Ich würde vermuten, dass dies einer um sich greifenden Vorstellung dieser Zeit entsprach, unabhängig von realen Gegebenheiten.
Das halte ich nicht für plausibel.
Wäre mir neu, dass Preußen nach dem Wiener Kongress oder Deutschland frisch nach der Reichsgründung 1871 aber vor der kolonialen Landnahme, auf Grund eines Mangels an Kolonien, der Status als Großmacht von irgnndwem, abgesprochen worden wäre.
Wären Kolonien eine absolute Notwendigkeit gewesen um ernst genommen zu werden, würde sich auch ein Bismarck weniger kolonialskeptisch verhalten haben und dann wäre Deutschland wahrscheinlich bereits früher zu Versuchen übergegangen Kolonien zu erwerben. Frankreich hatte man 1870/1871 klar besiegt, natürlich hätte man ihm im folgenden Friedensvertrag das eine oder andere Kolonialgebiet abnehmen können und wenn man das für die Untermauerung des eigenen Status als notwendig erachtet hätte, hätte man das wahrscheinlich auch getan.
Apropos kolonialskeptisches Verhalten.
Wenn der Besitz von Kolonien der Schlüssel für eine Anerkennung als Großmacht gewesen wäre, würde sich jetzt die Frage stellen, warum Österreich-Ungarn seinen Großmachtsstatus nicht einfach dadurch absicherte?
Ich frage deswegen, weil formal Österreich bereits 1870/1871 bis 1878 völlig ohne eigenen Spielplatz darstand.
Bis 1878 unterstanden die Donaufürstentümer inklusive Serbien (auch wenn die Dinge hier etwas komplizierter lagen, weil eine faktische Unabhängigkeit, gegeben war) offiziell noch dem Osmanischen Reich in einem entsprechenden Abhängigkeitsverhältnis.
Österreich hatte seinen italienischen Spielplatz 1867 verloren, seinen deutschen Spielplatz hatte es 1870/1871 verloren und dass auf dem Balkan in näherer Zukunft etwas gehen würde, war zu dem Zitpunkt noch nicht abzusehen.
Man sollte ja meinen, wenn es ohne abhängige Gebiete nicht ging hätten jetzt in Wien die Alarmglocken schrillen müssen und man hätte zwecks Erhalt des eigenen internationalen Ansehens als Großmacht versuchen müssen:
- Entweder einen Revanchekrieg zu versuchen und die Deutsche oder die Italienische Einigung rückgängig zu machen um hier neuerlich eine eigene Einflusszone zu etablieren. (Paris hätte bei dem Projekt wegen Elsass-Lothringen sicherlich gerne mitgezogen).
- Zu versuchen zeitnah auf Kosten des Osmanischen Reiches Gebiete auf dem Balkan in die eigene Hand zu bringen oder zumindest eine formale Oberhoheit der Donaumonarchie über diese anerkennen zu lassen. (Hier wäre man wahrscheinlich mit Russland ins Geschäft gekommen).
- Sich nach kolonialen Möglichkeiten in Übersee umzusehen. Denn der "run" auf Afrika, der hatte ja am Anfang der 1870er Jahre noch nicht begonnen. Folglich wäre es relativ einfach und verglichsweise günstig gewesen das eine oder andere Territorium in Afrika in die eigenen Hände zu bringen um über einen kolonialen Spielplatz dort den eigenen Platz am Tisch der Großmächte auf längere Zeit auch für den Fall weiterer außenpolitischer Misserfolge abzusichern.
Warum also passierte das nicht?
Warum sehen wir in den 1880er Jahren kein gesteigertes Interesse der Donaumonarchie in Afrika, obwohl nach den Misserfolgen der vergangenen 20 Jahre eine Konsolidierung der eigenen Großmachtsposition sicherlich auf der Prioritätenliste stand und der Erwerb afrikanischer Gebiete zwecks Kolonisation zunächst keine besondere Herausforderung dargestellt hätte?
Interessant ist, dass die Donaumonarchie nach dem spanisch-amerikanischen Krieg 1898 wohl die Gelegenheit hatte von Spanien dessen Kolonie "Rio de Oro" zu erwerben und auch in dieser Hinsicht verhandelte, das Abkommen dann aber am Veto des ungarischen Parlaments scheiterte, dass dagegen war.
Nun war ja die Zweischneidigkeit weiterer Balkanexpansionen hinsichtlich einer Schwächung des Osmanischen Reiches und damit einer potentiellen Stärkung der Balkanstaaten durchaus bekannt und damit hätte nochmals nahegelgen, sich überseeisch abzussichern, wenn man es denn für so wichtig gehalten hätte.
Wenn aber Kolonien und Einflussgebiete außerhalb des eigenen Territoriums für den Status als Großmacht das damals objektiv entscheidende Kriterium waren, dann hätten die Ungarn darum doch genau so wissen müssen, wie um die zunehmenden Probleme sich weiteren Einfluss am Balkan zu sichern ohne dabei das Osmanische Reich zu schwächen und unerwünschter Weise die Balkanstaaten zu stärken.
Ungarn war ja von eventuellen Territorialforderungen Serbiens und Rumäniens nicht minder, sondern eigentlich wahrscheinlich stärker bedroht, als die Österreichische Reichshälfte.
Warum verweigerte sich Budapest also der Anschaffung eines Ventils für expansive Energien Österreich-Ungarns in Übersee, wenn das doch so wichtig war und sorgte dafür, dass das einzige imperiale Spielfeld der Donaumonarchie der Balkan blieb, obwohl man genau wissen musste, dass es unmöglich sein musste hier Zugewinne zu haben ohne Gefahrenpotentiale durch die Erosion des Osmanischen Reiches herauf zu beschwören?
Die einzige Erklärung, die ich dafür sehe, ist, dass man das Ganze für so wichtig nicht hielt.
Ebenso hätte die Donaumonarchie in den 1870er Jahren die Möglichkeit gehabt einen Teil von Borneo in den eigenen Besitz zu bringen. Man verzichtete darauf.
en.wikipedia.org
Wenn wir einfach mal bei bei den realen Möglichkeiten bleiben, die Österreich-Ungarn in Sachen Spielplätzen außerhalb Europas hatte, ohne ins kontrafaktische zu gehen, dann besaß Österreich-Ungarn de facto eine, wenn auch bescheidene Konzession im Chinesischen Tijanjin, war damit in Ostasien/China vertreten und hätte die Möglichkeit gehabt sich Spielplätze in Westafrika und in Südostasien/Borneo zu kaufen.
Das wäre kein besonders beeindruckendes Empire gewesen und wirtschaftlich wahrscheinlich eher ein Klotz am Bein (das waren Bosnienn, die Herzegowina und die Balkanpolitik übrigens auch), wenn aber der Besitz eines Miniatur-Empires die notwendige Qualifikation für den dauerhaften Status einer Großmacht gewesen wäre, hätte die Donaumonarchie sich diesen Status relativ billig kaufen können.
Wenn also ein kleiner auswärtiger Spielplatz hingereicht hätte um als Eintrittskarte zum Club der Großmächte zu fungieren, warum erwarb man den nicht einfach da, wo es günstig unnd weitgehend risikolos war?
Wenn ein kleiner auswärtiger Spielplatz dafür hingegen nicht reichte, dann war dieser Status auch nicht durch ein Miniaturimperium im Westbalkan zu sichern und Österreich-Ungarns Außenpolitik dort wäre nicht nur gefährlich, sondern hinsichtlich der Zielsetzung auch inadäquat gewesen.
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Ich bleibe dabei:
a) Was Österreich im Westbalkan hatte, war nicht groß genug um unter den anderen Großmächten damit Eindruck zu schinden und wäre es selbst dann nicht gewesen, wenn Österreich eine dauerhafte Unterwerfung Serbiens hätte realisieren können.
b) Wenn man in der Donaumonarchie einhellig der Meinung gewesen wäre unbdingt irgendwo ein Mini-Empire haben zu müssen, weil das die Vereinsmitgliedschaft im Club der Großmächte voraussetze, hätte man sich bei Gelegenheit eines gekauft. Das man in Europa handlungs-/expansionstechnisch eingeschränkt war, war ja 1914 keine neuere Entwicklung, sondern das war seit über 40 Jahren der Fall und also hätte man über 40 Jahre Zeit gehabt sich irgendwo ein bescheidenes zweites Standbein zu beschaffen (die Gelegenheit war da) und dass möglicherweise sukkzessive etwas auszubauen.
c) Wenn irgenndwas das Ansehen der Donaumonarchie als Großmacht nachhaltig beschädigen musste, dann dass man sich in eine Rivalität mit Russland wegen des Balkans einließ, in der man allein offensichtlich keine Chance hatte und nur dann etwas erreichen konnte, wenn der "Große Bruder" in Berlin kräftig mithalf.
Das musste im übrigen Europa den Eindruck machen, dass wegen der Balkanpolitik Wien Berlin gegenüber verpflichtet sei und sich von Berlin auch nicht mehr würde lösen und eigenständig aggieren können.
Oder überspitzt gesagt: Das Wien die eigene außenpolitische Unabhängigkeit und Handlungsfähigkeit um der Beherrschung einiger wirtschaftlich größtenteils uninteressanter und rückständiger Gebiete im Westbalkan, an Deutschland verschachert habe.
Hätte Wien auf diese Politik, zu versuchen sich mit von Deutschland geliehenen Mitteln ein Mini-Imperium aufzubauen verzichtet und stattdessen dort vor sich hingewurstelt, wo es das aus eigener Kraft heraus konnte, oder hätte es das einfach völlig bleiben lassen, wäre es nicht in den Ruf gekommen, von berlin abhängig zu sein.
Und das hätte wahrscheinlich dem Großmachtsprestige der Donaumonarchie weit weniger geschadet.
Entscheidender als irgendwelche Positionen zu besitzen, dürfte für den Großmachtsanspruch sein, sie ohne fremde Hilfe behaupten zu können und daher nicht abhängig zu sein.