Russland 1914: Historische Voraussetzung und der Eintritt in den WW1

Ende Oktober 1908 knirschte es beträchtlich im Gebälk. Die Jungtürken waren nicht bereit ihren Protest hinsichtlich der Annektion zurückzuziehen, wie es Aehrenthal einforderte. Auch Montenegro mobilisierte Truppen; angeblich rein defensiv. Serbien und Montenegro kamen überein ggf. ihre Forderung nach territorialer Kompensation militärisch Nachdruck zu verleihen.
Die Türken wollten von Bulgarien Entschädigung für Ostrumelien und rasselten ebenfalls mit dem Säbel.

Der serbische Außenminister tourte durch Europa, um die serbische Haltung darzulegen. Iswolsky tobte und wollte auf einer Konferenz seine Haut retten.

Die Situation war explosiv.
Ich würde meinen, dass die Situation da noch nicht explosiv war. Die Jungtürken sitzen noch nicht fest im Sattel, und als sie es 1914 waren schlossen sie gar ein riskantes Bündnis mit Ö-U und Bulgarien (und dem DR). Und mit welchem "Säbel" hätten sie denn auch 1908/1909 rasseln sollen?
Die Großmächte Frankreich und UK halten sich raus.
Weder Serbien noch Montenegro fanden als bestenfalls drittklassige Mächte nennenswerte Unterstützung.

Gefährlich wird Russland werden, kann aber noch nicht handeln.
Sasonov versucht zu Beginn des Balkankriegs 1912 Berlin und Wien klarzumachen, dass es "eher einen nahezu aussichtslosen Krieg akzeptieren würde, als eine weitere Demütigung zu ertragen." (Übersetzung /Hervorhebung durch mich) Denn die Niederlage von 1909 [Izwolski Desaster], so versucht Sasonov den Botschaftern des DR und Ö-U klarzumachen, habe einen derart tiefen Eindruck hinterlassen, dass keine russische Regierung, ganz gleich wie friedlich sie gesonnen sei, eine Wiederholung eines solchen Ereignisses überleben könnte. (Lieven - The End of Tsarist Russia S.225ff *) Das ist schon ein bisserl irre, aber es ist wohl so in der Wahrnehmung der Regierenden des angeschlagenen Zarenreichs.

Izwolski wird Botschafter in Paris und berichtet, ebenfalls 1912, dass Poincare ihm versprochen habe, dass für den Fall Ö-U militärisch im Balkan vorrücken würde, und dann zuerst eine russische, und anschließend eine deutsche Intervention stattfände, Frankreich nicht zögern würde in den Krieg zu ziehen um seinen Verpflichtungen gegenüber Russland nachzukommen.
(Dies ganz im Gegensatz zur Situation 1908/1909 als Paris klarmachte, dass es im Falle einer Invasion Serbiens durch Ö-U nicht eingreifen würde. (S.240) )
Ab dann, würde ich sagen, wurde das "explosiv", ohne dass dies allgemein wahrgenommen wurde.
Zum Neujahr 1914 schreibt Friedrich Naumann einen Leitartikel im "Berliner Tageblatt und Handelszeitung", dass gottlob nun die schlimmsten Krisen überstanden seien und auch die Balkankriege nicht den großen Krieg brachten.
(Der Server von ZEFYS ist gerade wegen eines Hackerangriffs außer Betrieb, - ich reiche das sobald möglich nach)

Wie auch immer Turgot, das sind Details und ich betrachte unsere Diskussion nicht als gegensätzlich, sondern als ergänzend.
Grüße hatl

* @andreassolar: Dieses Buch wurde nahezu wortgleich vorher unter dem Titel "Towards The Flame" herausgegeben.
 
Zuletzt bearbeitet:
Ich würde meinen, dass die Situation da noch nicht explosiv war. Die Jungtürken sitzen noch nicht fest im Sattel, und als sie es 1914 waren schlossen sie gar ein riskantes Bündnis mit Ö-U und Bulgarien (und dem DR). Und mit welchem "Säbel" hätten sie denn auch 1908/1909 rasseln sollen?
Die Großmächte Frankreich und UK halten sich raus.
Weder Serbien noch Montenegro fanden als bestenfalls drittklassige Mächte nennenswerte Unterstützung.

Die Türken rasselten gegenüber Bulgarien.



Wie auch immer Turgot, das sind Details und ich betrachte unsere Diskussion nicht als gegensätzlich, sondern als ergänzend.
Grüße hatl

Ganz meine Meinung und auch das ist sehr interessant.
 
Sasonov versucht zu Beginn des Balkankriegs 1912 Berlin und Wien klarzumachen, dass es "eher einen nahezu aussichtslosen Krieg akzeptieren würde, als eine weitere Demütigung zu ertragen." (Übersetzung /Hervorhebung durch mich) Denn die Niederlage von 1909 [Izwolski Desaster], so versucht Sasonov den Botschaftern des DR und Ö-U klarzumachen, habe einen derart tiefen Eindruck hinterlassen, dass keine russische Regierung, ganz gleich wie friedlich sie gesonnen sei, eine Wiederholung eines solchen Ereignisses überleben könnte. (Lieven - The End of Tsarist Russia S.225ff *) Das ist schon ein bisserl irre, aber es ist wohl so in der Wahrnehmung der Regierenden des angeschlagenen Zarenreichs.

Izwolski wird Botschafter in Paris und berichtet, ebenfalls 1912, dass Poincare ihm versprochen habe, dass für den Fall Ö-U militärisch im Balkan vorrücken würde, und dann zuerst eine russische, und anschließend eine deutsche Intervention stattfände, Frankreich nicht zögern würde in den Krieg zu ziehen um seinen Verpflichtungen gegenüber Russland nachzukommen.
(Dies ganz im Gegensatz zur Situation 1908/1909 als Paris klarmachte, dass es im Falle einer Invasion Serbiens durch Ö-U nicht eingreifen würde. (S.240) )
Ab dann, würde ich sagen, wurde das "explosiv", ohne dass dies allgemein wahrgenommen wurde.

Die Balkankriege zeigen gerade nochmals auf, dass die Großmächte angesichts explosiver/riskanter Krisenherde diese mitsamt für sie unerwünschter bzw. unkontrollierbarer politscher Rückwirkungen auch und gerade noch 1912/13 mit einer Art konzertierten Aktion bzw. Kooperation, siehe die dazugehörigen Botschafterkonferenzen, einzudämmen gedachten und konnten.
Und im Auftrag der anderen Großmächte folgte dem eine umfangreichere Abstimmung, Verhandlung und Zusammenarbeit von russischer Administration und dt. Kaiserreich-Administration wg. Ausarbeitung eines Reformplans für die Armenier im Osmanischen Reich, der zwischen russischer und Osmanischer Administration dann auch im Februar 1914 vereinbart wurde.

Ähnliches gilt durchaus noch für die sogenannte Liman-Sanders-Krise, denn weder die britische, noch die Pariser Administration waren bereit, den russ. Konfrontationskurs mitzutragen bzw. sich die Ängste und weitreichenden Unterstellungen/Vorstellungen/Forderungen der russ. Administration und teils der russ. Medien/Öffentlichkeit zu eigen zu machen.
(Das lässt sich m.E. recht klar auch an den entsprechenden britischen und französischen Quellen-Editionen zu den Ursachen des I. Weltkrieges nachvollziehen/belegen)
 
(Dies ganz im Gegensatz zur Situation 1908/1909 als Paris klarmachte, dass es im Falle einer Invasion Serbiens durch Ö-U nicht eingreifen würde. (S.240) )
Ab dann, würde ich sagen, wurde das "explosiv", ohne dass dies allgemein wahrgenommen wurde.
Zum Neujahr 1914 schreibt Friedrich Naumann einen Leitartikel im "Berliner Tageblatt und Handelszeitung", dass gottlob nun die schlimmsten Krisen überstanden seien und auch die Balkankriege nicht den großen Krieg brachten.

Ja, 1908/1909 war auch noch kein Raymond Poincare französischer Präsident.
Serbien rüstete und machte international viel Lärm; gleiches galt für Montenegro. Die beiden Lände schloßen auch einen Vertrag ab, der eben vorsah notfalls mit Waffengewalt gegen Österreich-Ungarn vorzugehen.
Der Punkt 7 des Konferenzvorschlages, die Konferenz sollte die Annektion behandeln, der auf Wunsch Iswolskys aufgenommen worden war, und territoriale Kompensation für Serbien und Montenegro vorsah, wofür eigentlich?, hatte natürlich in Belgrad und Cetinje Hoffnungen und Begehrlichkeiten geweckt.
Es war schon eine handfeste diplomatische Krise und im Prinzip beginnt hier das Präludium zum Ersten Weltkrieg.
 
Aehrenthal kündigt in einen Schreiben an Reichskanzler Bülow Anfang Dezember 1908 militärische Schritte an, wenn Serbien wieder "Anlass zur Beschwerde gäbe." Aehrenthal würde Bülow rechtzeitig informieren und den Mächten eine entsprechende, erklärende Note übergeben lassen. Selbstständigkeit und territoriale Integrität von Montenegro und Serbien würden unangetastet bleiben.
 
Ich sehe schon, ist ein Thema, was nicht so interessant ist.
Doch durchaus, aber wenn die Diskussionen so speziell werden, dass man um mithalten zu können, um ausgedehnteren Gebrauch von derzeit nicht so ohne weiteres nutzbaren Bibliotheken nicht mithalten kann, ist es leider auch eins, wo im Moment nicht so viel an Konversation herumkommen wird.

Zu meinem Leidwesen, möchte ich sagen.
 
Ein kurzer Nachtrag. Mitte Dezember waren Bülow und Aehrenthal sich einig, das die beiden Genetslstabschefs, Moltke und Conrad, in einem Meinungsaustausch eintreten sollen.

Und Bülow äußerte zur selben Zeit seinen Optimismus hinsichtlich der Bündnidtreue Italiens; Ich. Gegensatz zum deutschen Botschafter Monts, der wohl richtige gelegen haben dürfte.
 
Am 26.Februar 1909 war es denn so weit gekommen, das Aehrenthal sich genötigt sah, den russischen Ministerpräsidenten Stolypin Dokumente übergeben zu lassen, die dokumentieren, das Iswolsky seit Monaten den Sachverhalt bewusst irreführend und unzutreffend gegenüber der interessierten Welt darstellt. Ja, er hat sich sogar beim Kaiser Wilhelm, Kaiser Franz-Joseph, beim deutschen Reichskanzler etc. über Aehrenthal massiv beschwert.

Österreich hatte sich schon mit dem Osmansischen Reich geeinigt und damit war die Frage der Annektion eigentlich erledigt. Bulgarien wurde vom Zarenreich eingekauft, da es für Sofia die Entschädigung für die Unabhängigkeit gegenüber Konstantinopel übernahm. Der Ballhausplatz war wohl nur mäßig amüsiert, da man gerade an ein engeres Zusammengehen mit Bulgarien arbeitete.

Zwischendurch fragte die Sängerbrücke in Paris an, wie man dort reagieren würde, wenn man Österreich-Ungarn wegen Serbien den Krieg erklären würde. Pichon reagiert ausgesprochen kühl und es kam erst gar nicht zu ernsthaften Gesprächen. Das wäre bei Poincare wohl anders gewesen.

Jedenfalls hörte Serbien nicht auf, deren Auftreten ist auch für damalige Verhältnisse schwer nachvollziehbar, Krach zu machen und weiter zu rüsten.

Es ist schon fast ein Wunder, das sich Wien dieses größenwahnsinnige Gebaren Belgrads so lang hat Gefallen lassen und nicht einmarschiert ist. Gleiches gilt für Montenegro.
 
Wo ist Petersburg über das Ohr gehauen worden?
Du hast ja Recht.
Der Izvolski ist vor allem über die eigenen Füße gestolpert und taumelte dann durch das eigene Lügengespinst bis er sich soweit bloßstellte, dass er nicht mehr tragbar war.
Er hat wohl auch vorher schon eine wilde Behauptung aufgestellt: Die von Ö-U geplante Bahn durch den Sandschak von Novi Pazar sei ein Bombe die zwischen seine Füße gerollt werden würde.
Was durchaus absurd war, denn zum einen hatten die Österreicher das vertragliche Recht dies zu tun, und zum anderen lässt sich ja schwer ausmachen, dass dies die russischen Interessen berühren konnte.
(Paul Schroeder in Afflerbach, Holger; Stevenson, David (2012): An Improbable War? The Outbreak of World War I and European Political Culture before 1914. New York, NY: Berghahn Books. - S.32)

Also, das sind schon bemerkenswerte Auftritte auf der Bühne und man fragt sich schon, welches Stück hier aufgeführt wurde. Und das ist die eigentliche Frage.
Dazu später mehr, bin noch am lesen.
 
Im März 1909 hatte Serbien bereits knapp 200.000 Mann unter Waffen.Im Mai sollten es 310.000 sein. Dazu ca. 9.100 Reiter und 632 Geschütze. In Montenegro waren es 36.000 Mann und etwas über 100 Geschütze. Und es wurde munter weitergerüstet. In Petersburg warb Serbien Freiwillige an, ohne das die Regierung etwas dagegen unternommen hätte. Kein Wunder das Conrad Ende Februar von Aehrenthal Aufklärung verlangte, ob Russlands Drohen nur Bluff oder ernstzunehmen sei. Auch wollte Conrad die Stärke der k.u.k. Trupppen an den Grenzen zu Serbien und Montenegro unbedingt verstärken.
 
Auch eine interessante Frage ist, woher Serbien eigentlich das ganze Geld hat, um so viele Soldaten zu mobilisieren.
 
Im März 1909 hatte Serbien bereits knapp 200.000 Mann unter Waffen.Im Mai sollten es 310.000 sein. Dazu ca. 9.100 Reiter und 632 Geschütze. In Montenegro waren es 36.000 Mann und etwas über 100 Geschütze. Und es wurde munter weitergerüstet. In Petersburg warb Serbien Freiwillige an, ohne das die Regierung etwas dagegen unternommen hätte. Kein Wunder das Conrad Ende Februar von Aehrenthal Aufklärung verlangte, ob Russlands Drohen nur Bluff oder ernstzunehmen sei. Auch wollte Conrad die Stärke der k.u.k. Trupppen an den Grenzen zu Serbien und Montenegro unbedingt verstärken.
Kannst Du mir dazu einen Literaturhinweis geben?
 
Conrad, Aus meiner Dienstzeit Band 1. Ansonsten ganz hervorragend auch
Bittner und Uebersberger, Österreich -Ungarns Außenpolitik 1908 - 1914
 
Danke @Turgot .

Stammen die Zahlen von Conrad? In diesem Falle würde ich sie mit Vorsicht genießen.
Was den Bittner/Uebersberger angeht, verstehe ich das richtig, dass das eine Dokumentensammlung herausgegeben 1930 ist?
 
Ja, die Zahlen stammen von Conrad.

Und ja, Bittner / Uebersberger ist eine sehr große Sammlung außenpolitischer Dokumente. Sind insgesamt 9 dicke Bände. Jeder so knapp 1000 Seiten.
 
Bemerkenswert ist auch, das Italien zwar formaljuristisch keine Ansprüche auf Kompensation hatte, Tittonis aber trotzdem versuchte territorial etwas zu rauszuhauen. Die italienische Öffentlichkeit machte Lärm. Als das nicht klappte, sollte es bitte eine italienische Universität in Trient werden. Auch daraus wurde nichts.. Der entscheidende, frühzeitige Umschwung in der italienischen Öffentlichkeit erfolgte, als die britische Öffentlichkeit sich mächtig gegen die Annektion bemerkbar machte. Italien hatte und wollte es nicht begreifen, das der Dreibund eben keine Erwerbsgenossenschaft war. Iswolsky hatte Tittoni ja schon in Desio im September 1908 über seine Pläne eingeweiht und der Zar Nikolaus erwiderte im Herbst 1909 den Besuch Victor Emanuels auf Schloß Racconigi südlich von Turin. Hier wurde die Vereinbarung zwischen Russland und Italien vereinbart. Die Stimmung in Italien war gegenüber Österreich-Ungarn alles andere als die eines Bundesgenossen. Es dürfte nicht unmaßgeblich dazu beigetragen, das Italien sich wieder mal schlecht behandelt fühlte, das man sich un den Russen annäherte.

Weshalb die deutschen Diplomaten, Ausnahme der deutsche Botschafter in Rom Monts, der aber bei Bülow auf taube Ohren stieß, und auch ein guter Teil der österreichisch-ungarischen von der Bündnistreue oder zumindest einer neutralen Haltung Italiens überzeugt waren, ist mir schleierhaft.

Aus das Bulgarien ins Fahrwasser Petersburg gelangte, ist dieser Krise geschuldet.

Zu Conrad:
Ich habe noch nicht viel darinnen gelesen, aber beispielsweise seine Streitereien mit Aehrenthal hat er korrekt widergegeben. Conrad war von der Aufgabe sein Land zu schützen absolut durchdrungen. Und er hatte Italien realistischer eingeschätzt als der zuständige Außenminister Aehrenthal. Ich würde ihn nicht per se als unglaubwürdig abtun. Aber ich habe seine Ausführungen, wie gesagt noch nicht viel gelesen, geprüft, so weit es mit möglich war.
Das Serbien und Montenegro stark gerüstet haben, ist bekannt; wir d auch aus den diplomatischen Schriftwechsel deutlich. Belgrad und Cetinje wurden zwar zur Ruhe gemahnt, aber energisch ist weder Petersburg noch London vorstellig geworden.

Es wäre 1909 möglich gewesen, das die k.u.k. Truppen dort einrücken, denn Russland wäre zu jener Zeit nicht imstande gewesen, militärisch aktiv zu werden.
 
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