Ich denke nicht. Sasonow als Außenminister einer Großmacht wäre wohl sehr töricht, wenn er sich nicht im Vorwege Gedanken darüber macht, welche Auswirkungen seine einzelnen Maßnahmen haben. Du zeichnest m.E. nach hier einen ziemlichen naiven Sasonow; das war er aber nicht.
In den Beiträgen vom Juli 2015, #84ff. war bereits herausgestellt worden, welche Motive Sazonow beeinflussten und welche Position er bezog. Mit Naivität hat das nichts zu tun.
Dabei ist klargestellt worden (Bosworth, Italy - the Least of the Great Powers - Italian foreign policy before the First World War, sowie neuerdings Stephenson, A Box of Sand, den ich mir inzwischen besorgt habe), dass Italien
keinerlei russischen "Antrieb" benötigte, um gegen das östliche Mittelmeer und die Dardanellen vorzugehen.
Der April 1912, ist außerdem der falsche Zeitpunkt, um die Dardanellen-Problematik und die italienische Zielsetzung, den Krieg entscheidend zu beenden, darzustellen.
Das Problem setzt voelmehr bereits Ende Januar an, als die italienische Marine die Beschießung von Beirut vorbereitete. Die syrisch-libanesische Küste hielt das OR aufgrund der bekundeten Interessen Frankreichs für "sicher", und täuschte sich ein erstes Mal. Das passierte am 24.2.1912. Die osmanischen Botschafter übergaben darauf Protestnoten an die Großmächte, in denen bereits klargestellt wurde,
dass eine Aktion gegen die Dardanellen die Schließung derselben zur Folge haben werde. indirekt ersichtlich: BD IX/1, S. 368, sowie Stephenson, Box of Sand, S. 164. Es folgten italienische Dementis ggü. allen Großmächten, dies sei nicht beabsichtigt.
Es war sodann die britische Regierung, die diese ernste Gefahr in Mitteilungen an die anderen Großmöchte unterstrich, siehe ebenda sowie Stephenson.
Nun erst wird es spannend: direkt nach den italienischen Versicherungen, dieses sei keine konkrete Gefahr, ging die italienische Regierung an das Deutsche Reich heran. Hintergrund war die berechtigte italienische Befürchtung, die geplanten Aktionen gegen die Dardanellen würden "Probleme" mit ÖU wegen Artikel VII bringen. Was lag also näher, als sich an den "Seniorpartner" Deutschland zu wenden, um harte öu-Einsprüche zu vermeiden. Hier wird sichtbar, wer für Italien bei dieser Absegnung der Dardanellen-Aktion wirklich wichtig war:
Passenderweise befand sich KWII Ende März auf Korfu zur Erholung, wo er dann auf VE VII traf.
KW II, Kiderlen und Tschirsky lagen dann auf einer Linie,
Italien erhielt die heiß ersehnte Deklaration
am 6.4.1912, passenderweise und ganz sicher nach vorheriger intensiver dt.-ital. Textabstimmung
direkt an Berchtold nach Wien geschickt:
Der Krieg dauere zu lange, die öffentliche Meinung wünsche einen entscheidenden Schlag, dieser können
in den Dardanellen erfolgen, KWII und VE hätten sich darüber in Venedig (es war Korfu, wohin der Kaiser für 10 Wochen nach der Krise über die Haldane-Mission "Urlaub" machte)
abgestimmt, die Dardanellen-Aktion sei abgesegnet, D-I-ÖU hätten dadurch Vorteile, und höflich verklausuliert: ÖU möge doch keine Probleme bereiten, wenn I gegen die Dardanellen vorgehen würde, I werde sich in Kürze vertraulich an ÖU wenden.
Stephenson, Box of Sand, S. 167 sowie Scott, Diplomatic Documents relating to the Outbreak of the Europaen War, S. 342 zum 6.4.1912.
So geschehen: am 15.4. (die ital. Flotte war bereits unterwegs) skizzierte Berchtold mit diplomatischen BlaBla das italienische Vorgehen gegen die Dardanellen, eine begrenzte kleinere Operation würde den Krieg beenden. ÖU würde sich mit Artikel VII schwertun ("create a feeling of uneasiness" in der englischen Übersetzung), und könne daher keine ausdrückliche Zustimmung geben, alle Konsequenzen würden auf der italienischen Schulter liegen. Heißt auf deutsch: macht, was ihr wollt, die Sache läuft ohnehin bereits, wir halten uns da raus (und erhalten gegebenenfalls Garantien oder Kompensationen).
Scott, Diplomatic Documents, S. 344, 15.4.1912
Natürlich machte Italien, was es wollte:
bereits am 13.4. war nach den dipl. Vorjustierungen die italienische Flotte von Taranto zu den Dardanellen mit 3 Schlachtschiffen und 6 Panzerkreuzern zur Beschießung ausgelaufen (die Intelligence der Großmächte erkannte die Bereitstellung bereits eine Woche zuvor), schließlich hatte man seit März die deutsche Rückendeckung.
Stephenson, Box of Sand, S. 168.
Hier noch der erwähnte Teil aus der früheren Diskussion betr. Russland:
Niemand anderes als der russische Außenminister Sasonow ermunterte die Italiener zu einen maritimen Einsatz der Italiener gegen die Dardanellen. (1)
Dermaßen ermutigt ließen sich die Italiener nicht zweimal bitten und beschossen am 18.April zwei türkische Forts am Eingang der Meerengen.
...
D.D.F. Band 2, Seite 325
Zu der Quelle:
Vermutlich ist DDF 3.2 gemeint, 3E SÉRIE (1911-1914), Tome 2.
Seite 325 kann aber hier nicht angesprochen werden. Sondern:
S. 321, Doc. 308: Petersburg 8.4.1912 an Poincare
S. 323, Doc. 312: Poincare 9.4.1912 an Botschaft Petersburg
S. 324, Doc. 313: Poincare 9.4.1912 an Botschaft Petersburg (zum Eintreffen einer italienischen escadre vor den Dardanellen)
S. 326, Doc. 317: Petersburg 10.4.1912 an Poincare
S. 332, Doc. 325: Petersburg an Poincare zu einem Gepräch mit Sazonow, in dem er die Risiken eines Auftauchens einer italienischen escadre vor den Dardanellen und dem gegenüber die Aktivität der Großmächte abwägt, Italien auf das Kriegsgebiet vor Libyen einzuengen.
Aus welcher Literatur stammt denn das Querzitat auf die DDF-Quelle?
D.325 ist außerdem nur bruchstückhaft. Die russische Vorgehensweise ist in der Literatur breit untersucht worden, und die Motive sind als plausibel dargestellt worden. Mit der Liman-Krise ist das in keiner Weise vergleichbar:
1. Sazonows Kalkül ging (zutreffend) davon aus, dass Italien kein Machtfaktor zur Bedrohung der Dardanellen war.
2. Er ging weiter davon aus, dass keine Bodentruppen im Spiel sein würden, wegen der italienischen Bindung in Tripolitanien. Die Dramatik der Frage der Landbesetzung zeigt sich dagegen im Fall Bulgarien, wo russischerseits massiv auf die Annäherung von Truppen an die Dardanellen reagiert wurde. Ein italienische Miniflotte ist da eine ganz andere Hausnummer.
3. Vor der Vorfall hatte die russische Seite erneut den Osmanen einen Vorschlag unterbreitet, die russische Durchfahrt durch die Dardanellen freizugeben unter der russischen vertraglichen Zusage, dass die Osmanen den Durchgang befestigen sollen.
4. Die italienische Provokation sollte instrumentalisiert werden, um bei den übrigen Großmächten auch die Durchfahrtsrechte für die russische Flotte vorzutreiben, was seit dem Krimkrieg durch die Meerengen-Proklamation verwehrt wurde.
5. Die italienischen Maßnahmen sollten ausdrücklich das Ziel der schnelleren Beendigung des Krieges bewirken, und ein Nachgeben der Osmanen, bevor die übrigen Balkanstaaten die Krise ausnutzen würden, sich landseitig den Dardanellen zu nähern. Dieses Kalkül ging gründlich daneben, weil die osmanische Seite stattdessen die Dardanellen sperrte.
Dass Sazonows Kalkül fehlschlug, ist bekannt.
Diese Entwicklung in Kontrast zu der Liman-Krise zu stellen, ist abwegig.
Die Idee Sazonows stammt übrigens ausweislich der Memoiren Giolittis aus Äußerungen ggü. dem ital. Botschafter in Petersburg vom Nov./Dez. 191
1, wobei Sazonow darauf abzielte, dass dies den Krieg schnell beenden würde (Bobroff, Stephenson).