@Turgot
Paul W. Schroeder (An Impropable War? - leider nur auf Englisch) argumentiert durchaus ähnlich und ich lehne mich hier daran an.
Die Kapitelüberschrift (Kapitel 1) „stealing horses to great applause“ bezieht sich auf ein spanisches Sprichwort welches sagt, dass während die einem unter großem Beifall Pferde stehlen, andere dafür gehängt werden, dass sie am Zaun stehen. Dieses Prinzip habe sich ab den späten 1890ern im Verhältnis der Großmächte zunehmend durchgesetzt. Dies in dem Sinne, dass der räuberische Imperialismus zunehmend belohnt wurde, während der friedliche Ausgleich der Interessen an Bedeutung verlor, ja sogar bestraft wurde.
Als Beispiel mögen die Mürzsteger Beschlüsse dienen.
Als 1903 in Mazedonien blutige Unruhen um sich griffen, besuchte der Zar Nikolaus II den Franz Joseph auf dessen Jagdschloss in Mürzsteg um gemeinsam eine friedliche Lösung des Problems anzustreben.
Das Ergebnis war das was wir heute als peacekeeping-mission bezeichnen und besonders hervorhebenswert ist, dass Russland und Ö-U diese gemeinsam betrieben.
http://ogs.oeog.at/wp-content/uploads/2016/02/ISS-Info-2015-06.pdf
1907, so Schroeder, wurde diese Politik mit der Annäherung an England beendet, ja sogar in das Gegenteil verkehrt.
Dabei hatten ja Ö-U, und auch das DR, nur kurz zuvor ein Politik verfolgt, die wesentlich zur Stabilisierung des am Abgrund taumelnden Zarenreichs beitrug.
„Das ist keine Übertreibung. Österreich-Ungarns und Deutschlands Verhalten 1904-1906 rettete das zaristische Regime.“ (S. 32 Übersetzung durch mich)
Denn, so argumentiert Schroeder, es sei Graf Sergej Witte nur dadurch gelungen die widerstrebende Generalität zur Übernahme von Polizeiaufgaben zu Niederschlagung der
Revolution zu bewegen,
indem er die Generäle überzeugte, dass die Westgrenze sicher sei.
Dass man also die Truppen in Innere verlegen könne da kein Angriff zu befürchten. Wären an der Westgrenze Russlands durch Ö-U, und/oder durch Deutschland, eine Bedrohung oder Mobilisierung erfolgt, es hätte das Zarenreich zum Einsturz gebracht. Doch wurde eine solche Politik eben nicht verfolgt.
Österreich beteiligte sich gar an der dringend benötigten Kreditvergabe für das bankrotte Russland.
https://www.jstor.org/stable/4205279?seq=1
Dass sich dieses dann nur Monate später aggressiv gegen Österreich wenden wird, demonstriert, so Schroeder, das geltende Sprichwort dieser Zeit:
„keine gute Tat blieb ungestraft“ (S. 34)
Doch das Russland nach der Revolution von 1905 ist nicht mehr das gleiche Russland.
Dies betrifft auch das Selbstverständnis des Außenministers, der kein Lambsdorff mehr ist, sondern ein vergleichsweise anmaßender (und inkompetenter) Isvolski.
Alles in allem, so Schroeder, war die Politik von Ö-U defensiv.
Und dies selbst in der Julikrise, so Matthias Schulz in Kapitel 2 des Buches.
(Leider nur auf Englisch)
Was die „Bosnische Annektions-Krise“ angeht, so ist diese mE angesichts des sonstigen Gebarens anderer Großmächte dieser Zeit nur deshalb eine Krise, weil sie als solche dargestellt wurde.
Durnovo beklagt in seinem Memorandum vom Feb. 1914 eine falsche Ausrichtung der Außenpolitik ab 1907.
Diese sei dilettantisch, orientiere sich am Beifall der Öffentlichkeit statt an Realitäten, und provoziere die Gefahr eines großen europäischen Krieges. Er hebt ebenso hervor, dass es den alten Freunden und neuen Gegnern ein leichtes gewesen wäre, aus der tiefen Krise des Zarenreichs 1905-1906 Vorteile zu ziehen, was sie eben nicht taten.
So kann man die Story erzählen, und ich selbst tendiere mehr und mehr dazu die Rolle Russlands bei der Eskalation zur Katastrophe als eine wesentlich aggressive zu sehen.
Nachdem sich jedoch mein Bild bei der Beschäftigung mit dem Thema immer wieder gewandelt hat, will ich vorsichtig bleiben.
Was letztlich immer noch gilt: „Mir wird bei Alledem so dumm, als ging mir ein Mühlrad im Kopf herum.“