Kalkriese als Ort der Varusschlacht zweifelhaft

Dazu bringt Pattern mehrere Beispiele aus verschiedenen Ecken über das "Stochern" im Nebel, Irrtümer, nachträgliche geographische Korrekturen der Geschichtsschreiber etc. Dort ist ein gesondertes Kapitel zu den geographischen Problemen von Kampagnen enthalten.

Dass "gesammelte" Informationen auf dem Feldzug dabei waren, auch Geographen, lässt sich wohl anhand der Quellen in Einzelfällen belegen.

Wie sich das auswirkte, welche Qualität das hatte, ist wohl wenig erforscht?

Die Literatur von Dir kenne ich nicht, den dortigen Grundtenor des "Stocherns im Nebel" kann ich mir aber höchstens bei den ersten Feldzügen des Drusus und Tiberius vorstellen. Wenn man das was zur fraglichen Zeit bei den Geographen über Germanien steht (Strabo) als Maßstab für die Orientierungsfähigkeit auf den Feldzügen nimmt, dann muß man sich in der Tat fragen wie die oben genannten koordinierten Operationen gelingen konnten. Hinzufügen zu dieser Liste möchte ich aber noch die riesige Zangenoperation gegen Marbod im Jahre 6. Zwei Heeresgruppen über ca. 800km Luflinie hinweg durch unbekanntes(?) Terrain auf das gleiche Ziel zu steuern ist eine ungeheure Leistung für diese Zeit.
Deswegen glaube ich, daß die Römer wie immer auch hier einen vielleicht heute nicht mehr zu rekonstruierenden erfolgreichen Weg zur Orientierung gefunden haben.

Eine Lösungsmöglichkeit wäre das Vertrauen auf ortskundige Führer. Das wird in der Anabasis beim Zug der 10.000 z.B. immerwieder so beschrieben.
Bei Plinius wird bei den aussergewöhnlichen Leistungen der Gewaltritt des Tiberius ans Sterbebett seines Bruders erwähnt. Obwohl Tiberius eigentlich nur der Nachschublinie zum Sommerlager hätte folgen können, vollbrachte er diese Reise nur in Begleitung eines germanischen Führers.

Wie auch immer, ein sehr grosses Interesse an Geographie ist für diese Zeit allemal ablesbar. Sie gipfelt in dieser Zeit sicherlich mit der öffentlichen Ausstellung der Weltkarte des Agrippa in Rom.


Gruss
jchatt
 
Also das Wolters von einer Trennung des Heeres durchaus schon östlich der Ems für möglich hält, ist mir bekannt. Allerdings frage ich mich, wie er (Wolters) dies begründet. Vieleicht kann da jemand nähere Informationen geben.

Das Tacitus zumindest Ems und Weser "verwechselt" haben könnte ist durchaus möglich. Brepohl hat das durchaus nachvollziehbar begründet.
Hatten wir aber auch schon einmal irgendwo. Ich muß das mal wieder nachschlagen...:grübel:
 
Zuletzt bearbeitet:
Eigentlich ist sogar, wenn man annimmt, dass Tacitus sich tatsächlich mit Weser und Lippe vertan hat, es also heißen müsste

Tac. ann. I schrieb:
Dann führte er sein Heer weiter bis zu der äußersten Grenze der Bructerer, und das ganze Gebiet zwischen den Flüssen Amisia und *WESER*, nicht weit entfernt vom Teutoburger Wald, in dem, wie es hieß, die Überreste des Varus und seiner Legionen unbegraben lagen, wurde verwüstet.

die Position für Kalkriese als Kandidaten der Varusschlacht noch deutlich gestärkt, weil dann das haud procul-Problem nicht mehr gegeben wäre.
Für die pontes longi bleibt nach wie vor klar, dass Germanicus - wie in Tac. ann. I, 63, 3 beschrieben - das Heer an die Ems zurückführte ("reducto ad Amisiam exercitu") dort dann das Heer aufspaltete: "legiones classe [...] reportat, pars equitum litore Oceani petere Rhenum iussa; Caecina, qui suum militem ducebat, monitus, quamquam notis itineribus regrederetur, pontes longos quam maturrime superare.
ÜS: "Die Legionen führte er [...] mit der Flotte zurück, einem Teil der Reiter befahl der Küste entlang dem Rhein zuzustreben; Caecina, der seine Soldaten führte, wurde gemahnt, obwohl er auf bekannten Wegen zurückkehre, die langen Brücken eiligst (maturrime) hinter sich zu bringen."



*Der Asterisk vor Weser steht dafür, dass das Wort an dieser Stelle im überlieferten Text eigentlich nicht steht, sondern Lippe, der Asterisk hinter Weser steht als Hinwies auf genau diese Fußnote. :rofl:
 
Eigentlich ist sogar, wenn man annimmt, dass Tacitus sich tatsächlich mit Weser und Lippe vertan hat, es also heißen müsste



die Position für Kalkriese als Kandidaten der Varusschlacht noch deutlich gestärkt, weil dann das haud procul-Problem nicht mehr gegeben wäre.
Für die pontes longi bleibt nach wie vor klar, dass Germanicus - wie in Tac. ann. I, 63, 3 beschrieben - das Heer an die Ems zurückführte ("reducto ad Amisiam exercitu") dort dann das Heer aufspaltete: "legiones classe [...] reportat, pars equitum litore Oceani petere Rhenum iussa; Caecina, qui suum militem ducebat, monitus, quamquam notis itineribus regrederetur, pontes longos quam maturrime superare.
ÜS: "Die Legionen führte er [...] mit der Flotte zurück, einem Teil der Reiter befahl der Küste entlang dem Rhein zuzustreben; Caecina, der seine Soldaten führte, wurde gemahnt, obwohl er auf bekannten Wegen zurückkehre, die langen Brücken eiligst (maturrime) hinter sich zu bringen."

Was soll dann z.B. dieses seltsame Manöver die Reiterei vom Emstreffpunkt die Küste entlang zum Rhein zu schicken? Von einem hypothetischen Treffpunkt an der Ems (Rheine?) ist der kürzeste Weg ein ganz anderer.
Verlegt man den Aufspaltungsort an die Emsmündung, dann liegt er schon direkt gegenüber den Friesen/Chauken, dort wäre Caecina also schon sicher gewesen, abgesehen davon, dass es von dort aus bis zum Rhein kein Gebiet mehr gibt, das er hätte durchqueren müssen und das den Beschreibungen der Pontes Longi entspricht. Jedenfalls fehlt es in der Literatur seltsamerweise an plausiblen Lokalisierungen für diese Schlacht zwischen Ems und Lippe. Wie so oft wird das in eine Black-Box gepackt und beiseite geschoben.

Erwähnenswert in diesem Zusammenhang ist, daß die Textstelle über den Schiffbruch an der Wesermündung offenbar an der Stelle des Flussnamens korrupt(?) ist. Jedenfalls ist der Name bei LatinLibrary in [] gesetzt.

[70] At Germanicus legionum, quas navibus vexerat, secundam et quartam decimam itinere terrestri P. Vitellio ducendas tradit, quo levior classis vadoso mari innaret vel reciproco sideret. Vitellius primum iter sicca humo aut modice adlabente aestu quietum habuit: mox inpulsu aquilonis, simul sidere aequinoctii, quo maxime tumescit Oceanus, rapi agique agmen. et opplebantur terrae: eadem freto litori campis facies, neque discemi poterant incerta ab solidis, brevia a profundis. sternuntur fluctibus, hauriuntur gurgitibus; iumenta, sarcinae, corpora exanima interfluunt, occursant. permiscentur inter se manipuli, modo pectore, modo ore tenus extantes, aliquando subtracto solo disiecti aut obruti. non vox et mutui hortatus iuvabant adversante unda; nihil strenuus ab ignavo, sapiens ab inprudenti, consilia a casu differre: cuncta pari violentia involvebantur. tandem Vitellius in editiora enisus eodem agmen subduxit. pernoctavere sine utensilibus, sine igni, magna pars nudo aut mulcato corpore, haud minus miserabiles quam quos hostis circumsidet: quippe illic etiam honestae mortis usus, his inglorium exitium. Iux reddidit terram, penetratumque ad amnem [Visurgin], quo Caesar classe contenderat. in positae dein legiones, vagante fama submersas; nec fides salutis, antequam Caesarem exercitumque reducem videre."

Dort ist also definitiv etwas faul. Selbst wenn man dort [Amisiam] annimmt, lösen sich die Ungereimtheiten nicht vollständig auf.

Gruß
jchatt
 
Die Reiterei könnte als Flankenschutz der Flotte gedient haben, oder um die Bündnistreue der Chauken und Friesen - "seht her, wir sind siegreich aus dem Feldzug zurückgekommen" - zu sichern. Die Landung an der Emsmündung ist ein Jahr später und führt zu einer mittleren Katastrophe (die Ems überquerende Truppen ertrinken in der in die Flussmündung aus dem Meer hineinströmenden Flut).
Was du für das katastrophale Ereignis der Sturmflut 15 übersiehst, ist, dass mehrfach (3x) von der Ems die Rede ist (als Treffpunkt, wie als Punkt der Heeresaufspaltung, einmal als Referenz mit der Lippe als verheertes Gebiet) aber nur einmal von der Weser, wo Germanicus sich plötzlich mit der Flotte befunden haben soll. Es dürfte doch wesentlich wahrscheinlicher sein, dass Tacitus hier seinen Fehler beging, zumal ja sonst Caecina bis zur Weser hätte marschieren müssen, um sich mit Germanicus zu treffen. Des Weiteren ist der Fluss an dieser Stelle in allen Editionen in eckigen Klammern angegeben. Nach dem in der Altphilologie verwendeten Leidener Klammersystem ist er also rekonstruiert weil die Textstelle nicht sicher lesbar war.
Was auch denkbar wäre - was ich allerdings selbst nicht für allzu wahrscheinlich halte, weil die Truppen des Vitellius das wohl kaum überstanden hätten, einige haben ja die Sturmflut überlebt - wäre, dass sie im Rahmen der Sturmflut bis an die Wesermündung gelangt wären. Für die Schiffe wäre das einigermaßen denkbar, für die im Watt marschierenden Soldaten des Vitellius eher nicht. Schließlich wird die Weser erst nach der Sturmflut genannt.
 
Wie war denn der Küstenverlauf zwischen Weser und Ems so um Christi Geburt??
Ich kann dazu nichts gescheites finden.
 
Was du für das katastrophale Ereignis der Sturmflut 15 übersiehst, ist, dass mehrfach (3x) von der Ems die Rede ist (als Treffpunkt, wie als Punkt der Heeresaufspaltung, einmal als Referenz mit der Lippe als verheertes Gebiet) aber nur einmal von der Weser, wo Germanicus sich plötzlich mit der Flotte befunden haben soll. Es dürfte doch wesentlich wahrscheinlicher sein, dass Tacitus hier seinen Fehler beging, zumal ja sonst Caecina bis zur Weser hätte marschieren müssen, um sich mit Germanicus zu treffen. Des Weiteren ist der Fluss an dieser Stelle in allen Editionen in eckigen Klammern angegeben. Nach dem in der Altphilologie verwendeten Leidener Klammersystem ist er also rekonstruiert weil die Textstelle nicht sicher lesbar war.

Gibt es irgendwo eine digitalisierte Fassung von der entsprechenden Textstelle der Annalen?

Da ich gerade bei Pattern blättere: ist eine Abtrennung sinnvoll?

Geographie und Orientierung in der Römischen Armee?

Das würde ich befürworten. Aber vielleicht nicht nur auf die Armee bezogen, sondern überhaupt in der Antike.
 
Was du für das katastrophale Ereignis der Sturmflut 15 übersiehst, ist, dass mehrfach (3x) von der Ems die Rede ist (als Treffpunkt, wie als Punkt der Heeresaufspaltung, einmal als Referenz mit der Lippe als verheertes Gebiet) aber nur einmal von der Weser, wo Germanicus sich plötzlich mit der Flotte befunden haben soll. Es dürfte doch wesentlich wahrscheinlicher sein, dass Tacitus hier seinen Fehler beging, zumal ja sonst Caecina bis zur Weser hätte marschieren müssen, um sich mit Germanicus zu treffen. Des Weiteren ist der Fluss an dieser Stelle in allen Editionen in eckigen Klammern angegeben. Nach dem in der Altphilologie verwendeten Leidener Klammersystem ist er also rekonstruiert weil die Textstelle nicht sicher lesbar war.

Eine einfache Verschreibung oder ein Versehen des Tacitus halte ich deshalb auch für eher unwahrscheinlich. Meine Überlegungen gehen deshalb eher in Richtung einer vorsätzlichen nachträglichen Fälschung der Tacitus-Handschrift.
Wäre doch möglich, schließlich wurde die Handschrift in den Fälscherzentren Corvey und Fulda entdeckt, und sollte es die Intention der hypothetischen Fälscher gewesen sein, die Rekonstruktion der Schlachtorte aus dem Text zu erschweren, dann waren sie sicherlich erfolgreich ;-)

Wie war denn der Küstenverlauf zwischen Weser und Ems so um Christi Geburt??
Ich kann dazu nichts gescheites finden.

Zur Küstenlinie der fraglichen Zeit halten sich die Archäologen bewusst zurück. Die Unwägbarkeiten und die verändernde Kraft der Nordsee sind auf so lange Zeit nicht zuverlässig berechenbar. Als Anhaltspunkt kann man evtuell die heutige 5m Höhenlinie nehmen, die an der Kanalküste wohl einigermaßen korrekt als Küstenlinie für diese Zeit identifiziert wurde.
Zumindest für die Niederlande wurde das dann hier versucht:
Trans- en regressies

Gruß
jchatt
 
Eine einfache Verschreibung oder ein Versehen des Tacitus halte ich deshalb auch für eher unwahrscheinlich. Meine Überlegungen gehen deshalb eher in Richtung einer vorsätzlichen nachträglichen Fälschung der Tacitus-Handschrift.
Wäre doch möglich, schließlich wurde die Handschrift in den Fälscherzentren Corvey und Fulda entdeckt, und sollte es die Intention der hypothetischen Fälscher gewesen sein, die Rekonstruktion der Schlachtorte aus dem Text zu erschweren, dann waren sie sicherlich erfolgreich ;-)
Gruß
jchatt

Und warum hätte im 9. Jahrhundert jemand das fälschen sollen? Nur um nachfolgende Generationen in die Irre zu leiten? Möglich wären vielleicht Schreibfehler bei einem übermüdeten Kopisten, aber eine vorsätzliche Fälschung bezweifle ich.

hier ist einiges zur Geschichte des Manuskripts:
Tacitus and his manuscripts (englisch)

Die Annalen des Tacitus haben übrigens nur in einem einzigen Exemplar die Jahrhunderte überlebt (na ja, vielleicht wird noch aus einer antiken ägyptischen Mülldeponie ein weiteres Exemplar "zusammengepuzzelt").

Wieso sind Corvey und Fulda Fälscherzentren?
 
Und warum hätte im 9. Jahrhundert jemand das fälschen sollen? Nur um nachfolgende Generationen in die Irre zu leiten? Möglich wären vielleicht Schreibfehler bei einem übermüdeten Kopisten, aber eine vorsätzliche Fälschung bezweifle ich.

Wieso sind Corvey und Fulda Fälscherzentren?

Nehmen wir z.B. Rudolf von Fulda. Über den verlinkten wohlwollenden Wiki-Artikel hinausgehend schreibt Springer :
>> Rudolf "von Fulda", dessen Geburtsjahr vor 800 angesetzt wird, ist eine ziemlich gut fassbare Persönlichkeit des 9. Jhs. Unter anderem hat er sich als Urkundenfälscher betätigt, was für die weitere Betrachtung nicht ganz nebensächlich ist<<

Es folgt eine mehrere Seiten lange Argumentation darüber wie Rudolf die für sein Kloster wichtige Unstrutgrenze dadurch zu legitimieren versucht, dass er ihre Definition einem lange zurückliegenden und nicht weiter belegten gemeinsamen Feldzug von Franken und Sachsen gegen das Thüringerreich zuschreibt.
Weiterhin stellt Springer heraus, daß detaillierte Ortsangaben in diesem Kontext ein wichtiges Merkmal dieser Fälschungen sind, in denen es hauptsächlich um Besitzansprüche geht.
Wir hätten also hier einen erwiesenen Fälscher mit Affinität zu detaillierten Ortsangaben, der nachweislich sogar den Tacitus(Germania) in seinen Arbeiten benutzte. In diesem Zusammenhang könnte also möglicherweise eine hypothetische Manipulation der Ortsangaben im Tacitus stehen.

Gruss
jchatt
 
Gibt es irgendwo eine digitalisierte Fassung von der entsprechenden Textstelle der Annalen?

Hallo Carolus,


hier hast du die gewünschte digitale Version der Textstellen. . .

Tac. ann. I, 60
http://teca.bmlonline.it/TecaFrontEnd/servlet/readImg?RisIdr=TECA0000806240

Tac. ann. I, 70
http://teca.bmlonline.it/TecaFrontEnd/servlet/readImg?RisIdr=TECA0000806247

Tac. ann. I, Rest von 70 und 71
http://teca.bmlonline.it/TecaFrontEnd/servlet/readImg?RisIdr=TECA0000806248

Die roten Zahlen recht oder links neben dem Text kennzeichnen den Beginn des jeweiligen Abschnitts und ElQ's Weser in [] Klammern befindet sich in Zeile 6 von Oben gleich am Zeilenanfang(dritter Link).



MfG, Lucio Cinico!
 
Nehmen wir z.B. Rudolf von Fulda. Über den verlinkten wohlwollenden Wiki-Artikel hinausgehend schreibt Springer :
>> Rudolf "von Fulda", dessen Geburtsjahr vor 800 angesetzt wird, ist eine ziemlich gut fassbare Persönlichkeit des 9. Jhs. Unter anderem hat er sich als Urkundenfälscher betätigt, was für die weitere Betrachtung nicht ganz nebensächlich ist<<

Es folgt eine mehrere Seiten lange Argumentation darüber wie Rudolf die für sein Kloster wichtige Unstrutgrenze dadurch zu legitimieren versucht, dass er ihre Definition einem lange zurückliegenden und nicht weiter belegten gemeinsamen Feldzug von Franken und Sachsen gegen das Thüringerreich zuschreibt.
Weiterhin stellt Springer heraus, daß detaillierte Ortsangaben in diesem Kontext ein wichtiges Merkmal dieser Fälschungen sind, in denen es hauptsächlich um Besitzansprüche geht.
Wir hätten also hier einen erwiesenen Fälscher mit Affinität zu detaillierten Ortsangaben, der nachweislich sogar den Tacitus(Germania) in seinen Arbeiten benutzte. In diesem Zusammenhang könnte also möglicherweise eine hypothetische Manipulation der Ortsangaben im Tacitus stehen.

Gruss
jchatt

Ich kenne jetzt das Werk von Springer nicht (könntest Du dazu bitte die bibliographischen Daten auch noch nennen, im Wiki-Artikel ist er nicht erwähnt), aber ich vermute, dass die erwähnte Fälschung doch einen praktischen Zweck für das Kloster hatte (ich vermute einfach, dass es um Besitzverhältnisse und damit Vorteile für das Kloster ging). Einen solchen Zweck einer vorsätzlichen Manipulation kann ich mir für das 9. Jhdt. bei der Beschreibung eines Feldzuges des 1. Jhdts. nicht vorstellen. Welcher sollte das sein? Sollte wirklich der Tacitus-Text verfälscht sein, könnte ich mir am ehesten einen übermüdeten Kopisten vorstellen, der mit den Flußnamen durcheinander geraten ist. Aber auch dies ist Spekulatius meinerseits.

Sofern nicht eine von dem Corvey-Tacitus-Text unabhängige Annales-Fassung noch irgendwo auftaucht, werden wir da wohl nicht weiterkommen. Hoffnungen auf die lateinische Bibliothek in der http://www.geschichtsforum.de/f28/villa-dei-papiri-15092/ brauchen wir allerdings nicht zu setzen, es sei denn jemand hätte den Tacitus dort nach dem Vesuvausbruch deponiert...:rofl: Vielleicht findet sich aber dort anderes an Literatur zu dem Thema.

Vielleicht solle ich mal in meine Fälscherwerkstatt gehen und da nachsehen, ob da noch ein Tacitus herumliegt...:devil:
 
Jchatt, du hast den Zweck der mittelalterlichen Urkundenfälschung nicht verstanden.

Schaun wir mal.
Wie der Wiki-Artikel zeigt, hatte Rudolf keine Hemmungen die Ausführungen des Tacitus über die Germanen auf seine "Lebensweise der Sachsen" zu übertragen.
Die Geschichte mit der Unstrutgrenze zeigt wie er Schlachten dazu benutzte Besitzansprüche zu legitimieren. Das wirkt natürlich um so glaubhafter, wenn es zur erfundenen Schlacht noch latente Erinnerungen in der lokalen Bevölkerung an eine reale Auseinandersetzung gibt, oder sogar noch regelmässig Relikte diverser Kämpfe hochgepflügt wurden.

Was wäre also, wenn er nicht nur die Lebensweise der Sachsen aus der Germania entlehnt hat, sondern sich auch noch für seine Fälschungen an den Schlachtorten der Germanenkriege bedient hat.
In diesem Fall wären antike Originalmanuskripte, die auf die selben Lokalitäten verwiesen hätten verräterisch gewesen. Dann hätte er auch noch die Vorlage entweder verschwinden lassen oder eben "anpassen" müssen .

Gesucht wird also ein zu Rudolf zeitnahes karolingisches Dokument aus dem Umfeld besagter Klöster deren Handlung eine frapierenden Parallelität zu den Geschehnissen der Germanenkriege aufweist, dass die von Springer erwähnten Merkmale von Fälschungen aufweist (detaillierte Angaben zu Ort und Besitzverhältnissen/-übergängen), und deren Lokalitäten exakt im selben Gebiet wie die römisch-germanischen Auseinandersetzungen liegen.

Gruß
jchatt
 
Zuletzt bearbeitet:
Dazu nur zwei Dinge. Dass im MA gefälscht wurde, ist völlig klar. Nur hat man sich das nicht so kompliziert gemacht, wie du dir das vorstellst.
Es gab im Mittelalter zwei Gründe zu fälschen, der eine davon stellt eigentlich keine richtige Fälschung dar, aber ich subsumiere ihn mal.
1.) Knallharte wirtschaftliche Interessen, v.a. Landbesitz. Hier haben wir die Urkundenfälschung und Interpolation. Also neue Urkunden wurden geschrieben und am liebsten Karl dem Großen untergejubelt oder ihr Text verändert (Verunechtung).
2.) V.a. im Investiturstreit. Man hat gerne historische Ereignisse verwendet, um sie als Argumente für Kaiser/Papst heranzuziehen. Das witzige dabei: Die gegnerischen Parteien beriefen sich allzuoft auf dieselben Quellen und sogar dieselben Passagen, die sie einfach anders interpretierten.

Was nun die von dir unterstellte Veränderung angeht, so bleibt der Befund 3:1, also drei Mal Ems, einmal Visurgis. Es bleibt das Problem, dass Caecina ja zu einem Ort marschieren musste an dem er sich mit Germanicus treffen konnte und dass Germanicus sicher nicht umsonst mit acht Legionen ins Feld zog, also sich mit vier Legionen vielleicht nicht so sicher fühlte in einem Land, in dem wenig Jahre zuvor drei Legionen plus Auxiliareinheiten und Vexillationen aufgerieben wurden. Sprich: der Treffpunkt wird nicht so tief im Feindesland gelegen haben, dass man es als Risiko ansah (wie die Schlacht an den pontes longi zeigt aber trotzdem noch eine Fehleinschätzung, die im darauffolgenden Jahr korrigiert wurde, indem man direkt mit der gesamten Streitmacht zur Ems fuhr (Tac. ann. II, 8) und sie auf dem Anmarsch eben nicht teilte. Erst auf dem Rückmarsch, nach zwei gewonnenen Schlachten gegen Arminius (Angrivarier-Wall und Idistaviso) traute man sich wieder einen Teil der Armee über Land marschieren zu lassen (Tac. ann. II, 23).

Aus der Tacitus-Stelle geht - um eine hypothetische Fälschung derselben zu rechtfertigen unabdingbar - keinerlei Anspruch für die Klöster Fulda oder Corvey hervor. Wozu also hätte ein Ereignis, welches in der mittelalterlichen Historiographie, mit Ausnahme einer Stelle bei Otto von Freising, der Varus nicht Varro unterscheiden konnte und verschiedene Ereignisse in einen Topf wirft, keinerlei Niederschlag hinterlassen hat, gefälscht werden sollen, wo es doch keinen Grund für die Fälschung gab bzw. kein Nutzen daraus gezogen werden konnte?

Es wäre also nun an dir zu beweisen, dass es aus den Klöstern Corvey oder Fulda Urkunden gibt, die sich auf dieses Ereignis beziehen. Ich kann dir jetzt allerdings schon verraten, dass es sie nicht gibt bzw. dass sie noch nicht entdeckt worden sind.

Edit: Doch noch was:

Schaun wir mal.
Wie der Wiki-Artikel zeigt, hatte Rudolf keine Hemmungen die Ausführungen des Tacitus über die Germanen auf seine "Lebensweise der Sachsen" zu übertragen.

Das ist typisch für mittelalterliche Historiographie, bzw. für mittelalterliches Geschichts-un-bewusstsein, hat also nichts mit Hemmungslosigkeit zu tun. Man hat, selbst wenn man es aus eigener Anschauung besser hätte wissen können, wiedergegeben, was "die Alten" geschrieben haben. Hans-Werner Goetz spricht vom "entzeitlichten Geschichtsbewusstsein". Auch Widukind von Corvey bezieht die von Flavius Josephus überlieferte Rede des Agrippa über die Germanen (gemeint waren wahrscheinlich tatsächlich die Schlachten der Jahre 9 - 16) auf die Sachsen - was auch interessant ist: Er hätte doch für seine Sachsengeschichte viel besser auf Tacitus zurückgreifen können....
 
Zuletzt bearbeitet:
Sofern nicht eine von dem Corvey-Tacitus-Text unabhängige Annales-Fassung noch irgendwo auftaucht, werden wir da wohl nicht weiterkommen. Hoffnungen auf die lateinische Bibliothek in der http://www.geschichtsforum.de/f28/villa-dei-papiri-15092/ brauchen wir allerdings nicht zu setzen, es sei denn jemand hätte den Tacitus dort nach dem Vesuvausbruch deponiert...:rofl: Vielleicht findet sich aber dort anderes an Literatur zu dem Thema.

Beides eher unwahrscheinlich. Die meisten mittelalterlichen HSS sind geborgen, es finden sich hin und wieder bei Buchrestaurierungen mittelalterlicher Folianten Fragmente alter HSS die zum Einbinden der Bücher verwendet wurden. Was die Hoffnungen auf die hypothetische lateinische Bibliothek in der herculaneischen Villa angeht, so ist auch hier - sofern sie existiert und die dortigen Schriftrollen ähnlich - den Umständen entsprechend - gut erhalten sind, wie bei der griechischen Bibliothek, so ist doch wohl leider zu erwarten, dass es sich ebenfalls um eine philosophische Spezialbibliothek handelt.

Aber noch mal zurück zum Fuldarer Tacitus-Text und Rudolfs Fälschungen. Rudolf wurde um 800 geboren. Die Fuldarer HS der Annalen muss aber recht früh im 9. Jahrhundert entstanden sein, wenn sich den Text mal ansieht, denn es findet sich ein Nebeneinander des karolingischen <a> mit dem leicht mit einem <u> zu verwechselnden cc-<a>.
Sprich: Der Kopist dieser HS hat zwar schon die karolingische Schriftreform mitgemacht, aber vor dem Eintreffen dieser in seinm Kloster Schreiben gelernt. Bei Rudolf sollte man davon ausgehen, dass sich keine cc-<a> mehr in seinen Handschriften finden. Als Beispiel für dieses Nebeneinander von postschriftreformaorischen karolingischen <a> und präschriftreformatorischen cc-<a> habe ich mal das Wort Caesar aus dem Text extrahiert:
Tac. ann. II, 70 HS Fulda caesar.png
Ich schreibe das cc-<a> jetzt mal der Einfachheit halber als Alpha:
caesαr
Um den Unterschied zwischen <v/u> und dem cc-<a> zu illustrieren habe ich das Wort cuncta ausgewählt:
Tac. ann. II, 70 HS Fulda cuncta.png
Wie deutlich zu erkennen ist, sind die Schäfte des cc-<a> oben leicht nach rechts gebogen, wohingegen der erste Schaft des <v/u> einen Ansatz oben links hat, der zweite Schaft aber vollkommen gerade ist.
Als Rudolf seine Fälschungstätigkeit aufnahm, dürfte dieses Durcheinander von neuem karolingischem <a> und altem cc-<a> längst Vergangenheit gewesen sein.
 
Es wäre also nun an dir zu beweisen, dass es aus den Klöstern Corvey oder Fulda Urkunden gibt, die sich auf dieses Ereignis beziehen. Ich kann dir jetzt allerdings schon verraten, dass es sie nicht gibt bzw. dass sie noch nicht entdeckt worden sind.

Ich denke beweisen kann man in dieser Sache nichts. Auch Springer führt gegen Rudolf nur Indizien an.
Von den Fälschungskategorien die Du mir zur Auswahl gibst nehme ich für meine Verschwörungstheorie :red: die Erste. Die Texte die in diese Gruppe zu passen scheinen und die den oben herausgestellten Grundvoraussetzungen am Ehesten entsprechen sind meiner Meinung nach die "Annales regni Francorum" und innerhalb dieser Dokumente die Ausführungen über die Sachsenkriege.
Es ist sicherlich keine Besitzurkunde im eigentlichen Sinne, trotzdem traue ich diesem Dokument zu, bei der Durchsetzung von Besitz-/Herrschaftsansprüchen in Norddeutschland eine Rolle gespielt zu haben.

Parallelität
Isoliert man aus den Annales die Erzählungen über die Sachsenkriege von KdG und stellt sie den Geschehnissen der Germanenkriege gegenüber ergeben sich folgende Parallelen.


  • Die Dauer der Auseinandersetzungen ist zeitlich ähnlich, Sachsenkriege 32 Jahre
    Germanenkriege von Drusus bis Germanicus 27 Jahre
  • Die Ausgangsbasen/Siedlungsräume der Kontrahenten sind identisch:
    Norddeutschland für die Sachsen/Germanen
    Das linksrheinische Gebiet für die Römer/Franken
  • Der Verlauf des Krieges ist in beiden Auseinandersetzungen gleich und folgt dem Muster: Unterwerfung und Stellung von Geiseln -> Abfall ->Erneute Unterwerfung -> Abfall ...
  • Die Lippelinie wird in beiden Fällen als Vormarschtrasse genutzt. Die Quellen der Lippe werden als Platz zum Überwintern und zum Abhalten von Reichstagen(für Anreppen von mir vermutet) gewählt.
  • Verlust eines fränkischen Heeres bei Rüstringen(Wesermündung) Grosse Verluste des Germanicus in der Wesermündung durch Unwetter
  • Karl bricht wegen der Niedermetzelung eines fränkischen Heeres durch aufständische Sachsen seinen Pannonienfeldzug ab.
    Tiberius beendet den Pannonienfeldzug. Zur gleichen Zeit Verlust der Varuslegionen in Germanien.
  • Karl führt eine Expedition an die Elbe und trifft dort mit einer friesischen Flotte zusammen.
    Tiberius führt einen kombinierten Feldzug von Heer und Flotte an die Elbe.
  • Karl zerstört das sächsiche Irminsul Heiligtum
    Die Römer zerstören das germanische Tamfana Heiligtum
  • Die Franken stellen und schlagen fliehende Sachsen an der Adrana
    Germanicus schlägt die Chatten an der Adrana die über den Fluss fliehen.
  • Germanicus läßt wegen der Trockenheit die Brücken bei den Chatten vorsorglich über die ausgetrockneten Flussbetten bauen.
    Den Franken geschieht ein Wasserwunder nach Trockenheit im Gebiet der Chatten.
Nur unter der Prämisse, daß bei Kalkriese die Schlacht an den pontes Longi stattgefunden hat, ergeben sich weitere Parallelen:

  • Römische Schlachten sind in Kalkriese nachgewiesen und wurden in früherer Zeit bei Detmold vermutet.
    Karl der Grosse schlug selbst zwei Schlachten gegen die Sachsen. In Detmold und an der Hase(Nahe Osnabrück) Hier könnte also die Schlacht aus dem Notlager des Caecina gemeint sein, dass dann westlich von Kalkriese zu vermuten ist.
  • Der Ort der Varusschlacht wäre demnach östlich von Kalkriese bis zur Weser zu vermuten.
    Bei Lübbecke schleichen sich Sachsen mit Feuerholz sammelnden Franken in das fränkische Lager und metzeln viele Gegner nieder.(Hier könnte Florus grüßen!)
(Es gibt seltsamerweise weitere karolingische Schlachten die man geographisch mit früheren (spät)antiken Schlachten in Verbindung bringen kann. Z.B. die Schlacht bei Poitiers und die frühere Schlacht bei vouille.)

Ortsnennungen
Obwohl die Handlungen sich teilweise bis in absurde Details ähneln gibt es gravierende Unterschiede bei der Nennung der Handlungsorte. Während um die Lokalisierung von Schlachten der Römer trotzt archäologischer Funde bis heute grösstenteils fruchtlos gestritten wird, geben die Annalen für jede Handlung meistens sogar einen noch heute existierenden Ort an. Man hat sogar den Eindruck als wenn die Autoren akribisch darauf geachtet haben daß kein Zweifel besteht, wo die entsprechende Handlung stattgefunden hat. Der letzte Autor der Annalen, wegen seiner Finsternisberichte Astronomikus genannt wollte möglicherweise sogar noch detaillierter sein. In dem ihm zugeschriebenen Zeilen existieren vier Textstellen in denen offenbar genau ein Ortsname fehlt.
Archäologische Funde dieser sächsisch-fränkischen Auseinandersetzungen gibt es meines Wissens übrigens nicht.

Besitzverhältnisse
Da Karl die Sachsenkriege gewonnen hatte, könnte eigentlich schon ein hinreichender Besitzanspruch auf sächsisches Gebiet entstanden sein. Für das Jahr 777 wird aber noch einmal explizit erwähnt, daß sich die Sachsen mit all ihrem Besitz als Pfand unterwarfen. Die unweigerlich darauf erfolgte erneute Erhebung wird aber dann alle Unklarheiten im Sinne der hypothetischen Fälscher beseitigt haben.

Fazit
Die Nutznießer dieser karolingischen Fälschungen waren zumeist die aufstrebenden Klöster. Sollte der Einfluß dieser klerikalen Wirtschaftsunternehmen in Norddeutschland auf der erlogenen Legitimation durch die Eroberungen Karls des Großen gefusst haben, dann wäre womöglich ein am Vorabend der Reformation bei seiner Wiederentdeckung unverfälschter Tacitus, der diese Manipulation offensichtlich gemacht hätte, ein macht- und wirtschaftspolitischer Störfaktor gewesen. Witzigerweise wurde er dann auch bald vom vermeintlichen Nutzniesser(Vatikan) entführt und nach einer (Überarbeitungs:still:)Zeit der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.


Schlussbetrachtung
Aber wie Du schon sehr richtig festgestellt hast, kenne ich mich mit den Problematiken karolingischer Literatur nicht wirklich aus. Wie immer habe ich mich fast nur über Wahrscheinlichkeitsüberlegungen dem Thema genähert und dann punktuell nachgefasst. Das Ganze stellt lediglich einen Versuch dar, alle mir bekannten Fakten in einen Zusammenhang zu bringen.
Hoffentlich ist es halbwegs erträglich.

Der Wert den diese doch sehr weit hergeholte Hypothese bringen könnte, liegt in der potentiellen Nutzbarmachung dieses Fränkischen Dokumentes als zusätzliche Quelle für die Rekonstruktion der Germanenkriege. Denn wenn die Schilderungen der Sachsenkriege tatsächlich von antiken Texten inspiriert wurden, enthalten sie evtl. zusätzliche Informationen, die in der Vorlagenliteratur möglicherweise verschollen sind.

Gruss
jchatt

(hoffentlich findet bald jemand die Visitenkarte des Varus, ich weiss sonst nicht wohin das noch führt :S)
 
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