Udolph: Ja, ganz entscheidend. Es ist ein Manko auch der Indogermanistik, daß sie die Ergebnisse der Gewässernamenforschung von Hans Krahe und Wolfgang Paul Schmid nur zögernd oder gar nicht aufgreift. Dabei hat schon Jacob Grimm nachhaltig auf die Bedeutung der Onomastik hingewiesen: „Ohne die Eigennamen würde ganzen früheren Jahrhunderten jede Quelle der deutschen Sprache versiegt sein, ja die frühesten Zeugnisse, die wir überhaupt für diese aufzuweisen haben, beruhen gerade in ihnen ... eben deshalb verbreitet ihre Ergründung Licht für die Sprache, Sitte und Geschichte unserer Vorfahren“. Da Sprache lebendig ist und sich ständig verändert, verändert sich auch der Wortschatz. Wörter leben und sterben, aber in den Namen bleiben diese häufig erhalten. Daher kann die ursprüngliche Verbreitung eines Wortes – wenn es in Namen auftaucht – nur mit Hilfe der Namen richtig beschrieben werden.
Die ältesten Fluß- und Ortsnamen Europas stammen zum größtenTeil aus indogermanischer Zeit
EM: Was läßt sich über die Siedler sagen, die einst Bächen und Landschaften in Europa und ganz Eurasien ihre Namen gegeben haben – gibt es zwischen ihnen Beziehungen, die von Indien bis zu den Kanarischen Inseln reichen?
Udolph: Es ist die Erkenntnis von Hans Krahe, daß sich in weiten Teilen Europas unter der Schicht der einzelsprachlichen Namen (keltisch, italisch, germanisch, baltisch, slavisch usw.) Gewässernamen befinden, die nicht mit Hilfe einer indogermanischen Einzelsprache erklärt werden können. Ein Beispiel: Mien, Mienia, Minia, Mienia sind Gewässernamen in Osteuropa (dazu gehört auch Minsk), die baltische Namen wie Mainia und Minià neben sich haben, aber auch den Main, alt Moinos, und Minho/ Miña auf der Iberischen Halbinsel. Es ist klar, daß man diese Namen nicht mit Hilfe des Keltischen, Germanischen oder Slavischen erklären kann. Man muß einen Schritt weiter zurückgehen. Daß es europäische Gewässernamen gibt, die Beziehungen zum Indischen und Iranischen enthalten, hat darüberhinaus Schmid deutlich gemacht. Er hat nachgewiesen, daß in zahlreichen Gewässernamen, Europas Wortschatzelemente verborgen sind, die ausschließlich nur in den ostindogermanischen Sprachen, etwa Indisch, Tocharisch, Iranisch nachgewiesen werden können. Zum Beispiel im altindischen sindhu- „Fluß“, das sich wiederfindet in Sinn, einem Nebenfluß des Mains, Shannon (Irland), Shin (England), San, Nebenfluß der Weichsel . Das bedeutet, daß die Sprache der Sprecher, die die Namen gegeben haben, keine indogermanische Einzelsprache gewesen sein kann, sondern das Ostindogermanische noch einbezogen war, mit anderen Worten: die Sprecher sprachen voreinzelsprachliche, der indogermanischen Gemeinsprache sehr nahestehende Dialekte.