Johanna von Orleans: "Heilige" oder "Ketzerin"?

Jeanned'Arc hörte (angeblich) Stimmen, die zu ihr sprachen und hatte Visionen.
was ja durchaus ein kulturübergreifender Topos in religiösen Kontexten ist: mal redet ein Gebüsch, mal ein Erzengel - mir z.B. ist gerade eben so etwas widerfahren: ich hörte gerade deutlich aus dem Kühlschrank die Stimme einer perfekt gekühlten Flasche Licher Pils, sie sprach "öffne mich, das Wochende ist nah, und gewiß wird es noch amüsantes über Stimmen und Zeichen zu lesen geben!" :rofl::yes::still: (und ich bin guter Dinge, dass sich die Prophezeiung der Licherflasche bewahrheiten wird)
 
Altbundeskanzler Helmut Schmidt sagte in einem Interview vor Jahrzehnten: "Wer Visionen hat, soll zum Arzt gehen."

Allerdings geschah das in einem anderen Zusammenhang! :D
 
Auch auf die Gefahr hin, dass ich mich wiederhole. Ich unterscheide zwischen Phänomen und Deutung. In der Weltgeschichte gibt es - wer wollte dies ernsthaft bestreiten - rätselhafte Begebenheiten und Phänomene, die mehr als außergewöhnlich erscheinen.

Eine Deutung solch außergewöhnlicher Phänomene und Begebenheiten ist ja - im besten Falle - immer der Versuch einer Annäherung an die "Wahrheit" oder Wirklichkeit. Und sollten erst einmal grundsätzlich alle Möglichkeiten angedacht werden können. Auch die Möglichkeit eines tatsächlich "übernatürlichen" Geschehens. Warum? Weil die Beschränkung auf lediglich "normal" Erkärungen zu kurz greifen könnte! Man an der "Wahrheit" bzw. Wirklichkeit vorbei gehen könnte.

Oder anders ausgedrückt: Warum sollte ein "Wunder" - wenn alles für seine Echtheit spricht - kein geschichtlicher Vorgang sein können?


Was wäre die Geschichte ohne Wunder!
Das Blitz- und Regenwunder im Land der Quaden, das auf der Marc Aurelsäule abgebildet ist, das Wunder an der Milvischen Brügge, das Wunder an der Marne, das Mirakel des Hauses Brandenburg, das "Wunder von Caporetto/ Karfreit und nicht zu vergessen das "Wunder von Bern".
Im 2. Weltkrieg musste am Ende, als der "Endsieg" ausblieb, Wunderwaffen her, die zwar viel an-, aber wenig ausrichten konnten. Wunder wurden zu Geschichte, aber wenn man sich den "geschichtlichen Vorgang" en Detail ansieht, wird man feststellen, dass es meist wenig wundersam zuging. Wunder sind aber auch relativ: Was dem einen ein Wunder, war für andere eher ein Alptraum oder auch nur eine verpasste Gelegenheit, ohne die man mit Sicherheit den Krieg gewonnen hätte.

Die Geschichtswissenschaft gehört zur Philosophischen Fakultät, doch als Historiker interessieren Fakten, weniger die Frage nach der Wahrheit, denn was ist Wahrheit, wenn die Realität nur ein Schatten der Wirklichkeit ist.
Wunder, wenn sie Erkenntnissen und Gesetzen der Naturwissenschaften widersprechen liegen außerhalb der erfahrbaren Realität. Die Geschichtswissenschaft endet, wo die Transzendenz anfängt. Wenn ein Wunder rational erklärbar wird, dann ist es keins mehr.

Das macht aber z. B. die Bibel oder das Neue Testament nicht zu einem Märchenbuch wie gelegentlich, auch hier im Forum, geäußert wird. Für die Geschichte des frühen Christentums oder die historischen Persönlichkeiten Jesus von Nazaret und Paulus von Tarsus ist das NT die wichtigste und sogar einzige schriftliche Quelle, wenn man von römischen Autoren des 1. Jhds und einer möglicherweise christlich interpolierten Aussage bei Flavius Josephus absieht. Vergleicht man Angaben aus dem NT mit Erkenntnissen der Archäologie, Epigraphik, Judaistik und anderer Geisteswissenschaften ist der Informationsgehalt sogar recht hoch.
 
Das macht aber z. B. die Bibel oder das Neue Testament nicht zu einem Märchenbuch wie gelegentlich, auch hier im Forum, geäußert wird. Für die Geschichte des frühen Christentums oder die historischen Persönlichkeiten Jesus von Nazaret und Paulus von Tarsus ist das NT die wichtigste und sogar einzige schriftliche Quelle, wenn man von römischen Autoren des 1. Jhds und einer möglicherweise christlich interpolierten Aussage bei Flavius Josephus absieht. Vergleicht man Angaben aus dem NT mit Erkenntnissen der Archäologie, Epigraphik, Judaistik und anderer Geisteswissenschaften ist der Informationsgehalt sogar recht hoch.
allerdings besteht der für die Historik relevante Informationsgehalt nicht in den enthaltenen Wundergeschichten ;) will sagen man hat weder den brennenden Dornbusch noch die Heilung des Lazarus (oder ähnliches) achäologisch bestätigen können.

übringens "was wäre die Welt ohne Wunder?" lässt sich sogar ergänzen mit "was wäre die Oper ohne Wunder?": sie wäre um eine sehr schöne Chorstelle im Lohengrin ärmer :):)
 
übringens "was wäre die Welt ohne Wunder?" lässt sich sogar ergänzen mit "was wäre die Oper ohne Wunder?": sie wäre um eine sehr schöne Chorstelle im Lohengrin ärmer :)

Hier wäre besser "Das Wunder der Heliane" von Wolfgang Korngold zitiert, auch wenn sich diese Oper in der Publikumsgunst leider nicht als "wundersam" erwies. :hmpf:
 
Ich sehe das eher als Chance fuer die næchste Præsidentschaftskandidatin, denn die Kønigin ist Marie Antoinette gewesen, und danach hat noch keine Jungfrau Frankreich retten kønnen. :devil:

Was ich damit sagen will: Solche "Prophezeiungen" sind meist so vielsagend nichtsagend, dass man immer irgendwann das passende Ereignis findet.

Gruss, muheijo

1830 hat man sich wohl nicht so recht an die "Prophezeiung" in Bezug auf eine Jungfrau erinnern können:

"Als Graf Broglie eindringlich die Brisanz der Lage (28.Juli) schilderte, erwiderte Karl X. nur: "Sie sind doch ein gläubiger Mensch, haben Sie Vertrauen! Jules (Polignac) hat noch in der letzten Nacht die Heilige Jungfrau gesehen. Sie hat ihm befohlen, auszuharren, und ihm ein glückliches Ende verheißen." Selbst ein Graf Broglie, der als bigott galt, war sprachlos." [1]
Polignac war ein Mann, und die Nummer ging gewaltig in die Hose.

Grüße
excideuil

[1] Dobat, Klaus-Peter: 1830: Paris baut Barrikaden – Julirevolution und Bürgerkönigtum, in damals 7/1984, Seiten 554 - 573
 
Mir ist überhaupt nur eine Ausnahme von dieser (wie ich behaupte) Regel bekannt, und zwar das christliche Mittelalter, das das Tragen von Hosen durch Frauen als Auflehnung gegen die göttliche Ordnung ansah. Die wenigen Darstellungen verbürgter Kombattantinnen aus dem Adel zeigen Frauen, die meist eine Cottehardie (o.Ä.) trugen, und darüber Kettenbrünne, Brigantine oder Plattenharnisch, jedoch keinen Beinpanzer.

Wie wenig sinnvoll das war, und von jeder echten "Kriegerin" daher gemieden worden wäre, zeigen etwa das Beispiel Johannas von Orleans (die eine gewöhnliche Übergangsrüstung trug)
Dass Johanna genestelte Hosen (d.h. Männerkleidung) getragen habe, war jedenfalls der willkommene Vorwand für ihre Hinrichtung.

Das 5. Buch Moses 22,5 setzt jede Form des Cross-Dressung mit Gotteslästerung gleich:
Eine Frau soll keine Männerkleidung tragen und ein Mann keine Frauenkleidung. Wer so etwas tut, den verabscheut der HERR, euer Gott.​

Die Erscheinungen und Stimmen der Engel befahlen Jeanne D'Arc angeblich Männerkleidung zu tragen und sich die Haare abzuschneiden. (Es gibt genug Beispiele für heilige Frauen, die die gleiche Idee hatten. Unter Ordensfrauen sind derartige Praktiken durchaus geläufig.)

Robert de Baudricourt ließ die Jungfrau als Mann verkleiden, um sie sich von Vaucouleurs durch Feindesland nach Chinon zu König Karl VII. zu schmuggeln. Johanna trug hier also tatsächlich komplette Männerkleidung als Tarnung.
Sie trat in Bauernkleidung vor den König. Er ließ sie mit Rüstung und neuer Kleidung ausstatten. Über der Rüstung trug sie einen auffälligen bodenlangen roten Mantel (Tappert).

Es besteht in den Quellen keine Eindeutigkeit, ob Johanna in der Schlacht Männerkleidung oder Frauenkleidung trug.
Diese zeitgenössische Abbildung von 1429 zeigt sie als eine ungerüstete Frau mit Banner und Schwert. Johanna trägt hier ein langes Kleid und einen unbedeckten Zopf. Sie war hier also sofort als Jungfrau zu erkennen!

In zwei Inquisitionsprozesse wurde ihr neben Häresie, Hexerei, Kontakt mit Dämonen auch das Tragen von Männerkleidung.
Das Geständnis, sie habe Hosen getragen, reichte aber nicht für ihr Hinrichtung aus, sondern rechtfertige nur ihre dauerhafte Haft.
Im Kerker zog sie erneut die Hosen und erst dieser Rückfall konnte ihre Hinrichtung rechtfertigen.
Die Gründe, warum sie erneut die Hose anzog, sind umstritten. Vielleicht lag es an ihrem religiösen Wahn, der Folter oder schlicht daran, dass man ihr keine andere Kleidung zur Verfügung stellte.
Jedenfalls hatte man endlich die Möglichkeit sie zu verbrennen.
Über die Fragwürdigkeit der Geständnisse im Prozess wurden hier schon 5 Seiten voll geschrieben.

Jahrhunderte später stellte man sich die Heilige Johanna jedoch ganz selbstverständlich als Frau in Hosen oder in glänzender Ritterrüstung vor.
Die Jungfrau im roten Mantel ist längst vergessen.
 
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Diese zeitgenössische Abbildung von 1429 zeigt sie als eine ungerüstete Frau mit Banner und Schwert. Johanna trägt hier ein langes Kleid und einen unbedeckten Zopf. Sie war hier also sofort als Jungfrau zu erkennen!
Wobei man bei solchen Darstellungen quellenkritisch beachten muss, dass man Mittel der Identifikation benötigt. Bei mittelalterlichen Promis geschah das in der Regel via Wappen. Bei der nichtadeligen Jeanne ggf. über Attribute der Jungfräulichkeit. Die Zeitgenössischkeit sollte daher nicht als Beleg für Authentizität der Darstellung missverstanden werden. Es ist ein Zeugnis, wie Jungfrauen in Frankreich damals aussahen, ob es uns aber eine authentische Darstellung von Jeanne liefert?
 
Wobei man bei solchen Darstellungen quellenkritisch beachten muss, dass man Mittel der Identifikation benötigt. Bei mittelalterlichen Promis geschah das in der Regel via Wappen. Bei der nichtadeligen Jeanne ggf. über Attribute der Jungfräulichkeit. Die Zeitgenössischkeit sollte daher nicht als Beleg für Authentizität der Darstellung missverstanden werden. Es ist ein Zeugnis, wie Jungfrauen in Frankreich damals aussahen, ob es uns aber eine authentische Darstellung von Jeanne liefert?
Ironischerweise soll jenes Bauernmädchen einen auffälligen Wappenrock (Tappert) getragen haben. Sie war angezogen wie eine Adelige und ihre Hauptaufgabe war es das Wappen des Königs auf der Flagge und dem Wappenrock zu präsentieren.
Auch ohne den Gender-Aspekt war es in einer Standesgesellschaft sicherlich eine unerhörte Provokation, wenn eine Person bäuerlicher Herkunft wie ein Adeliger herumstolziert.

Jeanne D'Arc zu zeichnen ist jedenfalls keine leicht Aufgabe.
Wenn jemand eine Frau zeichnet, zeichnet er in der Regel eine ikonische Frau, die fast schon ihr eigenes Piktogramm ist. Selbstverständlich wird das Piktogramm einer Frau an Rock und Zöpfen erkannt, obwohl nicht alle Frauen Röcke und Zöpfe tragen.
Zeichnet man Jeanne D'Arc als Frau mit Kurzfrisur in Männerkleidung, wird sie niemand als die Jungfrau erkennen, sondern nur einen schneidigen jungen Mann.
Wenn man sie in edler Kleidung zeichnet, kann man ihre bäuerliche Herkunft nicht erkennen.
Jeanne D'Arc ist eigentlich eine Jungfrau bäuerlicher Herkunft, nur fehlte ihrer Kleidung und ihrer Frisur jede Ikonizität. Mit ihrer Kleidung und Frisur entsprach sie viel mehr einem Jüngling adeliger Herkunft. Trotzdem wurde sah sie sich anscheinend als Heilige Jungfrau. Das Urteil ihrer Zeitgenossen ist hingegen zwiespältig. Für die einen war sie trotz Fahnenjunker-Outfit weiterhin eine Heilige Jungfrau, für die anderen eine Hexe.

Diese moderne Rekonstruktionszeichnung von Marco Bakker folgt detailliert den Beschreibungen Jeanne D'Arc in den zeitgenössischen Schriftquellen:

jeannedarc1.jpg


Bildnachweis:
https://www.reportret.info/gallery/joanofarc1.html
Unter dem Link findet ihr auch noch eine umfangreiche Beschreibung mit Literaturverzeichnis.

Johannas pelzverbrämter Rock und ihr schwarzer Hut in der modernen Rekonstruktionszeichnung ähneln sehr stark der Männerkleidung auf dem bekannten Gemälde "Die Arnolfini-Hochzeit" von Jan van Eyk aus dem 15. Jahrhundert. In späteren Jahrhunderten würde eine dartige Aufmachung nicht ohne weiteres als Männerkleidung erkannt.
 
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Da bekannt ist, dass für Johanna eine Rüstung gefertigt wurde, wird sie sie auch getragen haben, zumal Froissart betont, der Dauphin habe sich um ihre Sicherheit gesorgt. Da liegt es nahe, dass er darauf aus war, dass sie die Rüstung auch wirklich trug, zumindest wenn sie Gefahren ausgesetzt war. Ihr Tod wäre für Karl katastrophal gewesen. Nach der Lesart der Zeit hätte sich erwiesen, dass Gott gegen ihn war.

Ich muss nochmals nachfragen: Der Begriff des "Cross-Dressing" – in welchem Sinne verwendet Ihr ihn hier? Da ich keinen Grund sehe, ein von Aktivisten geprägtes Fremdwort zur im Deutschen mühelos auszudrückenden Beschreibung der banalen Tatsache einer Frau in Männerkleidung zu verwenden, kenne ich "Cross-Dressing" nur als das Tragen von Kleidung des jeweils anderen Geschlechts zur Annahme einer Geschlechtsidentität.

Ich gehe davon aus, dass auch die Kirchenväter auf Letzteres anspielten, denn es galt durchaus als verzeihlich, wenn eine Frau Männerkleidung trug, um ihre Unschuld zu bewahren oder Blöße zu schützen, sprich, wenn sie der Gefahr sexueller Übergriffe ausgesetzt war oder schlichtweg keine anderen Kleidungsstücke besaß. Mithin wäre nicht das Tragen von Männerkleidung "sündig", sondern das Tragen zu einem bestimmten Zweck.

Von einem identitären Cross-Dressing kann hier keine Rede sein, daher scheint mir der Begriff deplatziert. Klar ist, dass Johanna von Franzosen wie Engländern als weiblich gesehen wurde; die einen nannten sie eine heilige Jungfrau, die anderen eine Hure und Hexe. Johanna sah sich auch selbst als weiblich, betonte ihre exzeptionelle Rolle, verbot Frauen, ihrem Beispiel zu folgen und verbannte die Trossdirnen aus dem Heer.

Dass man sie in eine "männliche" Rüstung steckte und passend einkleidete, ich sagte es schon, ist bloß Ausfluss des Prinzips form follows function. Es gibt keine "weiblichen" Rüstungen.

Was mich an dem Prozess gegen Johanna immer verwundert hat, ist, dass ihr das Tragen von Männerkleidung (und übrigens auch das Führen eines Banners ohne Ernennung zum Bannerherr) so effektiv zur Last gelegt werden konnte. Klar, die Engländer bestritten aufgrund des Vertrags von Troyes die Autorität des Dauphins, aber wie konnte es gar keine Rolle spielen, dass die Dienerin tat, was ihr Herr sie geheißen hatte?

Es war eben doch ein Schauprozess.
 
Ich muss nochmals nachfragen: Der Begriff des "Cross-Dressing" – in welchem Sinne verwendet Ihr ihn hier? Da ich keinen Grund sehe, ein von Aktivisten geprägtes Fremdwort zur im Deutschen mühelos auszudrückenden Beschreibung der banalen Tatsache einer Frau in Männerkleidung zu verwenden, kenne ich "Cross-Dressing" nur als das Tragen von Kleidung des jeweils anderen Geschlechts zur Annahme einer Geschlechtsidentität.
Kann man das denn so reduzieren? Findet nicht immer ein Rollenwechsel - welcher Art auch immer - statt, wenn in einer stark durch markierende Kleidung ("Tracht") geprägten Gesellschaft der oder die Angehörige des einen Geschlechts Kleidung des anderen Geschlechts trägt?
In unserer Gesellschaft heute und auch schon seit einigen Jahrzehnten, ist es voll akzeptiert und daher nicht weiter auffällig, wenn Frauen Männerkleidung tragen - umgekehrt allerdings nicht. Eine Frau, die betonen will, dass sie Männerkleidung trägt, muss schon einige Accesoires hinzufügen, und selbst das wird immer schwieriger. Etwa eine Krawatte und am besten noch einen Hut dazu. Aber eine Frau in einer 501 fällt nicht auf. Das ist total normal, selbst wenn man konservativ-straight-normativ-heterosexuell ist.
Umgekehrt fällt jeder Mann auf, der Frauenkleidung trägt und wird für trans- gehalten oder zumindest für homosexuell. Für einen normativ-heterosexuellen Mann wäre es - außer in akzeptierten Umgebungen, wie Karneval, wo er aber auch als Cowboy, Indianer, Matrose oder Vampir gehen kann - eine Mutprobe, sich im normalen Berufsalltag in einem Rock oder Kleid, also weiblich markierten Kleidungsstücken zur Arbeit zu begeben. Also wenn man nicht gerade eine Wette verloren hat, dann tut man das als normativ-heterosexueller Mann i.d.R. auch heute noch nicht. (Es sei denn, man wollte provozieren, aber das wäre - in dieser Richtung zumindest - von einem Mann aus konservativem Milieu wohl kaum zu erwarten.) Also Männer provozieren mit "Cross-Dressing", Frauen müssen sich heute richtig Mühe geben, dass ihre Kleidung überhaupt als "Cross_Dressing" verstanden wird, weil Männerkleidung zu tragen für Frauen heute einfach kein "Cross-Dressing" mehr ist.
Im Mittelalter war das nicht der Fall. Selbst, wenn man an Homosexualität keinen Gedanken verschwendet und Nichtbinarität überhaupt gar nicht im Bereich des Vorstellbaren lagen, so war doch "Cross-Dressing", also das Kleiden mit der Kleidung des anderen Geschlechts, auch eine Form der Rollenübernahme. Ich denke da an die albanischen burrneshas: Das sind Frauen, die i.d.R. in Ermangelung eines Sohnes die Rolle des Sohnes über das Ableben der Eltern hinaus übernehmen. Sie kleiden sich als Männer, werden (in einer geradezu rückständigen, frauenfeindlichen Gesellschaft*) als Männer akzeptiert und das, obwohl jeder weiß, dass es sich um Frauen handelt.

Wenn wir also den Terminus Cross-Dressing hier verwenden, dann für das Tragen einer bestimmten Kleidung als Annahme einer bestimmten Rolle, die aus dem normativen Rollenverständnis der betrachteten Gesellschaft hinausgeht. (Zunächst aber) Nicht mit in der Vormoderne geächteten Praktiken.

*Im Prinzip ist es ja sogar so, dass gerade der archaische Sexismus dieser Hinterwäldler-Gesellschaft erst die Notwendigkeit der Einrichtung des Burrnesha-Wesens "notwendig" macht.
 
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Ich muss nochmals nachfragen: Der Begriff des "Cross-Dressing" – in welchem Sinne verwendet Ihr ihn hier? Da ich keinen Grund sehe, ein von Aktivisten geprägtes Fremdwort zur im Deutschen mühelos auszudrückenden Beschreibung der banalen Tatsache einer Frau in Männerkleidung zu verwenden, kenne ich "Cross-Dressing" nur als das Tragen von Kleidung des jeweils anderen Geschlechts zur Annahme einer Geschlechtsidentität.
Da du Lexikoneinträge und gesellschaftspolitische Debatten offensichtlich lieber ignorierst, kann ich jetzt nicht nachvollziehen, wie du zu deinen Erkenntnissen über Cross-Dressing kommst.
Ich kürze es mal ab: Dein Verständnis von Cross-Dressing ist falsch.

Cross-Dressing hat nicht notwendigerweise etwas mit der Übernahme einer Geschlechtsidentität zu tun, sondern meint erst mal nur ganz banal das Tragen nichts geschlechtkonformer Kleidung. Es geht also um das Phänomen der Frau in Männerkleidung oder umgekehrt. Frisur, Schminke etc. können auch noch dazugezählt werden. Der Anlass bzw. die Gründe für Cross-Dressing können vielfältig sein: Theater, Karneval, Tarnung, feministische Emanzipation, sexueller Fetisch, Übernahme der anderen Geschlechtsidentität etc.

Heutige Transgender-Aktivisten sind jedoch meistens der Ansicht, dass ein Transmann in Männerkleidung kein Cross-Dresser sei, weil er sich doch genderkonform kleide. Auf analytischer Ebene erscheint mir diese Differenzierung jedoch nicht so sinnvoll. Das Konzept hinter Cross-Dressing ist ein streng binäres Verständnis von Geschlecht, in dem es keine Grautöne gibt und jeder Mensch und auch jedes Kleidungsstück ein ganz eindeutige Geschlechtszuordnung hat.

Der deutsche Begriff Transvestismus bedeutet etymologisch ungefähr das gleiche wie Cross-Dressinng. Hier hat sich aber meines Erachtens die Bedeutung inzwischen verschoben. Als Magnus Hirschfeld vor 100 Jahren den Begriff prägte, wurde kaum systematisch zwischen Homosexualität, Transsexualität, Transgender-Identität etc. unterschieden, sodass Transvestismus heute zweideutig erscheint.
Der noch älterere Begriff Travestie bezieht sich hingegen vor allem auf Show und Theater.
Von daher halte ich den Anglizismus Cross-Dressing hier wirklich am passendsten.

Wenn wir also den Terminus Cross-Dressing hier verwenden, dann für das Tragen einer bestimmten Kleidung als Annahme einer bestimmten Rolle, die aus dem normativen Rollenverständnis der betrachteten Gesellschaft hinausgeht. (Zunächst aber) Nicht mit in der Vormoderne geächteten Praktiken.
Mit den Rollen sind wir schon auf einer anderen Ebene. Grundsätzlich ist es auch möglich, die Kleidung des anderen Geschlechts zu tragen, ohne die Rolle des anderen Geschlechts zu übernehmen. Ein gutes Beispiel dafür ist das Cross-Dressing im Karneval - eine Rollenübernahme findet dort in der Regel nicht statt oder bleibt nur auf spielerischer Ebene.

Die Übernahme der Rolle des anderen Geschlechts wird als Cross-Gender bezeichnet.
Das scheint meistens auch für Jeanne D'Arc zuzutreffen. Jeanne hat sich mit der Männerkleidung gleichzeitig männliches Rollenverhalten angeeignet. Sie nimmt zwar die Rolle eines Mannes teilweise an, übernimmt aber nicht die männliche Identität oder gar einen männlichen Vornamen. Sie bleibt trotz Männerkleidung die Jungfrau Jeanne. (Wenn man die Jungfrau von Orleans mit den albanischen Schwurjungfrauen vergleicht, muss man einen wichtigen Unterschied feststellen. Die "Schwurjungfrauen" nehmen tatsächlich eine männlichen Namen und eine männliche Identität an, Jeanne behält jedoch weiterhin ihre weibliche Identität und ihren weiblichen Namen.)
Eine Ausnahme hiervon bildet jedoch Jeannes Reise von Vaucouleurs nach Chinon unter männlicher Tarnidentität. Hier im Feindesland hat sie sich als Mann ausgeben, aber das scheint eher eine Kriegslist zu sein.

Jeanne ritt wie ein Mann breitbeinig auf einem Pferd und zog in den Krieg. Das wäre eigentlich auch im langen Rock und mit langen Haaren möglich gewesen - zumindest hätten es die Gesetze der Physik erlaubt. Hosen sind für das breitbeinige Reiten keineswegs notwendig. Die alten Griechen konnten auch ohne Hosen problemlos reiten. Das Problem mit dem Rock beim Reiten ist rein kulturell. Wenn jemand im Rock reitet, zeigt die Person unabhängig vom Geschlecht die nackten Beine oder mehr. Was bei den alten Griechen noch als heroische Nacktheit der Männer gewertet wurde, galt im christlichen Mittelalter als unanständig. (Dass die antiken Griechen ihren Frauen weder das Reiten noch heroische Nacktheit erlaubten, ist mir bekannt.) Eine Person, die im Rock breitbeinig auf einem Pferd reitet, zeigt unabhängig vom Geschlecht ihre Blöße - im wahrsten Sinne des Wortes.

Betrachtet man die Rekonstruktionszeichnung von Marco Bakker fällt natürlich auf, dass Jeannes Hose unter dem langen Tappert kaum zu sehen ist. Der Vorwurf, Jeanne trage angenestelte Hosen, bezieht sich daher eher auf die Unterwäsche. Eigentlich handelt es sich nicht um eine Hose im heutigen Sinne, sondern um angenestelte Beinlinge.

Jeanne trägt die Kurzhaarfrisur und die Männerkleidung also in erster Linie aus symbolischen Gründen. Dabei bricht sie nicht nur die Geschlechtergrenzen, sondern auch Standesgrenzen, weil sich die Bauernstochter wie adeliger Fahnenjunker kleidet.
Der Nachwelt hat beides nicht gefallen. Daher hat man ihr nachträglich den Adelstitel D'Arc angedichtet und in der romantischen Historienmalerei erscheint sie als langhaarige Frau, die zur Rüstung oft auch einen Rock trägt
 
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Augenblick, ich komme nicht mehr mit.

Wie reizte Johanna "Geschlechtergrenzen" aus, wenn sie verbürgtermaßen von ihrem Umfeld als Frau wahrgenommen wurde, sich als Frau wahrnahm, selber Frauen in ihre sozialkonformen Rollen relegierte und außerdem betonte, keine Sonderrolle zu beanspruchen, sondern eine einmalige göttliche Aufgabe zu erfüllen?

Und wie hätte sich jede vermeidbare maskuline Konnotation, ob nun von Johanna oder dem Dauphin befördert, in die von Anfang an betriebe Überhöhung ihrer Jungfräulichkeit und weiblichen Reinheit gefügt?

Ich verstehe immer noch nicht: Wie begründet sich Deine Annahme, sie habe eine Kurzhaarfrisur und "Männerkleidung" aus symbolischen Gründen getragen? Werfen wir einen Blick in die Fechtbücher, sehen wir, dass etwa nach Hans Talhoffers fachkundiger Meinung Frauen zum Gerichtskampf dasselbe Kampfgewand wie ein Mann tragen sollten, Hosen inklusive. Denn: Alles andere wäre fürchterlich unpraktisch gewesen.

Die Beinfreiheit zu den Bewegungen, die selbst ein "Zuschauer" in einem Kriegsgebiet benötigt, ist in einem Kleid des spätmittelalterlichen Bauernstandes nicht gegeben. Mit einer Übergangsrüstung, wie sie zu Johannas Zeiten getragen wurde, hätte eine Kleid tragende Frau zwar Torso und Arme schützen können, nicht aber die Beine, deren Verletzung jedoch leicht zum Tod durch Verbluten führen kann.

Der spätere Karl VII. stellte Johanna eine Rüstung bereit, um sie in Sicherheit zu wissen, da ihr Tod das Ende seiner Ambitionen auf den Thron bedeutet hätte – so viel scheint gewiss. Es erscheint mir absolut nicht intuitiv anzunehmen, dass dieser Schutz seiner Meinung nach an Johannas Gürtellinie hätte enden sollen.

Ob die "alten Griechen" ohne Hosen reiten konnten, kommt mir unbedeutend vor; mit den im Mittelalter benutzten Sätteln und Steigbügeln stelle ich es mir freilich recht schwer vor. Die Entwicklung von Sonderformen des Damensattels bzw. -sitzes für die Jagd – bei der mitunter auch Edelfrauen rittlings ritten, was offenbar von ihrem Umfeld nicht als Ende der Welt angesehen wurde – weist mir nämlich stark darauf hin.

Die keineswegs konformistische Regentin Katerina von Medici jedenfalls zog ihre Art des Damensitzes dem gewöhnlichen Sattel vor, in dem rittlings zu sitzen ihr niemand hätte verbieten können.

Desgleichen die Frisur: der Topfschnitt des Spätmittelalters, von Heinrich V. ikonisch getragen, ist kein Ausdruck besonderer monastischer Frömmigkeit, wie etwa Viollet-le-Duc glaubte, sondern laut Ulrich Lehnart ('Kleidung und Waffen der Spätgotik III') praktische Konsequenz des Übergangs von Hirnhaube und darüber getragenem Topfhelm zu den enganliegenden geschlossenen Helmen ab der Beckenhaube.

Langes Haar war unter diesen Helmen dem Hören hinderlich, zudem schwitzte der Träger ohnehin schon gewaltig. Es gibt zwar die verschiedentlich rezipierte Anekdote, Johanna habe sich ihr Haar abgeschnitten, weil man sie als "Mädchen" nicht ernstgenommen habe, aber wahrscheinlicher ist meiner Meinung nach, dass sie, die auf ihre Weiblichkeit großen Wert legte, dies nicht selbst getan oder grundlos geduldet hat.

Meinem Verständnis nach wurde Johanna auf den Ort, an den sie sich begeben sollte, nach den Maßgaben vorbereitet, die man an Karls Hof kannte – da man sie selbst als sinnvoll und notwendig befolgt hätte.

Was den Adelstitel angeht, ist dieser wirklich angedichtet? Johannas Familie wurde meines Wissens nach in den untitulierten Adelsstand erhoben, mitsamt einem verbürgten Wappen, was sogar zu rechtlichen Streitigkeiten führte, als in den zwei Jahrzehnten nach Johannas Tod Hochstaplerinnen auftraten, die von sich behaupteten, die dem Scheiterhaufen entflohene Jungfrau von Orleans zu sein.

Nebenbei: Da es eine ganz ähnliche Diskussion im Strang 'Kriegerinnen unter den Wikingern' gibt, könnte man diese Erörterungen und Kommentare vielleicht zusammenlegen?
Ein Punkt ist jedoch unrealistisch. Die adrett gerüsteten Frauen haben offensicht Kettenhemden, Helme, Hosen, Tuniken und sogar Stiefel in genau ihrer Größe gefunden. Die physischen Unterschiede zwischen Mann und Frau lassen es nicht in der Regel nicht zu, dass Frauen einfach die Kleidung und Rüstung von Männern auftragen. Die Kleidung und Rüstung der Männer wird den Frauen in der Regel ein bisschen zu groß sein. Bei den Hosen und Tuniken ist das Problem noch leicht durch umkrempeln oder abschneiden lösbar. Schwieriger wird es natürlich bei Helm, Kettenhemden und Stiefeln.
Abgesehen davon, dass für die beschriebene List der Augenschein aus der Distanz genügt haben mag; so unrealistisch, scheint mir, ist die erwähnte Darstellung nun auch nicht. Rüstungsteile wurden seit jeher von Männern ererbt oder erbeutet, für deren Maße sie nicht gefertigt waren.

Ihre Anpassung ist nur eine Frage der Zeit und der vorhandenen Werkzeuge und Kenntnisse.

Kettenbrünnen ließen sich recht schnell abändern, indem man das Ringgeflecht Reihe um Reihe von unten nach oben auftrennte. Daher blieben sie beliebte Beutestücke, sogar als sie ihre Effektivität einzubüßen begannen. Anders als bei einem Plattenstück konnte sich der Finder seinen neuen Panzer selbst anpassen.
 
Nebenbei: Da es eine ganz ähnliche Diskussion im Strang 'Kriegerinnen unter den Wikingern' gibt, könnte man diese Erörterungen und Kommentare vielleicht zusammenlegen?
@-muck- wenn man das Thema übergreifend ändert, z.B. "Kriegerinnen in der europäischen Geschichte von der Antike bis zur Neuzeit unter besonderer Berücksichtigung der praesupponierten Geschlechterrollen", könnte man man sie alle in einen Topf werfen - ich fürchte aber, dass das zu einem Durcheinander aufgrund der Materialmenge und Verschiedenheit der historischen Gesellschaften führt, was die Diskussion dann zunehmend unübersichtlicher geraten lässt. Das gesellschaftliche Umfeld der vermeintlichen "Kriegerin" von Birka und der heiligen Johanna ist meiner laienhaften Ansicht nach zu sehr verschieden, um sinnvoll*) Vergleiche anzustellen.
_______
*) es sei denn, man verwendet beide, um a la Retrotopia in beide Vorstellungen des 21. Jhs. zu projizieren: dann können fiktiven Amazonen, Wikingerinnen, merowingischen und altenglischen Königinnen, der heiligen Johanna, der Landstörzerin Courage und gerne auch der Zarin Katharina die Große die Gemeinsamkeit stiftenden heutigen Vorstellungen zugeteilt werden...
 
Wie reizte Johanna "Geschlechtergrenzen" aus, wenn sie verbürgtermaßen von ihrem Umfeld als Frau wahrgenommen wurde, sich als Frau wahrnahm, selber Frauen in ihre sozialkonformen Rollen relegierte und außerdem betonte, keine Sonderrolle zu beanspruchen, sondern eine einmalige göttliche Aufgabe zu erfüllen?
Ich habe den Eindruck, du bist da einfach zu sehr in deiner Abwehr gegen moderne Strömungen gefangen. Es geht doch nicht darum, dass Jeanne eine Revolution (höchstens gegen englische Besatzer) angeführt hätte. Sie hat keine Genderdebatte geführt oder dergleichen. Nichts davon. Sie selbst hat die ihr in der ständischen Gesellschaft zugewiesenen Rollen als Bäurin und Frau verlassen, ohne diese grundsätzlich in Frage zu stellen. Es war kein Projekt individueller Identitätssuche, es ging nicht um die Umkrempelung der Ständegesellschaft oder der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Sie hat im Krieg Frankreich gegen England eine - mystische - Rolle angenommen, die außerhalb jeglicher Wahrscheinlichkeiten für eine junge Bäurin im ausgehenden Hochmittelalter lag und dies offenbar auch in ihrem äußerlichen Auftreten markiert.

Und wie hätte sich jede vermeidbare maskuline Konnotation, ob nun von Johanna oder dem Dauphin befördert, in die von Anfang an betriebe Überhöhung ihrer Jungfräulichkeit und weiblichen Reinheit gefügt?
Scheren sich nicht auch Nonnen, wenn sie das Gelübde ablegen, die Haare?


Ich verstehe immer noch nicht: Wie begründet sich Deine Annahme, sie habe eine Kurzhaarfrisur und "Männerkleidung" aus symbolischen Gründen getragen? Werfen wir einen Blick in die Fechtbücher, sehen wir, dass etwa nach Hans Talhoffers fachkundiger Meinung Frauen zum Gerichtskampf dasselbe Kampfgewand wie ein Mann tragen sollten, Hosen inklusive. Denn: Alles andere wäre fürchterlich unpraktisch gewesen.
Gestern hat @Naresuan ein Bild aus einer Augsburger Chronik in einem anderen Thread eingestellt. Das Bild zeigt die Eroberung Augsburgs durch die Amazonen ungefähr 1.200 v. Chr. Die sind nicht so gekleidet, wie man sich heute Amazonen vorstellt, sondern ganz züchtig, alle mit Zopf unter der Haube, in bodenlangen Kleidern. Natürlich wäre die Darstellung, wenn sie nicht eh ahistorisch wäre, völlig anachronistisch. Aber sie zeigt, wie sich ein Zeitgenosse Dhalhovers (Talhoffers) kämpfende Frauen vorstellte. Eben als Frauen mit Waffen. Das Bild ist auch deswegen interessant, weil die Verteidiger Augsburgs alle in eiserner Rüstung dargestellt sind, wohingegen die Amazonen bis auf Angriffswaffen und Schilde über keinerlei Rüstung zu verfügen scheinen (auch die Hauben scheinen eher textiler Natur zu sein, zumindest haben sie nicht die Farbe wie die Metallrüstungen der Verteidiger).

Dass Mann und Frau im Gerichtskampf dasselbe Gewand tragen SOLLEN, kann ich bei Thalhoffer nicht finden. Sicher, die beiden tragen dasselbe, dass es aber eine Verpflichtung dazu gäbe, steht dort nirgendswo.

Da statt Wie Man Vnd frowen
mitainander kempffen sollen Vnd
stand Wie in dem anfanng

Da statt die Frow
Fry vnd wyl schlahen vnd
hat ain stain In dem Sleer
wigt vier oder fünd pfund

So statt er In der
gruben bis an die
waichin vnd ist
der kolb als lang
als Ir der Schleer
von der hand

Das ist die Ausgangsstellung (der noch acht weitere Darstellungen nebst Kommmentierungen folgen). Von einer Kleiderordnung steht dort nichts. Der zweimal erwähnte Schleier (Sleer/Schleer) ist das Tuch, in dem sie als eine Art Keule, eine steinerne Kugel (ain stain) eingebunden hat.
Insgesamt ist das Fechtbuch ja eher sparsam mit Worten, diese ergänzen eigentlich nur die bildlichen Darstellungen. Wir können dem Buch eigentlich nur entnehmen, dass es wohl wahrscheinlich solche Gerichtskämpfe zwischen Mann und Frau gab. Wir wissen weder, ob das einigermaßen "normal" (im Rahmen dessen, was man als "normal" bezeichnen kann) oder ggf. nicht vielleicht einfach nur ein Kuriosum oder sogar nur eine theoretische Gedankenübung Thalhoffers war. Wir bräuchten also ergänzende Quellen zum intergeschlechtlichen Gerichtskampf.

Gerade Kuriosa haben immer wieder die Chance, es in die Historiographie zu schaffen. So wie in der Tageszeitung niemals stehen wird: "Im Habichtsweg ist gestern alles ruhig geblieben, die Polizei meldet keine Vorkommnisse", haben eben auch historiographische Texte ein Interesse an dem eher nicht alltgäglichen.

Für die thalhoffersche Darstellung des intergeschlechtlichen Gerichtskampfes könnte aber die Detailverliebtheit sprechen. Ich meine da z.B. die Darstellung der Füße (die des Mannes bekommt man ja nie zu sehen, weil der in seiner Grube verbleibt. Aber dafür sieht man die Füße der Frau: Beide Protagonisten tragen ein Ganzkörpergewand, welches mit einer eng anliegenden Kapuze am Kopf beginnt und - zumindest bei der Frau, mit einem Riemen, der ein Hochrutschen der Hose verhindert, unter dem Fuballen endet. Eine solche realistische Detailliertheit könnte für den historischen Hintergrund der Darstellung sprechen.
 
(1) Ich habe den Eindruck, du bist da einfach zu sehr in deiner Abwehr gegen moderne Strömungen gefangen.
(2) Es geht doch nicht darum, dass Jeanne eine Revolution (höchstens gegen englische Besatzer) angeführt hätte. Sie hat keine Genderdebatte geführt oder dergleichen. Nichts davon. Sie selbst hat die ihr in der ständischen Gesellschaft zugewiesenen Rollen als Bäurin und Frau verlassen, ohne diese grundsätzlich in Frage zu stellen. Es war kein Projekt individueller Identitätssuche, es ging nicht um die Umkrempelung der Ständegesellschaft oder der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern. Sie hat im Krieg Frankreich gegen England eine - mystische - Rolle angenommen, die außerhalb jeglicher Wahrscheinlichkeiten für eine junge Bäurin im ausgehenden Hochmittelalter lag und dies offenbar auch in ihrem äußerlichen Auftreten markiert.
(1) sehe ich nicht so wie du
(2) völlige Zustimmung, insbesondere zu den fett markierten Zitatteilen.
Wenn wir bei (2) inhaltlich einig sind, dann könnten wir auch darin einig sein, dass "moderne Strömungen" (wenn nicht gar modische solche), deren Erkenntnisinteresse nicht in der Deskription, Deutung und Erforschung historischer Zusammenhänge etc besteht, bestenfalls eine subalterne Rolle in dieser Diskussion haben. Wenn ich nun ergänze, dass Jeanne d'Arc auch keine "Cross-dressing"- und "Cross-gender"-debatten geführt hat, dann schließe ich daraus, dass diese Begriffe nicht besonders hilfreich sind: sie hat auch keine Debatte über Mehrstimmigkeit in Schlachtgesängen geführt, folglich kann ich ihr nicht unterstellen, sie hätte für ihre Truppen im Schlachtgesang modale Wendungen ausgeklammert - - an der Analogie zu Musikkrempel wird es vielleicht deutlich: nicht alle heutigen "modernen Strömungen" und moderne Kenntnisse (z.B. über die Mehrstimmigkeit und Harmonik der spätmittelalterlichen Musik) sind überall passend.
 
Das Problem dürfte darin liegten, dass Maglor und ich den Begriff Cross-Dressing als beschreibenden Begriff nutzen, während -muck- und du den Begriff als ideologisch-politischen Kampfbegriff versteht und auch so benutzt.
 
Es müsste Klarheit hergestellt werden, welcher Gebrauch des Begriffs Cross-Dressing der angemessene ist. Ich muss zugeben, dass mich ein rein neutraler deskriptiver Gebrauch als korrekter Gebrauch nicht überzeugt: einmal leuchtet mir nicht ein, weshalb dieser Anglizismus plötzlich die schlichte "Verkleidung" und "Kostümierung" ersetzen soll, zum anderen tauchen in allen fachkundigen "Erläuterungen" dieses Begriffs Wertungen und Inhalte auf, die z.B. zur Zeit von Jeanne d'Arc weder gebräuchlich noch bekannt waren (wie du selber in deinem Beitrag ja erläutert hattest! Sie führte keine Debatte über Geschlechteridentität usw.)
Spaßeshalber habe ich gerade nachgelesen, was die Fachstelle Gender & Diversität NRW (gefördert vom Ministerium für Kinder, Familie, Flüchtlinge und Integration des Landes Nordrhein-Westfalen) (dieser lange Name ist nicht meine Erfindung) und was wikipedia unter dem Begriff Cross-Dressing verstehen - das ist nun wirklich kein neutral deskriptiver Gebrauch im Sinne von Verkleidung, sondern es geht da immer auch wenn nicht zentral um Geschlechteridentität und Geschlecht als soziales Konstrukt und den Umgang damit. (soll ich das zitieren, oder stört das hier?)
wie gesagt: ist der Begriff beschreibend oder enthält er eine Be-Deutung, die über das banale kostümieren hinaus geht?
 
Es müsste Klarheit hergestellt werden, welcher Gebrauch des Begriffs Cross-Dressing der angemessene ist. Ich muss zugeben, dass mich ein rein neutraler deskriptiver Gebrauch als korrekter Gebrauch nicht überzeugt: einmal leuchtet mir nicht ein, weshalb dieser Anglizismus plötzlich die schlichte "Verkleidung" und "Kostümierung" ersetzen soll,

Weil Verkleidung/Kostümierung und Cross-Dressing semantisch verschiedene Dinge sind.

Verkleidung oder Kostümierung sind entweder karnevalistisch oder man verkleidet sich, um nicht erkannt zu werden. Also der Herrscher der in romantischen Märchen als Bauer verkleidet durch die Stadt geht und sich anhört, was seine Landsleute (über ihn) zu meckern haben. Es geht dabei darum, nicht als derjenige erkannt zu werden, der man ist.

Beim Cross-Dressing geht es nicht darum nicht erkannt zu werden. Man ist die Person, die man immer war, für jedermann erkennbar. Man bleibt Jeanne. Aber man geht aus der Rolle
{+Frau} {+Bauer}
heraus und wird zur
{+Jungfrau}{+Mystik}

Nicht jedes dahergelaufene Bauernmädchen hätte das geschlagene französische Heer aus seiner Depression herausholen können, das konnte nur eine charismatische Person, die aus Sicht der Zeitzeugen mit einem göttlichen Auftrag unterwegs war und die entsprechende Aura hatte. Diese Person wird für alle sichtbar gleichzeitig ihrer Geschlechlichkeit entrückt und als keusche Jungfrau präsentiert (wie die Jungfrau Maria auch auch immer, bis die Jungfrau blieb und aller Geschlechtlichkeit entrückt war), zudem wird sie ihrem Stand entrückt, der ist nur noch Herkunft, aber nicht Bedeutung.
 
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