblichen Wärter im Frauen-KZ Ravensbrück. Oder über die Frauen aus anderen Lagern.



In der klar gesagt wurden, dass in der Hierarchie die weiblichen Aufseher immer unter den Männern standen.

Fakt 2:
Irmgard Furchner lernte im KZ ihren Ehemann kennen. Dieser war Oberscharführer - vergleichbar dem Unteroffizier. Als die Besuche in den 1950er Jahren stattfanden, welche im Prozess erwähnt werden, wurde also ein Ehepaar besucht. Ist es beweisbar, dass man wegen Irmgard Furchner vorbei kam. Oder kam der Besuch wegen Heinz Gerhard Furchner?

Fakt 3:
1954 stand Irmgard Furchner schon einmal vor Gericht. 1954 berichtete sie als Zeugin über die Abläufe im KZ Stutthof. Damals bekam sie wohl Zeugengeld und wurde mit Dank entlassen. Da hätte wohl niemand 50 Pfennige darauf verwettet, dass diese Frau mal selbst wegen ihrer Tätigkeit vor Gericht sitzen würde und die ganze Republik über Fernsehen und Printmedien darüber berichten würde

Fakt 4:
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die WELT war, die vor dem Prozess im Herbst 2021 über das bevorstehende Verfahren schrieb. Da wurden ein paar andere Fälle aufgeführt, welche bisher von der Jugendkammer des Landgerichtes Itzehoe noch ausstehen würden. Da wurde auch die Frage gestellt, was eigentlich wichtiger sein sollte, Irgendwelche Jugendliche, die mit dem Messer Kiddies bedroht und dann deren Geld und Smartphone abgenommen hatten oder eine Frau aus dem Altersheim für ein Verbrechen aus den Geschichtsbüchern zu belangen?

Fakt 5:
EQ fand ja den Vergleich Widerstand / Holocaust schon abwegig. Da kann ich noch steigern:
Gehen wir mal zum Bild eines Jägers. So ein Staatsanwalt in Itzehoe für Jugendstrafrecht beschäftigt sich am Landgericht schon mit größere Verbrechen. Deswegen ist es ja das Landgericht. Da wird ein Mädchen sexuell genötigt beziehungsweise vergewaltigt. Ein anderer wird mit einem Messer niedergestochen. Das ist wie beim Jäger Reh und Wildschwein. Und in diesen Mühsal der juristischen Niederungen taucht da plötzlich ein 12-Ender Hirsch auf. Irmgard Furchner. Keine pickligen Jungs mehr, sondern ein Verbrechen, dass Dich in die Geschichtsbücher katapultiert. Den letzten Nazi-Prozess in Deutschland. Der Prozess, der nun die Schande der Prozesse der 1950er Jahre tilgt. Nun sind auch Stenotypistinnen und Tankwarte dran. Jeder der dem NS-Regime bei seinen Verbrechen geholfen hat, kommt auf die Anklagebank. Wo führt das hin? In die juristische Fachzeitschrift, die @muck erwähnt hat. Dein Name ist in der Juristerei von Flensburg bis Kärnten nun bekannt. Dumm gelaufen für Irmgard Furchner.

Und seien wir doch mal ehrlich. Wie viele Juristen werden jammern, dass ihnen der ultimative Triumph, einen aus der Schutztruppe des von Trotha aus den Hetero-Kriegen von 1906 heutzutage auf die Anklagebank zu bekommen, durch die Sterblichkeit der Menschen verwehrt ist? Hätte man doch den deutschen Kolonialismus und den Völkermord in Namibia mit einer fulminanten Anklageschrift zerfetzen und unsterblich in die deutsche Justizgeschichte einziehen können., Nein, kein 12 Ender, ein Elefant
 
Und seien wir doch mal ehrlich. Wie viele Juristen werden jammern, dass ihnen der ultimative Triumph, einen aus der Schutztruppe des von Trotha aus den Hetero-Kriegen von 1906 heutzutage auf die Anklagebank zu bekommen, durch die Sterblichkeit der Menschen verwehrt ist? Hätte man doch den deutschen Kolonialismus und den Völkermord in Namibia mit einer fulminanten Anklageschrift zerfetzen und unsterblich in die deutsche Justizgeschichte einziehen können., Nein, kein 12 Ender, ein Elefant
Hetero Kriege? Hältst du v. Trotha und KWII für militante LGBTQ-Aktivisten? ;)

Spaß bei Seite.
Um ehrlich zu sein kann ich mir nicht vorstellen, dass sich die Juristen um solche Prozesse wie den von Irmgard F. reißen.
Der Nachruhm dürfte dann auch eher zweifelhafter Natur sein, zumal einem Teil der Öffentlichkeit das Verständnis für solche Prozesse offenkundig ohnehin fehlt.
Ich nehme mal an, dass derartiges auch unter dem meisten Juristen eher als eine lästige Pflicht empfunden wird, weil Gesetz und Rechtslage eben nach einem Prozess und Strafe verlangen und auf den Medienrummel nicht unbedingt scharf sind.
Von Rehabilitation, Wiedereingliederung in die Gesellschaft und Abwendung weiterer von der Person ausgehenden Gefahren als Ziel eines Prozesses kann bei einer fast 100-Jährigen Bewohnerin eines Altersheims wohl auch kaum die Rede sein. Von tatsächlichem verbüßen einer Strafe auch nicht.
Ich denke, die meisten Juristen würden es bevorzugen Fälle zu bearbeiten, bei denen sich tatsächlich auch die Ziele der Rechtssprechung und gegebenenfalls des Strafvollzugs erreichen ließen.

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Nimm es bitte nicht persönlich, aber den Vergleich mit dem Jäger halte ich in diesem Zusammenhang für maximal deplatziert. Mir ist klar, was du ausdrücken möchtest, dass es in deinem Beitrag um postulierten Nachruhm, Bekantheit und eventuelle Karrierechancen geht, aber die Strafverfolgung ist beim besten Willen keine Großwildjagt. Und einer Straftat verdächtige Personen kein (Frei)Wild.
 
Zuletzt bearbeitet:
Um ehrlich zu sein kann ich mir nicht vorstellen, dass sich die Juristen um solche Prozesse wie den von Irmgard F. reißen.
Sie sind natürlich ein enormer Aufwand, verschaffen aber auch Bekanntheit, Ruhm ... und wer weiß, welche Karrierechancen.
In Österreich wurde einmal eine durch einen spektakulären Prozess bekanntgewordene Richterin kurz danach Justizministerin.
 
Das ist naiv zu glauben irgendein SS-Dienstgrad ließ sich Anweisungen von einer Zivilangestellten geben.
Richtig, aber darum ging es in dem Prozess ja auch nicht. Die Anklage stellte darauf ab, und das LG Itzehoe folgte dieser Argumentation, dass Irmgard F. schon dadurch, dass sie als Sekretärin der Lagerverwaltung half, die Mordmaschine von Stutthof am Laufen hielt. Dazu musste sie keine Entscheidungsbefugnis haben. Durch ihr Tun sorgte sie dafür, so dass Gericht, dass die Mörder immer genug Nahrung zu essen, Munition zum Verschießen und Blutgeld als Sold zum Verprassen hatten. Sie hatte offenbar Kenntnis von den Morden, und unternahm nicht nur nichts dagegen, sondern setzte ihre Tätigkeit sogar fort, und schaffte dadurch eine Atmosphäre, die das Morden normalisierte und die Täter bestärkte.

An und für sich ist diese Argumentation plausibel. Problematisch ist für mich nur der Widerspruch zwischen der ihr zugeschriebenen Schlüsselposition und der Feststellung, dass man ihr die inkriminierenden Schriftstücke nicht zweifelsfrei zuordnen konnte.
Irmgard Furchner lernte im KZ ihren Ehemann kennen. Dieser war Oberscharführer - vergleichbar dem Unteroffizier. Als die Besuche in den 1950er Jahren stattfanden, welche im Prozess erwähnt werden, wurde also ein Ehepaar besucht. Ist es beweisbar, dass man wegen Irmgard Furchner vorbei kam. Oder kam der Besuch wegen Heinz Gerhard Furchner?
Das habe ich mich freilich auch gefragt. Ich denke nicht, dass solche Besuche per se bedeuteten, dass F. im KZ besonders wichtig oder gar eine Vertrauensperson war. Das passt weder zum Weltbild der Nationalsozialisten noch zum jugendlichen Alter der Angeklagten zum damaligen Zeitpunkt.
1954 stand Irmgard Furchner schon einmal vor Gericht. 1954 berichtete sie als Zeugin über die Abläufe im KZ Stutthof. Damals bekam sie wohl Zeugengeld und wurde mit Dank entlassen. Da hätte wohl niemand 50 Pfennige darauf verwettet, dass diese Frau mal selbst wegen ihrer Tätigkeit vor Gericht sitzen würde und die ganze Republik über Fernsehen und Printmedien darüber berichten würde
Und was hat sie damals über sich selbst ausgesagt? War der damals zuständige Spruchkörper überhaupt an einer Strafverfolgung interessiert? @flavius-sterius, da sind wir jetzt wieder beim Thema der Rechtsfortentwicklung. Dass F. nicht früher strafrechtlich verfolgt worden war, heißt nicht, dass das richtig war.
Fakt 4:
Ich bin mir ziemlich sicher, dass es die WELT war, die vor dem Prozess im Herbst 2021 über das bevorstehende Verfahren schrieb. Da wurden ein paar andere Fälle aufgeführt, welche bisher von der Jugendkammer des Landgerichtes Itzehoe noch ausstehen würden. Da wurde auch die Frage gestellt, was eigentlich wichtiger sein sollte, Irgendwelche Jugendliche, die mit dem Messer Kiddies bedroht und dann deren Geld und Smartphone abgenommen hatten oder eine Frau aus dem Altersheim für ein Verbrechen aus den Geschichtsbüchern zu belangen?
Diesen Einwand kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Aus Sicht des Rechts ist die Sache klar! Der Prozess gegen eine Person, der vieltausendfache Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird, ist wichtiger als der Prozess gegen eine Person, der Raub vorgeworfen wird.
Gehen wir mal zum Bild eines Jägers. So ein Staatsanwalt in Itzehoe für Jugendstrafrecht beschäftigt sich am Landgericht schon mit größere Verbrechen. Deswegen ist es ja das Landgericht. Da wird ein Mädchen sexuell genötigt beziehungsweise vergewaltigt. Ein anderer wird mit einem Messer niedergestochen. Das ist wie beim Jäger Reh und Wildschwein. Und in diesen Mühsal der juristischen Niederungen taucht da plötzlich ein 12-Ender Hirsch auf. Irmgard Furchner. Keine pickligen Jungs mehr, sondern ein Verbrechen, dass Dich in die Geschichtsbücher katapultiert. Den letzten Nazi-Prozess in Deutschland. Der Prozess, der nun die Schande der Prozesse der 1950er Jahre tilgt. Nun sind auch Stenotypistinnen und Tankwarte dran. Jeder der dem NS-Regime bei seinen Verbrechen geholfen hat, kommt auf die Anklagebank. Wo führt das hin? In die juristische Fachzeitschrift, die @muck erwähnt hat. Dein Name ist in der Juristerei von Flensburg bis Kärnten nun bekannt. Dumm gelaufen für Irmgard Furchner.

Und seien wir doch mal ehrlich. Wie viele Juristen werden jammern, dass ihnen der ultimative Triumph, einen aus der Schutztruppe des von Trotha aus den Hetero-Kriegen von 1906 heutzutage auf die Anklagebank zu bekommen, durch die Sterblichkeit der Menschen verwehrt ist? Hätte man doch den deutschen Kolonialismus und den Völkermord in Namibia mit einer fulminanten Anklageschrift zerfetzen und unsterblich in die deutsche Justizgeschichte einziehen können., Nein, kein 12 Ender, ein Elefant
Also, bei aller berechtigten Kritik an der Justiz und ihren weisungsgebundenen Staatsanwälten – ich finde, hier übertreibst Du bzw. machst Dir völlig abwegige Vorstellungen. Kein Ankläger und erst recht kein Richter tut sich einen solchen Prozess freiwillig an, das kann ich Dir versprechen.
Zeugen? Fast alle weggestorben. Die, die noch lebten, mussten sich ein Dreivierteljahrhundert zurück erinnern.
Beweise? Potentiell alle im Krieg zerstört oder verlegt, oder in den Jahrzehnten seither zu Staub zerfallen.
Das Ergebnis? Hatte das Zeug dazu, wirklich jeden Teil der Gesellschaft zu verärgern. Den einen kam der Prozess zu spät, die anderen wollten einen Schlussstrich ziehen. Den einen war das Urteil zu sachte, den anderen zu hart. Und, und, und.

Nein, das ist kein Trophäe gewesen.

Natürlich war der Prozess auch als politisches Zeichen gedacht, welches vor allem das schleswig-holsteinische Justizministerium zu setzen gedachte. Das heißt aber nicht, dass das Zeichen falsch war.
 
Sie hatte offenbar Kenntnis von den Morden, und unternahm nicht nur nichts dagegen, sondern setzte ihre Tätigkeit sogar fort, und schaffte dadurch eine Atmosphäre, die das Morden normalisierte und die Täter bestärkte.

An und für sich ist diese Argumentation plausibel.
Ein kleiner Einspruch: diese Atmosphäre der Normalität einer bürokratisch organisierten industriellen Mordmaschinerie ist gewiß nicht von einer kleinen Sekretärin geschaffen worden, stattdessen kam sie in eine solche staatliche/behördliche Verwaltungsstelle, welcher diese Atmosphäre schon längst eigen war. Wahrscheinlicher ist es, da eine Haltung a la "das ist was amtliches, was offizielles, Verwaltung, da ist man ordentlich versorgt" anzunehmen.
 
Es ist ja schon mehrfach hier geschrieben worden, man kaum noch jemanden finden der/die sich aktiv an den Verbrechen der Nazis beteiligt hat.

Hier mal ein Beispiel dafür.

Polnische Fahnder suchten eine KZ-Aufseherin namens Hildegard – Luise N... die in Mittweida/Mittelsachsen in der Zeit vom 13.10.1944 – 13.04.1945 als KZ- Aufseherin tätig war.

Sie war zum Zeitpunkt 2020 97 Jahre alt.
Sie war auch im April am Todesmarsch der Gefangenen von Mittweida nach Freiberg beteiligt.
Mittweida – Freiberg ca. 44 km.

KZ Mittweida/Mittelsachsen – ein Außlager des KZ Flossenbürg/heutiges BL BY.
In diesem Außenlager sollen wohl an die 500 weibliche Gefangene gewesen sein:
  • davon etwa 300 aus der Sowjetunion,
  • über 150 aus Polen,
  • 23 aus Italien und
  • weitere aus Jugoslawien, Kroatien, Deutschland.
Diese Frauen waren nach meiner Kenntnis vorallen in dem hiesigen Lorenz-Werk tätig

Polnische Fahnder fanden diese Frau. Sie wohnte in Berlin.
Als das Gericht den Haftbefehl erließ, um ihr den Prozess zu machen, starb sie.
 
Ich denke nicht, dass solche Besuche per se bedeuteten, dass F. im KZ besonders wichtig oder gar eine Vertrauensperson war.
Richtig, das ist überhaupt nicht relevant, denn egal welche Position sie in der KZ-Verwaltung hatte, sie hätte die beiden Besucher verpfeifen können, wenn sie es gewollt hätte. Sie hatte das nicht getan, ob aus Korpsgeist oder aus anderen Gründen ist zweitrangig.

Der Prozess gegen eine Person, der vieltausendfache Beihilfe zum Mord vorgeworfen wird, ist wichtiger als der Prozess gegen eine Person, der Raub vorgeworfen wird.
Um das Gefühl für richtig und falsch zu stärken, sind solche Prozesse wichtig, denn niemand soll sich in Zukunft darauf ausreden können, er/sie wäre nur ein kleines Rädchen in einem Unrechtsystem - es muss gelten: Mitgegangen, mitgehangen.
 
Richtig, das ist überhaupt nicht relevant, denn egal welche Position sie in der KZ-Verwaltung hatte, sie hätte die beiden Besucher verpfeifen können, wenn sie es gewollt hätte. Sie hatte das nicht getan, ob aus Korpsgeist oder aus anderen Gründen ist zweitrangig.

Sie ist nun nicht verurteilt worden, weil sie zwei gesuchte Verbrecher nicht verpfiffen hat. Das wäre auch längst und lange verjährt gewesen (was ist das juristisch, Strafvereitelung?). Der Sachverhalt, dass sie Besuch von den beiden erhielt, zeigt vielmehr, dass sie eben nicht bloß "die Tippse" war, die in die Handlungsabläufe nicht integriert war, sondern eine Vertrauensperson.

Der Argumentation von Ravenik und Flavius Sterius, dass die Frau in der männerbündischen Welt aus Gewalt und Drill ja eh nichts zu sagen gehabt habe, kann ich mich nicht so ohne weiteres anschließen. Das klingt so ein bisschen, wie die altfeministische Betrachtungsweise von Frauen als Opfergruppe der Nazis, die eh nichts zu melden gehabt hatten. Dem ist aber nicht so. Ja, die Nazis waren in dem Sinne frauenfeindlich, als das in ihrem Weltbild Frauen einen klaren Platz hatten: Nämlich den, Kinder in die Wlet zu setzen.

ch bin mir ziemlich sicher, dass es die WELT war, die vor dem Prozess im Herbst 2021 über das bevorstehende Verfahren schrieb. Da wurden ein paar andere Fälle aufgeführt, welche bisher von der Jugendkammer des Landgerichtes Itzehoe noch ausstehen würden. Da wurde auch die Frage gestellt, was eigentlich wichtiger sein sollte, Irgendwelche Jugendliche, die mit dem Messer Kiddies bedroht und dann deren Geld und Smartphone abgenommen hatten oder eine Frau aus dem Altersheim für ein Verbrechen aus den Geschichtsbüchern zu belangen?
Verschiedene Prozesse gegeneinander auszuspielen, ist keine echte Argumentation dafür oder dagegen einen Prozess zu führen. Wenn wir zu wenige Staatsanwälte und Richter haben, ist das ein Problem. Aber deswegen Prozesse auszusetzen wäre die Kapitulation des Rechtsstaats.
Irmgard F. war 2021 mit 96 Jahren noch fit genug, aus ihrer Altersresidenz auszubüchsen, um dem Prozess zu entgehen.
 
Es hat doch niemand verlangt das sie alleine widerständig hätte werden sollen. Wegversetzen lassen, sonst nichts. Oder kündigen. Jedenfalls nicht weiter mitmachen. Ich weiß garnicht was die Diskussion soll.

Ja man hätte mehr Täter viel härter bestrafen sollen, ja es ist eine Schande das so viele davongekommen sind.
Dennoch reden wir hier von der Teilnahme, wenn auch nur in der Verwaltung, an industriellem Massenmord.
 
Mich stört am Urteil des LG insbesondere die wiederholte zentrale Behauptung, Frau F. habe die Haupttäter "bestärkt", wodurch eine Art Kausalzusammenhang zwischen Frau F.s Arbeit und dem Misshandlungs- und Tötungsvorsatz der Haupttäter suggeriert wird:
Gleichwohl bestärkte die Angeklagte die Haupttäter bei Begehung der der Verurteilung zugrunde liegenden Taten. Denn sie stand der Lagerleitung während ihrer gesamten Dienstzeit als zuverlässige und gehorsame Untergebene zur Verfügung und sicherte damit durch ihre Tätigkeit fortwährend die Aufrechterhaltung des Betriebs des Konzentrationslagers und das Gefangenhalten der Inhaftierten ab.
[...]
Das nach den getroffenen Feststellungen vorhandene Maß an Vertrauen in die Verlässlichkeit der Angeklagten und die Beständigkeit ihrer Tätigkeit bestärkte die Lagerleitung im Tatzeitraum konstant in der Tatausführung, da sie wusste, mit der Angeklagten in zentraler Position eine Untergebene an ihrer Seite zu haben, die stets zuverlässig und gehorsam die erteilten Befehle ausführen und in ihrem Tätigkeitsbereich die zur Umsetzung des Tatplans notwendigen Hilfsarbeiten ausführen würde.
[...]
Die physische und psychische Beihilfe der Angeklagten erreichte jedenfalls die Haupttäter in S., also allen voran H. und M., die sich auf sie verließen und deren Tatentschluss die Angeklagte durch ihre stetige Bereitschaft, bei der Absetzung des für den Lagerbetrieb einschließlich einzelner Tötungsaktionen notwendigen Schriftverkehrs zu helfen, bestärkte.
Frau F. soll also durch ihre zuverlässige Arbeit die Haupttäter in ihrem Tatentschluss "bestärkt" haben? Das würde bedeuten, dass sie ohne Frau F.s Arbeit nicht (ganz) so entschlossen gewesen wären, Menschen zu misshandeln und zu töten. Das halte ich für absurd.
 
Frau F. soll also durch ihre zuverlässige Arbeit die Haupttäter in ihrem Tatentschluss "bestärkt" haben? Das würde bedeuten, dass sie ohne Frau F.s Arbeit nicht (ganz) so entschlossen gewesen wären, Menschen zu misshandeln und zu töten. Das halte ich für absurd.
Das sehe ich anders: Auch die SS-Männer waren Menschen, und wie alle Menschen waren auch sie auf die Zustimmung ihrer näheren Umgebung angewiesen. Niemand kann gegen seine ganze Umgebung über so lange Zeit kämpfen. Das hat auch Himmler gewusst und seinen Mannen Rücken gestärkt, indem er ihnen sagte: Sie wären bei allem, was sie taten, anständig geblieben.

Hätte Frau S. über das, was die SS-Totenkopfmänner taten, Missfallen geäußert, dann wäre das ein kleines Zeichen des moralischen Widerstands. Und hätten die vielen kleine Rädchen im KZ-Betreib in ähnlicher Weise ihr Missfallen geäußert, dann wäre die Mordmaschinerie ev. ein wenig ins Stocken geraten, auf jeden Fall nicht mehr bis zum Ende des Krieges so reibungslos gelaufen.

Es sind die kleinen Rädchen, die den Staat – auch einen Unrechtstaat - am Laufen halten: Da werden Züge zusammengestellt und in tagelange Märsche gesetzt, ohne dass die Menschen darin mit Wasser und anderem versorgt würden. Sie standen stunden- und tagelang auf Abstellgleisen, und nur selten dürften Zivilisten nahe genug dran gehen, um den Juden darin zu helfen. Obwohl die schrien und bettelten, und obwohl ein Gestank aus diesen Zügen über die Zustände darin zeugten.
 
Das sehe ich anders: Auch die SS-Männer waren Menschen, und wie alle Menschen waren auch sie auf die Zustimmung ihrer näheren Umgebung angewiesen. Niemand kann gegen seine ganze Umgebung über so lange Zeit kämpfen. Das hat auch Himmler gewusst und seinen Mannen Rücken gestärkt, indem er ihnen sagte: Sie wären bei allem, was sie taten, anständig geblieben.

Ich denke nicht, dass eine Sekretärin wirklich in der Lage gewesen wäre, ihre Vorgesetzten in irgendeiner Weise von ihren Aufträgen abzuhalten. Wir sind ja glücklicherweise in der Lage, die Geschichte ex-post beurteilen zu können, wir sind in einer Demokratie und Rechtsstaat aufgewachsen. Wir haben ein ganz anderes Referenzsystem als die Sekretärin, deren Kindheit und Jugend in einem totalitären Regime stattfand. Es gab eine kleine Minderheit, die aufbegehrt haben. Sophie Scholl, wenige Jahre älter als die Sekretärin, gehörte zu ihnen. Aber sie hatte auch durch ihr Elternhaus eine andere Sicht auf das Dritte Reich. Und sie hatte wohl auch ein anderes soziales Umfeld, das sie geprägt haben mag. Ich kann zur Sozialisierung von Irmgard F. wenig sagen. Ich meine, im Urteil gelesen zu haben, dass dort vermutet wurde, dass sie in einem national-konservativen Milieu aufgewachsen ist. Das mag auch erklären, warum sie damals vermutlich kein Unrechtsbewußtsein gehabt hat. Sie war sicherlich durch die Umstände ihrer Zeit geprägt, so dass sie auch keinen inneren Widerstand damals gegen die Verbrechen im Konzentrationslager empfand. Außerdem war sie in Erfüllung staatlicher Maßnahmen tätig. Und bestimmt wurde auch vor der Verwendung in einem Konzentrationslager geprüft, ob die Personen auch zuverlässig waren (mindestens 150 %).
 
Hätte Frau S. über das, was die SS-Totenkopfmänner taten, Missfallen geäußert, dann wäre das ein kleines Zeichen des moralischen Widerstands. Und hätten die vielen kleine Rädchen im KZ-Betreib in ähnlicher Weise ihr Missfallen geäußert, dann wäre die Mordmaschinerie ev. ein wenig ins Stocken geraten, auf jeden Fall nicht mehr bis zum Ende des Krieges so reibungslos gelaufen.
Da gehe ich nicht mit. Sie wäre einfach ausgetauscht worden und jemand anders wäre schuldig geworden.
 
Eine Traudl Junge, Sekretärin Adolf Hitlers, wurde, auch aufgrund ihres geringen Alters, nicht bestraft. Sie wurde als Mitläuferin eingestuft.
 
An Traudl Junge dachte ich auch schon. Sie hatte allerdings das „Glück“, bereits vor 22 Jahren verstorben zu sein. Würde sie noch leben, würde sie heute vielleicht (oder sogar vermutlich) auch noch angeklagt, als Sekretärin Hitlers für seine Verbrechen mitverantwortlich zu sein bzw. ihn durch ihre Arbeit in seinen verbrecherischen Entschlüssen „bestärkt“ zu haben.
 
Das sehe ich anders: Auch die SS-Männer waren Menschen, und wie alle Menschen waren auch sie auf die Zustimmung ihrer näheren Umgebung angewiesen.
Was @Ravenik meint, und er möge mich korrigieren, wenn ich es falsch darstelle, ist das bereits angesprochene Problem des Vorsatzes.

Das deutsche Strafrecht fragt zuallererst nicht: Was hat F. erreicht?

Sondern es fragt: Was wollte F. erreichen?

Verlangt wird zumindest ein Eventualvorsatz. Es ist nicht nötig, dass sie sinngemäß gesagt oder gedacht* hat: "Ich will, dass es passiert." Es genügte, wenn sie gesagt oder gedacht hat*: "Es kann passieren, aber ob's passiert, ist mir schnuppe."

*) Gemeint sind natürlich nicht ihre Gedanken, sondern ihr durch Handeln schlüssig ausgedrückter innerer Wille; denn wenn eine Handlung erkennbar zu einem bestimmten Resultat führen wird, kann man sich nicht damit herausreden, man habe das Resultat nicht gewollt.

Und diesen Vorsatz muss sie gleich doppelt gehabt haben, nämlich sowohl im Bezug auf die Tat, der die Hilfeleistung gedient haben soll (also das Morden im KZ), als auch im Bezug auf ihre eigene Hilfeleistung (sonst wäre ja z.B. auch jeder Taxifahrer der Beihilfe schuldig, der ahnungslos einen Mörder zum Tatort fährt).

Irmgard F. muss also das Morden im KZ zumindest egal gewesen sein, und es muss ihr zumindest egal gewesen sein, dass sie, indem sie in der Lagerverwaltung arbeitete, den Mördern half.

Problem: Was, wenn sie nicht für möglich hielt, dass sie den Mördern tatsächlich half, weil sie entweder ihr Handeln nicht als Hilfe erkannte, oder glaubte, die Mörder hätten ihre Hilfe gar nicht nötig? Dann hätte sie keinen Vorsatz zu einer Hilfeleistung gehabt.

Die Staatsanwaltschaft antwortete darauf: "Das glauben wir nicht! Die ganze Verwaltungskorrespondenz ist durch ihre Hände gegangen, hier der Bedarf an Munition, dort der Bedarf an Brennstoff fürs Krematorium! Sie muss es gewusst haben! Und wenn sie es gewusst hat, und sich trotzdem nicht wegversetzen ließ oder gar Widerstand leistete, dann kann sie nicht behaupten, dass sie es nicht gewollt hat."

Was an und für sich auch plausibel ist.

Das LG Itzehoe hat deswegen die psychische Beihilfe bejaht, also geurteilt, dass sie

1. wusste, dass gemordet wird,
2. ihr das Morden mindestens egal war,
3. sie wusste, dass sie den Mördern half, und
4. es ihr mindestens egal war, dass sie den Mördern half.

Wobei es für das Helfen schon genügt habe, dass sie als Bürokraft dafür sorgte, dass die Lagerkommandantur bekam, was sie wollte und tun konnte, was sie wollte. Nur: Offenbar konnte F. keines der Dokumente, welches dieses Den-Laden-am-Laufen-Halten zeigen sollten, zweifelsfrei zugeordnet werden. Demnach hätte auch jemand anderes die Schriftstücke ausgefertigt haben können.

Das sind zwei widersprüchliche Feststellungen:

Einerseits gilt sie als wichtiges Rädchen im Getriebe.

Andererseits könnte das Rädchen unbemerkt nicht funktioniert haben, und man würde es nicht einmal merken.

Ehrlich gesagt, ich komme mit der Urteilsbegründung nicht ganz klar. Das Ergebnis halte ich für richtig, aber der Weg dorthin kommt mir seltsam vor. Ich verstehe schon, auch wenn ich anderer Meinung bin, warum z.B. @flavius-sterius findet, dass man sich hier extrem aus dem Fenster gelehnt hat, um den Schuldspruch zu erhaschen.
Da gehe ich nicht mit. Sie wäre einfach ausgetauscht worden und jemand anders wäre schuldig geworden.
Dann stellt sich freilich die Frage, worin die "Leistung" bestand, die F. für die Mordtat erbrachte.
 
Das man ihr kein Schriftstück zweifelsfrei persönlich zuordnen kann heißt aber auch nur, das wenn sie mal krank war jemand anderes auf ihrer Schreibmaschine für sie getippt hat.

Will heißen man kann von z.b. 3000 Schriftstücken annehmen, das 99% von ihr stammen. Ob ein bestimmtes von ihr stammt - das kann man nicht zweifelsfrei sagen, es könnte ja eines von den 1% sein.
 
Der Argumentation von Ravenik und Flavius Sterius, dass die Frau in der männerbündischen Welt aus Gewalt und Drill ja eh nichts zu sagen gehabt habe, kann ich mich nicht so ohne weiteres anschließen. Das klingt so ein bisschen, wie die altfeministische Betrachtungsweise von Frauen als Opfergruppe der Nazis, die eh nichts zu melden gehabt hatten. Dem ist aber nicht so.
Das habe ich so nicht gesagt. Ja, es gab auch Täterinnen wie KZ-Aufseherinnen, die Gefangene aktiv quälten, aktiv an ihrer Ermordung mitwirkten oder sie sogar selbst ermordeten. Das war aber (mehr oder weniger) ihre Aufgabe, ihre formale Funktion. Bei ihnen bestand ihre Schuld auch nicht darin, andere „bestärkt“ zu haben oder informell das Lager geleitet zu haben, sondern sie waren selbst unmittelbare Täterinnen.

Die Aufgabe einer Schreibkraft war das nicht. Frau F. wurde auch nicht angelastet, eigenhändig irgendjemanden misshandelt oder ermordet zu haben. Sie soll durch ihre Arbeit die Haupttäter „bestärkt“ haben. In der Diskussion hier wird zum Teil die Ansicht vertreten, sie habe informell eine weitaus stärkere Position innegehabt als es ihrer formalen Tätigkeit entsprach und das Lager administrativ quasi geleitet. Das ist es, was ich mit dem Verweis auf die „männerbündische Welt aus Gewalt und Drill“ bezweifle: Dass eine 18/19-jährige weibliche Schreibkraft in einer solchen Welt informell so viel Ansehen und Einfluss gewinnen konnte, dass sie gewissermaßen als Vorgesetzte und heimliche Lagerleiterin fungieren konnte.
 
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