Im Folgenden will ich versuchen, die These des amerikanischen Psychohistorikers Julian Jaynes zur Entwicklung der Sprache vorzustellen - entnommen einem Buch, dass eigentlich die Verbindung der Entwicklung des menschlichen Bewusstseins mit der Entstehung von Religion und Kultur thematisiert. Jaynes hat nicht den Ehrgeiz, auf eine möglichst frühe Datierung zu kommen, sondern versucht, Kulturgeschichte auf der Grundlage biologischer Gegebenheiten zu erklären.
Jaynes geht nicht davon aus, dass bereits die frühen Urmenschen sprechen konnten, sie haben vielmehr, so wie alle anderen Primaten auch kommuniziert: mit einer Fülle von visuellen und stimmlichen Signalen, die sehr weit entfernt von der syntaktischen Sprache, derer wir uns heute bedienen, waren. Auch die frühen handwerklichen Leistungen sind für ihn ohne Sprache erklärbar, durch Imitationslernen wird das Wissen um die Herstellung des Faustkeils tradiert (so wie Schimpansen den Trick mit dem Strohhalm weitergeben, den man in einen Ameisenhügel steckt, um Ameisen herauszuangeln).
Das erste Stadium (und Conditio sin qua non) der Sprachentwicklung ist nach Jaynes der Übergang von zufallsbedingten "unwillkürlichen" Ausrufen zu intentionalen Zurufen, nämlich Ausrufen, die im Prinzip solange wiederholt werden, bis eine Verhaltensänderung des Empfängers sie abstellt. Ursache war das Klima: "Die evolutionäre Ausdehnung der Intentionalität auf auditive Signale wurde unumgänglich, als der Mensch in nördliche Klimate einwanderte, wo sowohl im Freien wie in den dunklen Höhlen, die er sich zur Behausung wählte, die Lichtverhältnisse schlechter waren und visuelle Signale nicht mit der gleichen Zuverlässigkeit übermittelt werden konnten wie auf den sonnigen afrikanischen Savannen. Der fragliche Evolutionsprozess dürfte bereits im tertiären Eiszeitalter, womöglich sogar noch früher eingesetzt haben. Doch erst wenn im quartären Eiszeitalter zunehmende Kälte und Dunkelheit in den nördlichen Klimaten erlebt werden, bedeuten die intentionalen Stimmsignale einen Selektionsvorteil für den, der über sie verfügt."
Unterschieden werden 3 frühe Stufen der Sprachentwicklung: Rufe, Modifikatoren und Imperative.
Rufe: Die ersten Elemente einer Wortsprache waren die Schlußlaute intentionaler Rufe in der durch unterschiedliche Intensität bewirkten Differenzierung. So würde man zum Beispiel einen Warnruf in einer höchst akuten Gefahrensituation mit erheblich verstärktem Nachdruck ausstoßen, wodurch das Schlussphonem eine Veränderung erfährt. Ein sprungbereiter Tiger etwa könnte ein "wa-hi!" provozieren, während man es für einen Tiger in der Ferne mit einem weniger nachdrücklichen Ruf - der dementsprechend anders auslautet, etwa "wa-hu!" genug sein läßt.
Modifikatoren: Aus diesen Endungen wurden in der Folge die ersten Modifikatoren, mit der Bedeutung "nah" und "fern". Und der nächste Schritt bestand darin, dass diese Endungen "hi" und "hu" vom ursprünglichen Ruf abgetrennt und unter Erhaltung ihres Bedeutungswertes mit anderen Rufen kombiniert werden konnten.Jaynes geht dabei davon aus, dass 1. die Differenzierung von Stimmlauten zu spezifierenden Konstituenten der Erfindung der zu spezifizierenden Nomina vorausgehen musste und 2. die Sprache in diesem Stadium lange verharren musste, bis jene Modifikatoren sich stabilisiert hatten. Er geht davon aus, dass die Epoche der Modifikatoren bis um 40.000 v. Chr. dauerte, bis zu der Zeit also, die in archäologischer Hinsicht durch retuschierte Faustkeile (Einseiter wie Zweiseiter) gekennzeichnet ist.
Imperative: die Modifikatoren können nun - abgetrennt von den Rufen, die sie spezifizieren, und verselbständigt - direkt zur Spezifizierung menschlichen Handelns dienen. So wird z.B. aus dem Modifikator "schärfer" das Kommando "schärfer!". Die Epoche der Imperative ist nach Jaynes in dem Zeitraum zwischen 40.000 - 25.000 v.Chr. anzusiedeln, einem Zeitraum der durch einen merklichen Fortschritt in der Herstellung von Gerätschaften aus Feuerstein und Knochen gekennzeichnet ist.
Substantive: Erst nach der "Erfindung" von Modifikatoren und Imperativen -und nach Aufgabe der primitiven Rufsystems - entstanden Substantive: als Bezeichnung von Referenten der Modifikatoren und Imperative. Um beim Tiger-Beispiel zu bleiben: Bedeutete "wa-hi!"mit seinem höheren Intensitätsgrad einmal eine akute Gefahr, so könnte "wa-k-i!" jetzt einen herannahenden Tiger und "wa-b-i!" einen herannahenden Bären signalisieren. Wir hätten hier die ersten Sätze - bestehen aus Substantiv + prädikativem Modifikator (in Suffixform) - vor uns. Jaynes setzt dafür den Zeitraum zwischen 25.000 und 15.000 v.Chr. an - die Zeit, in der die Anfänge von Tierdarstellungen auf Höhlenwänden und Gerät aus Horn zu finden ist.
Es folgt die Herausbildung von Substantiven als Sachbezeichnungen - zeitgleich mit der Epoche der Erfingung der Keramik, der Schmuckketten, Harpunen und Speerspitzen (die zwei letzteren von überragender Bedeutung für die Ausbreitung des Menschen in schwierigeren Klimaten. Zu dieser Zeit entwickelte sich auch das menschliche Gehirn weiter, der Stirnlappen vor der Zentralfurche wuchs in erstaunlichem Tempo. Biologisch gesehen, war mit dem Abschluß der Epoche der Substantive (ungefähr der Zeit der Kultur des Magdalénien) auch die Entwicklung der Sprachzentren zum heute gegebenen Zustand abgeschlossen.
Eigennamen: Nach Jaynes traten Eigennamen zum ersten Mal zwischen 10.000 und 8.000 v.Chr. auf: als sich der Mensch den veränderten Umweltbedingungen der Nacheiszeit anpasste. In dieser Epoche begegnet man zum ersten Mal der förmlichen Bestattung - zwar gibt es auch aus früherer Zeit Funde, die man zur Not als Gräber bezeichnen kann, setzt die Bestattung als allgemeiner Brauch erst relativ spät ein. Vermutlich hatte der Mensch in vorausgegegangenen Zeiten, wie die anderen Primaten auch, seine Toten einfach dort liegengelassen, wo sie gerade verendet waren; oder er hatte sie mit Steinen zudringlichen Blicken entzogen. Aber genau wie die generische Bezeichnung für ein Tier die Objektbeziehung intensiviert, so auch der Eigenname der menschlichen Person. Und wenn die Person stibt, dauert der Name und damit die Beziehung weiter fast wie zu Lebzeiten, und daher rühren die Bestattungsriten und die Trauer.
- Julian Jaynes, Der Ursprung des Bewustseins, Hamburg 1993.
- ders.The Evolution of Language in the Late Pleistocene, Annals of the New York Academy of Science, Bd. 280 (1976).