Entwicklung kleinrussische Sprachen

Woher weiß man das speziell bei Gogol?
Steht hier:
Der russische Literaturkritiker Wassili Hippius vertrat 1924 in einem Artikel die Ansicht, dass in Gogols Familie jedoch weiterhin Ukrainisch gesprochen wurde. Gogols Vater Vasyl schrieb ukrainische Theaterstücke, und seine Mutter, so der ukrainische Gelehrte Volodymyr Zvynyatskovskyi, "beherrschte nie die Moskauer Fremdsprache".

Gogol selbst betrachtete die ukrainische Sprache als seine Muttersprache, was in seinem Briefwechsel mit seinem ukrainischen Freund, dem Rektor der Kiewer Universität Mykhailo Maksymovych, deutlich wird. In einem Brief vom 20. April 1834 analysiert Gogol die Funktion einiger Wörter, die Maksymovych auf Russisch und Ukrainisch verwendet. Zweitere nennt Gogol "unsere Sprache".
Микола Гоголь як провідник української культури у світ (ч. 1)
Dass er, wie auch viele "russische" Schriftsteller, das Zarenreich des 19. Jhs. mit satirischem Spott karikiert hatte, ist kein Argument, denn dann müssten Dostojewski, Tolstoi, Turgenev usw auch irgendwas anderes als "russisch" sein...
Gogol schreibt oft, anders als Dostojewski oder Tolstoj, aus der Perspektive eines Aussenseiters. Das wird z.B. in der Gegenüberstellung der "idyllischen" ukrainischen Verhältnisse mit der "düsteren" Atmosphäre Sankt-Petersburgs deutlich.
Zweifel habe ich auch daran, dass russisch als Verwaltungssprache erst "kurz vor" dem 19. Jh. entstanden sein soll (oder habe ich da was missverstanden?)
Die russische Literatursprache hat sich (Ende des 18., Beginn des 19. Jhd.) gerade aus der Ablehnung der rigiden Verwaltungssprache und des zeremoniellen Kirchenslawischen entwickelt. Die moderne russische Schriftsprache ist aus einer Kombination der damaligen adligen Vernakulärsprache und des Kirchenslawischen hervorgegangen.
 
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...eine 1924 von einem Literaturkritiker verfasste "Ansicht" hat unter literaturwiss. Perspektive keine sonderlich hohe Aussagekraft, insbesondere stellt sie keine Quelle dar.

Was du zu den Perspektiven (Gogol vs. Dostojewski) äußerst, kann ich nicht nachvollziehen, denn "arme Leute", "Aufzeichnungen aus einem toten Haus", "die Sanfte", "Aufzeichnungen aus einem Kellerloch" sind sehr wohl Außenseiterperspektiven (um nur ein paar wenige Texte von Dostojewski zu nennen) - und zuguterletzt sind "erzählerische Außenseiterperspektiven" kein Argument, welches diesen von jenem Schriftsteller ethnisch unterscheiden könnte ((ganz krass: was müsste der Autor der krankhaften Außenseiterperspektive im Roman Lolita sein?...)) übrigens sind die "toten Seelen" in Sachen Erzählperspektive auktorial gehalten, da erzählt kein "Außenseiter".

Noch überzeugt mich hier nichts, was Gogol aus der russischen Weltliteratur in edlere Gefilde katapultieren könnte. Sein Werk ist hochartifiziell, künstlerisch gekonnt, in russischer Sprache verfasst, und nirgendwo gibt es einen Beleg, dass der Autor diesen Umstand beklagt hätte.
 
„Wir Kleinrussen und Großrussen brauchen eine gemeinsame Dichtung, eine ruhige, starke und unvergängliche Dichtung der Wahrheit, Güte und Schönheit. Der Kleinrusse und der Großrusse, das sind die Seelen zweier Zwillinge, die einander ergänzen, eng verwandt und gleich stark sind. Es ist unmöglich, der einen auf Kosten der anderen den Vorzug zu geben.“ Nicolai Gogol zitiert aus wiki.

Erwähnenswert in diesem wiki-Artikel finde ich den angerissenen "Kulturkampf" zwischen kleinrussischer und ukrainischer Selbstwahrnehmung im 19. Jahrhundert, isb im habsburgischen Galizien. Dort gab es seitens der Obrigkeit ein verstärktes Interesse, die ukrainische Selbstwahrnehmung zu fördern, um russophilen Tendenzen im Königreich Galizien und Lodomerien entgegenzuwirken.
Gogol scheint sich jedenfalls dem Zitat zufolge damals als "Kleinrusse" wahrgenommen zu haben, der das Russische als Literatursprache bewusst gewählt hat.
MMn konnte man im 19. Jahrhundert mit der Russischen Sprache viel mehr Menschen erreichen als mit der sich gerade verschriftlichenden Ukrainischen Sprache. Ob diese größere "Reichweite" auch Gogols Entscheidung beeinflußt hat, auf Russisch zu schreiben, weiß ich nicht.
 
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Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits erste Werke in ukrainischer Schriftsprache, z.B. von Kotljarewsky.
Gogol hätte also durchaus auf Ukrainisch schreiben können. Die literarischen Fertigkeiten dazu dürften bei ihm vorhanden gewesen sein. Es ist also unangebracht, hier von einem "selbstverständlichen" Gebrauch des Russischen zu reden. Dass Gogol auf Russisch schrieb, ist die Konsequenz der kulturellen und linguistischen Russifizierungspolitik des Zarenreiches.
Gogol und Kotljaewsky schreiben eigentlich über die gleichen Themen. Es geht beiden um ukrainische Folklore und Kosakenschwänke. Nur Gogol schrieb eben auf russisch.

Zur zeitlichen Einordnung:
Kotljarewsky ist tatsächlich der erste Literat, die in ukrainischer Sprache schrieb.
Er gilt als Pionier der modernen ukrainischen Schriftsprache. Erste Gedichte auf ukrainisch veröffentliche er bereits Ende des 18. Jahrhunderts.

Mit dem Emser Erlass von 1876 wurde Literatur und Theater in Ukrainischer Sprache im zaristischen Russland verboten. Das Verbot blieb bis 1905 in Kraft.

Zu Gogol Schaffenszeit (1830er, 1840er) war die ukrainische Schriftssprache erst ein paar Jahrzehnte alt und es wäre Gogol erlaubt gewesen in dieser brandneuen Schriftssprache zu publizieren. Er tat es aber nicht, weil seiner Meinung nach die Großrussen und Kleinrussen eine gemeinsame Literatur haben sollen. Gogol schrieb für Kleinrussen und Großrussen und deshalb verwendete er die russische Sprache.
 
...eine 1924 von einem Literaturkritiker verfasste "Ansicht" hat unter literaturwiss. Perspektive keine sonderlich hohe Aussagekraft, insbesondere stellt sie keine Quelle dar.
Ihre oben geäusserte "Vermutung", Gogols Muttersprache sei Russisch, stellt allerdings auch keine Quelle dar.
Sie werden mich also entschuldigen, wenn ich der Meinung des von mir zitierten Artikels folge, zumal diese Auffassung von vielen Spezialisten geteilt wird.
zuguterletzt sind "erzählerische Außenseiterperspektiven" kein Argument, welches diesen von jenem Schriftsteller ethnisch unterscheiden könnte
Ich meinte keine "erzählerische Außenseiterperspektive", sondern die Perspektive eines Exil-Ukrainers. Dass sich Gogol als solcher gefühlt hat, geht aus zahlreichen Briefen hervor.
Noch überzeugt mich hier nichts, was Gogol aus der russischen Weltliteratur in edlere Gefilde katapultieren könnte.
Das steht hier überhaupt nicht zur Debatte. Es geht um die Frage, ob sich Gogol auch des Ukrainischen hätte bedienen können, und warum er es nicht tat. Die Antwort auf Letzteres ist relativ einfach: weil das Ukrainische als Schriftsprache verboten, später unterdrückt und als Bauerndialekt verunglimpft wurde, somit einer literarischen Karriere kaum dienlich sein konnte.
Was Ihren zur Schau gestellten Hohn der ukrainischen (ukrainischsprachigen) Literatur gegenüber betrifft, so rührt er vielleicht daher, dass Ihr mit fraglicher Lyrik noch nicht in Berührung gekommen seid. Ich kann Ihnen nur empfehlen, z.B. Taras Schewtschenko zu lesen.
Ob es sich bei der russischen Literatur tatsächlich um "Weltliteratur" handelt oder um eine (durchaus geniale) Adaptation westeuropäischer Modelle, bleibt hier dahingestellt.
 
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Ihre oben geäusserte "Vermutung", Gogols Muttersprache sei Russisch, stellt allerdings auch keine Quelle dar.
Die Frage nach Gogols Muttersprache ist nicht einfach zu beantworten. Hier muss die gesprochene Sprache von der Schriftsprache unterschieden werden.
Es muss sicherlich angenommen, dass Gogol in der Schule die russische Schriftsprache erlernte, weil es ja noch keinen Ukrainisch-Unterricht geben konnte.
Eigentlich spricht alles dafür, dass Gogols Muttersprache Ukrainisch war. Gogols Geburtsort war Welyki Sorotschynzi liegt im zentralukrainischen Oblast Poltawa. Laut aktuellen Volkszählungen sind über 90 % der Bevölkerung des Oblasts Poltawa ethnische Ukrainer und sprechen ukrainisch. Gogol behauptete ebenso wie Kotljaewsky von Kosaken abzustammen, war jedenfalls sicherlich ein Einheimischer.
 
Was Ihren zur Schau gestellten Hohn der ukrainischen (ukrainischsprachigen) Literatur gegenüber betrifft
die habe ich nirgendwo verhöhnt!
Allerdings hege ich erhebliche Zweifel daran, Gogol (wie auch Bulgakov und Prokovev) aus der russischen Kulturgeschichte zu streichen und zu Künstlern der ukrainischen Kultur zu deklarieren.

Ob es sich bei der russischen Literatur tatsächlich um "Weltliteratur" handelt oder um eine (durchaus geniale) Adaptation westeuropäischer Modelle, bleibt hier dahingestellt.
nur ein Gegenbeispiel: welches westeuropäische Roman- oder Erzähltechnikmodell adaptiert Dostojewki in den "Dämonen"? (die komplexe Struktur dieses "polyphonen Romans" habe ich bewußt ausgesucht) Im Gegenteil waren die Erzählstrukturen/techniken Dostojewskis anregend für die europäischen Literaturen nach dem erscheinen seines Werks.

Wenn hier die historische Entwicklung der ukrainischen Sprache diskutiert werden soll (was ich für sehr konstruktiv halte), dann werden erstens russisch schreibende Literaten des 19. Jhs. zu diesem Thema wenig bis nichts beitragen und eine Gegenüberstellung a la "russische vs. ukrainische Kulturleistungen" (womöglich garniert mit antirussischen und pro-ukrainischen Sottisen) erhellt ebenfalls nichts.
 
die habe ich nirgendwo verhöhnt!
Oh, ich bitte um Verzeihung. Sie meinten also folgenden Satz durchaus wörtlich und ohne höhnische Hintergedanken:
Noch überzeugt mich hier nichts, was Gogol aus der russischen Weltliteratur in edlere Gefilde katapultieren könnte.
Jetzt schreiben Sie aber, dass Sie Gogol lieber als Teil der russischen, nicht der ukrainischen Kulturgeschichte sehen möchten.
Vielleicht können wir uns ja, ganz ohne pro-russischen Sottisen, darauf einigen dass er beides ist: Ukrainer und Russe.
nur ein Gegenbeispiel: welches westeuropäische Roman- oder Erzähltechnikmodell adaptiert Dostojewki in den "Dämonen"? (die komplexe Struktur dieses "polyphonen Romans" habe ich bewußt ausgesucht) Im Gegenteil waren die Erzählstrukturen/techniken Dostojewskis anregend für die europäischen Literaturen nach dem erscheinen seines Werks.
Dostojewski ist für mich der grösste Schriftsteller aller Zeiten. Er hat aber keine neue Literaturform geschaffen, sondern hat sich existierender (in erster Linie französischer und deutscher) Modelle bedient.
It is tempting to believe that the Russian novel is canonized world-wide because of its intrinsic literary qualities, but the example of Dostoevsky suggests that this might be only a part of the explanation. Not until Europe’s dominant literatures were struck by a crisis in the 1880s was considerable attention paid to Dostoevsky outside of Russia. However, in the first stage, he was only found interesting as far as he could be used as an innovating literary model to defuse the literary crisis.
Europe’s conquest of the Russian novel: the pivotal role of France and Germany
 
Jetzt schreiben Sie aber, dass Sie Gogol lieber als Teil der russischen, nicht der ukrainischen Kulturgeschichte sehen möchten.
Für Gogol war eine Trennung unangebracht. Er definierte sich selbst als Kleinrusse und damit als Teil eines gemeinsamen Russlands mir einer Schriftsprache und eben nicht als Ukrainer losgelöst von Russland. Das ist eine Debatte, die im 19. Jahrhundert geführt wurde und allerspätestens mit der Gründung der Ukrainischen SSR als Teil der UdSSR zugunsten der Ukrainischen Selbstdefinition beendet wurde.
Dass heutzutage Putin die Uhr zurückdrehen will und aus imperialistischen Gründen eine längst beendete Debatte auf die Tagesordnung zu holen versucht, ist überflüssig, sollte uns aber nicht stören, wenn wir über historische Entwicklungen sprechen und nicht über Tagespolitik.

Es geht um die Frage, ob sich Gogol auch des Ukrainischen hätte bedienen können, und warum er es nicht tat. Die Antwort auf Letzteres ist relativ einfach: weil das Ukrainische als Schriftsprache verboten,
War sie zu Gogols Zeiten (gestorben 1852) eben nicht, sonst hätte es 1876 keines Emser Erlasses bedurft.
Mit dem Emser Erlass von 1876 wurde Literatur und Theater in Ukrainischer Sprache im zaristischen Russland verboten. Das Verbot blieb bis 1905 in Kraft.
 
Ich hatte nichts Gegenteiliges behauptet:
Es geht um die Frage, ob sich Gogol auch des Ukrainischen hätte bedienen können, und warum er es nicht tat. Die Antwort auf Letzteres ist relativ einfach: weil das Ukrainische als Schriftsprache [zuerst] verboten, [Dekret Peters I. 1720] später [= zu Gogols Zeiten] unterdrückt und als Bauerndialekt verunglimpft wurde, somit einer literarischen Karriere kaum dienlich sein konnte.
 
darauf einigen dass er beides ist: Ukrainer und Russe.
ein russisch schreibender Literat ukrainischer Herkunft, also Ukrainer und Russe.

(1) Dostojewski ist für mich der grösste Schriftsteller aller Zeiten.
(2) Er hat aber keine neue Literaturform geschaffen, sondern hat sich existierender (in erster Linie französischer und deutscher) Modelle bedient.
(1) so weit würde ich nicht gehen, aber ich teile die Hochschätzung!
(2) das ist für mich kein Kriterium, denn auf wen trifft das denn zu? (Joyce hat weder den Roman, noch den Bewußtseinsstrom erfunden usw) - "die Dämonen" haben formal/erzähltechnisch weder französische noch deutsche Vorbilder.

Sie meinten also folgenden Satz durchaus wörtlich und ohne höhnische Hintergedanken:
...nicht so bierernst nehmen! Meine kleine humorige Spitze (edlere Gefilde als russische Weltliteratur) war der zwischen den Zeilen latenten negativ-russisch vs positiv-ukrainisch Stimmung geschuldet.
 
Gut, versuchen wir, uns hier nicht allzu ernst zu nehmen. Den Vorschlag nehme ich gerne an. ;)
Es kann auch von meiner Seite aus keine Rede davon sein, Russland nur negativ und die Ukraine nur positiv zu bewerten.
Dennoch: der Krieg hat (für alle Ukrainer, für viele Russen, für mich persönlich, und natürlich auch weit darüber hinaus) enorme Auswirkungen. Es ist schön, dass wir hier friedlich in einem Internetforum über Gogols doppelte Identität diskutieren können. Für die Ukrainer haben solche Fragen aber im Moment geradezu existenzielle Bedeutung. Es geht nicht darum, eine antirussische Stimmung anzuheizen, eher darum ein Gefühl dafür zu vermitteln, was für die Ukrainer gerade auf dem Spiel steht. Ihre Geschichte, Sprache und Dichter von Russland vereinnahmen zu lassen wäre momentan kultureller Selbstmord. Daher diese mit Klauen und Zähnen geführte Verteidigung von allem Ukrainischem, selbst bei "symbolischen" oder "überflüssigen" Themen wie Gogols Muttersprache. Dass viele Westeuropäer diesen Drang missverstehen, dass sie noch Begriffe wie "Kleinrussisch" als synonym für "Ukrainisch" benutzen und den Schaden darin nicht sehen, beweist wie sehr die Wahrnehmungen hier auseinanderliegen.
 
Es gab zu diesem Zeitpunkt bereits erste Werke in ukrainischer Schriftsprache, z.B. von Kotljarewsky.
Gogol hätte also durchaus auf Ukrainisch schreiben können. Die literarischen Fertigkeiten dazu dürften bei ihm vorhanden gewesen sein. Es ist also unangebracht, hier von einem "selbstverständlichen" Gebrauch des Russischen zu reden.
Dann kannst Du das vermutlich auch nicht verstehen:

"Es ist selbstverständlich, daß Frisch mit Deutschschweizern Mundart spricht. Es ist selbstverständlich, daß er hochdeutsch schreibt."

Die Sprache Max Frischs in der Spannung zwischen Mundart und Schriftsprache

(Dabei waren seinerzeit schon seit Jahrzehnten Romane auf Schwyzerdütsch im Umlauf...)
 
Dann kannst Du das vermutlich auch nicht verstehen:
Deine insinuierten Beleidigungen kannst du dir sparen. Mir scheint, du bist hier derjenige der schwer von Begriff ist. War die Schweiz eine deutsche Kolonie? Wurde Schwyzerdütsch jemals verboten? Wäre bzw. ist es der literarischen Karriere Max Frischs abträglich gewesen, auf Schwyzerdütsch zu schreiben? Nein? Dann ist das auch in keiner Weise vergleichbar.
 
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Daher diese mit Klauen und Zähnen geführte Verteidigung von allem Ukrainischem, selbst bei "symbolischen" oder "überflüssigen" Themen wie Gogols Muttersprache.
Das mag einerseits verständlich sein, aber wo es andererseits mit historischen Fakten kollidiert, muss man aus Sympathie nicht zwingend zustimmen.

Prokovev oder Bulgakov ins dezidiert "ukrainische" a posteri einzugemeinden, hinterlässt den Beigeschmack von Klitterung. Ist russischsprachige Literatur, wenn sie in Sibirien verfasst wurde (T. Aitmatov, V. Rasputin), deswegen sibirisch und nicht mehr russisch? Ist russischsprachige Literatur, wenn sie auf heutigem ukrainischen Territorium, aber im 19.Jh. - also im russischen "Zaren"-Imperium, dessen Amtssprache russisch war - verfasst wurde sozusagen an die Scholle gebunden?

Literatur vollzieht sich nun mal in Sprache, und eine Sprache kann von mehreren Ethnien, mehreren Staaten sogar, verwendet werden. Und oft genug sind im Lauf der Geschichte aus politisch-territorialen Gründen Sprachen verboten bzw. Sprachen durchgesetzt/verordnet worden: in Frankreich das okzitanische verboten, im dt. Kaiserreich das sorbische verboten, im russischen Imperium das ruthenische/ukrainische, das weißrussische usw. Und das führt zu einigen Zuordnungsschwierigkeiten: ist Adam Mickiewizc die Krone der belorussischen oder der polnischen Literatur? Mickiewizc war im heutigen Belarus geboren, schrieb aber polnisch und war in Paris das Sprachrohr der Exilpolen.

Aufgrund seiner territorialen Ausdehnung war das russische Kaiserreich ein wirklicher "Vielvölkerstaat": https://de.wikipedia.org/wiki/Russisches_Kaiserreich#Bevölkerung (nur als kleine Anregung) und darin:
Das staatstragende Volk waren die Russen („Großrussen“), wobei auch Ukrainer(„Kleinrussen“) und Belarussen als integraler Bestandteil eines dreieinigen russischen Volkes angesehen wurden.
obendrein:
Das Aufkommen einer neuen Staatsideologie im Zarentum Russland war mit der Integration der Linksufrigen Ukraine in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts verbunden.[2] Die Idee einer Vereinigung der Ukraine und Russlands war nicht von der Moskauer Regierung aufgezwungen, sondern ursprünglich ukrainisch. Derartige Bestrebungen begannen bereits im späten 16. Jahrhundert im Zusammenhang mit der Diskriminierung der Orthodoxie in Polen-Litauen und setzten sich im Verlauf des 17. Jahrhunderts bis zum Chmelnyzkyj-Aufstand fort.[2] Das einflussreiche Buch Kiewer Synopsis des Archimandriten des Kiewer Höhlenklosters Innozenz Gieselenthielt eine Beschreibung der alten Einheit der „russischen Völker“. Moderne Forscher sehen dieses Werk als den Beginn der historischen Konzeption des altrussischen Volkes.[3] In den folgenden hundert Jahren spielte Synopsis die Rolle einer spirituellen Verfassung der vereinigten Länder.[2]
aus https://de.wikipedia.org/wiki/Dreieiniges_russisches_Volk
...ja... das ist "nur" Wikipedia - ich habe zum schnell zitieren leider keine 100 Bände seriöse Osteuropageschichte online verfügbar oder auf dem PC, darum mögen die zwei Zitate als Ansatz aufgefasst werden.

Soweit in groben Zügen die historischen Voraussetzungen oder Umrisse für Gogol in der 1. Hälfte des 19. Jhs. Daraus wird ersichtlich, dass zu diesem Zeitpunkt - also als Gogol sein literarisches Werk verfasste - nicht zwingend von einem scharfen totalen Gegensatz russisch-ukrainisch auszugehen ist. Gogol scheint wie etliche seiner Zeitgenossen nicht der ukrainischen Nationalbewegung angehört zu haben, welche übrigens erst in der 2. Hälfte des 19. Jhs. administrativ unterdrückt wurde.

Die Sprachgeschichte (wie entwickelten sich die slawischen Sprachen) steht auf einem anderen Blatt - eigentlich sollte diese das Thema das Fadens sein.

Der derzeitige, so gräßliche wie beschämend blöde Krieg - damit haben weder Gogol noch Prokovev irgendetwas zu tun. Und zur nationalen ukrainischen Identität dürften beide ebenfalls wenig beitragen.
 
Ich habe vor ein paar Jahren Gogols vierteiligen Erzählband "Mirgorod" gelesen. Alle vier Erzählungen spielen in der heutigen Ukraine. Gogol benutzt allerdings nicht das Wort Ukraine oder Ukrainer, sondern spricht immer von Kleinrussland, den Kleinrussen oder schlicht den Russen, weil für ihn unzweifelhaft war, dass Kleinrussen und Großrussen eine Nation waren. Die Erzählungen sind folkloristisch und lokalpatriotisch - jedoch mit Augenzwinkern.
Besonders aufgefallen ist mir die offene Hetze gegen Polen, Juden und Tataren in der Erzählung "Taras Bulba", wobei die blutdürstigen Kosaken nach meinen Eindruck eher wie Karikaturen rüberkommen. Einen Konflikt zwischen Russen und Kleinrussen gibt es in den Erzählungen nicht.

Zur Wahrheit aller Nationalismen gehört, dass die Nationen von Menschen gemacht werden und relativ sind. Gerade im 19. Jahrhundert gab es in Osteuropa verschiedene Vorstellungen, wo die eine Nation aufhört und wo die andere anfängt.

Sehr informativ zum Umgang mit Gogol in der unabhängigen Ukraine ist dieser Text des russischen Historikers Andrej Martschukow aus dem Jahr 2009:
http://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Russland/gogol.html
Es geht hier auch um eine neuerliche Übersetzungen seines Werkes in die ukrainische Sprache. Ob die Übersetzung jetzt wirklich so notwendig ist, ist die andere Frage. Wahrscheinlich würde ja eine Anpassung an die ukrainische Rechtschreibung genügen, aber es geht auch um die Inhalte.
 
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Es geht hier nicht darum, auf die Person genau herunterzurechnen, wer sich Ruthener nannte, wer Kleinrusse, usw.
Dass die schriftlosen Bauern kein Zeugnis davon hinterlassen haben, wie sie sich nannten, ist richtig. Es gibt aber indirekte Hinweise

Verzeihung mal bitte, du bist derjenige, der hier laufend damit Argumentiert, dass sich die Merhheit der Bewohner dieses Landstrichs in einer bestimmten Weise identifizierte und dass die kleinrussische Identität lediglich ein Randphänomen gewesen sei.
wenn du darauf weiterhin bestehen möchtest, darfst du sehr gerne erklären, wie du zu dieser Vorstellung kommst.

Das historische Institut der Ukraine geht jedenfalls davon aus, dass sie sich generell als Ruthener sahen, auch wenn sie sich in erster Linie lokalen Zugehörigkeiten verbunden fühlten.
Das ist ja ganz nett, nur müsste dann auch das historische Institut der Ukraine dann auch einmal plausibel erklären, wie es zu dieser Schlussfolgerung kommt.

Was die schriftlichen Quellen angeht, deutet einiges darauf hin dass sich eine Mehrzahl der schriftkundigen Ukrainer als "Ruthener" identifizierte.
Naja, wie viele Bewohner der damaligen Ukraine waren denn im 18. und frühen 19. Jahrhundert schriftkundig? 10% Wenn es hoch kommt?
Selbst wenn man mal unhinterfragt hinnimmt, dass dem so gewesen sei (woran realiter einige Fragen zu stellen wären), würde uns diese Mehrheit darüber etwas sagen, wie sich gegebenenfalls 5-10% der damaligen Bevölkerung identifiziert haben.
Das ist keine Basis um auf irgendwelche deutlichen Mehrheiten in der Bevölkerung zu schließen, zumal es ja durchaus keine Seltenheit wäre, wenn die Gebildeten Schichten ein etwas anderes Selbstverständnis gehabt hätten, als die weniger Gebildeten.

Das trägt so nicht.

Sicherlich, aber mit dem Unterschied dass die litauische Periode institutionnell, juristisch und demographisch in weiten Teilen eine Kontinuität zur Kiewer Rus' aufweist. Das Siegel des Gediminas (1316-1341) trägt z.B. die Inschrift Letphanorum Ruthenorumque rex (König der Litauer und Ruthenen). Kasimir (1440-1492) nannte sich Beherrscher des gesamten litauischen Landes (...) und vieler ruthenischen Lande. Der aus dem 11. Jahrhundert stammende Gesetzeskodex der Русьская Правда (Russisches Recht) ist in Teilen der Ukraine und Weißrusslands bis 1842 gültig geblieben.

Worüber versuchst du hier mit mir zu diskutieren?
Das es in mittelalterlichen Kontexten relativ selten vorkam dass massiv in die Gewohnheiten und Rechtsgepflogenheiten eines eroberten Territoriums eingegriffen wurde?
Natürlich passierte dass nicht, weil es ja schlicht noch keinen zentralisierten Verwaltungsapparat gab, der solche Eingriffe hätte leisten können.
Es macht relativ wenig sinn die Herrschaftstechniken des 14. Jahrhunderts mit denen des 19. Jahrhunderts gleichsetzen zu wollen.

Es stimmt natürlich, dass sich nach der Union von Krewa (1385) die litauischen und ruthenischen Eliten zunehmend dem polnischen Katholizismus zuwandten. Das hatte aber keine Auswirkungen auf die Sprachpolitik (das Ruthenische blieb im Osten Amtssprache) und die ruthenische Bevölkerung durfte, weitgehend unbehelligt, orthodox beiben.

Das die Bevölkerung weitgehend unbehelligt orthodox bleiben durfte, ändert allerdings nichts an der zunehmenden Degradierung der orthodoxen Christen in der sozialen Hackordnung.

Auswirkung auf welche Sprachpolitik hätte es haben sollen? Das sich Staaten mit dezidierter Sprachpolitik im Rahmen der Durchsetzung einer bestimmten Sprache überhaupt befassen ist letztendlich ein Phänomen vor allem des 19. Jahrhunderts.
Als das und auch eine flächendeckende Zensur tatsächlich begannen wirkmächtig zu werden war Polen-Litauen bereits von der politischen Landkarte verschwunden.

Insofern versuchst du hier erneut vormoderne mit modernen Herrschaftstechniken in einen Topf zu werfen, was Unsinn ist.

Es gibt Texte aus Wolhynien aus dem 14. Jahrhundert, die man bereits als archaisches Ukrainisch, also voll differenziertes Altukrainisch bezeichnen kann. Dass in den Chroniken immer nur von Ruthenisch die Rede ist, ist ja klar. Es gab aber schon ab dem 14. und 15. Jahrhundert drei verschiedene "ruthenische" Schriftsprachen, die wir heute als altrussisch, altukrainisch und altbelarussisch identifizieren können.

Ob es linguistisch sinnvoll ist, dass als "altukrainisch" zu bezeichnen, lasse ich hier mal außen vor.

Die Problematik deiner Argumentation sollte dir doch selbst ins Auge fallen.
Das historische Wolhynien gehört zu beträchtlichen Teilen zum heutigen Belarus, womit wir dann wieder bei Abgrenzungsproblemen wären.
Wenn du das als Beweis einer Ukrainischen Identität anführen möchtest, müsstest du damig gleichzeitig postulieren, dass sich im Übrigen auch die Belorussen als "Ukrainer" betrachtet hätten und das würde ich vorsichtig formuliert als eine extrem steile These betrachten.

Diese Aufassung ist leider - auch unter Historikern - weit verbreitet. Und nicht nur in Russland.
Dann nenn mir mal ein paar namenhafte Historiker außerhalb Russlands, diese Formen russischer Propaganda heute verbreiten würden. Ich kenne keine.
 
Was ursprünglich damit gemeint war, ist hier nebensächlich. "Neger" war ja ursprünglich auch kein Schimpfwort.
Was zählt ist, dass dieser Begriff heute von der russischen Propaganda gebraucht wird, um die Ukrainer zu schmähen und zu erniedrigen. Ich denke das ist ein ausreichender Grund, um diesen Begriff zu vermeiden.

Nein, dass ist alles andere als nebensächlich. Denn das was ursprünglich damit gemeint war, ist ja genau dass, worauf diejenigen, die sich damit identifizierten ihre Identität aufbauten und nicht auf späteren Zuschreibungen oder Umdeutungen.

Die Art und Weise wie dieser Begriff von russischer Seite benutzt wird, ist überhaupt kein Grund irgendwas zu vermeiden.
Der Grund den Begriff auf die heutigen Ukrainer und die heutige Ukraine nicht mehr anzuwenden besteht schlicht darin, dass die Selbstidentifikation der heutigenn Ukrainer eine andere ist.
Genau wie die heutigen Bewohner der Ukraine ein Recht darauf haben sich mit etwas zu identifizieren, was sie für richtig halten, hatten es aber auch diejenigen, die die Ukraine vor 200 Jahren bewohnten.

Ich sehe absolut keinen Grund, warum man die Selbstidentität von Personen, die vor 200 Jahren lebten heute in einer ahistorischen Weise umdeuten sollte.
Das zu fordern, beansprucht einen Primat der Politik über historische Betrachtungen und Diskurse und dem ist eine ganz deutliche Absage zu erteilen.
Die Politik mag ihre Konjunkturen haben, die Geschichtsschreibung und Geschichtsdiskussion darf das nichts angehen, weil sie sich mit Historischen Tatsachen und Umständen nicht mit politischen Idealvorstellungen der Gegenwart zu befassen hat.

Das ist nicht vergleichbar. Die amerikanischen Kolonien hatten keine eigene Sprache, die verboten wurde, keine wirklich separate Kultur, die unterdrückt wurde, usw.
Gut, dann nehmen wir ein anderes Beispiel:

Dürfte ich also z.B. die Schwächen Koreanischer Arbeiten über die japanische Kolonialzeit nicht kritisieren oder sie nicht mit japanischen Studien vergleichen?

Derartige Tabus halte ich persönlich für großen Unfug, welchen Mehrwert sollten sie haben?

Der Vergleich funktioniert aber andersherum: ich halte es für problematisch, die historische Perspektive der amerikanischen Ureinwohner mit derjenigen der europäischen Siedler gleichzustellen. Denn auf der einen Seite haben wir einen Agressor, der ein Territorium in Besitz nahm, und auf der anderen eine (Vielzahl an) Kultur(en), die unterdrückt und weitgehend vernichtet wurde(n).

So einfach funktioniert das nicht.
Schon weil es à priori voraussetzt, die europäischen Siedler wären von Beginn an als aggressive eroberer und Feinde aufgetreten.
Tatsache ist aber viel mehr, dass die ersten europäischen Kolonisten, im Besonderen in Nordamerika die ersten Jahre unter den teils ungewohnten Umweltbedingungen häufig nur mit Unterstützung der idnigenen Bewohner überlebten.

Insofern hier von Beginn an hier einen Gegensatz zwischen agressiven Eroberern und unterdrückten Ureinwohnern aufmachen zu wollen, entspricht in vielen Gegenden durchaus nicht den Realitäten der frühen Kolonialzeit.

Auch darüber hinaus, warum sollte man die Überlieferung der beiden verschiedenen Seiten nicht miteinander vergleichen dürfen?
Das ist himmelschreiender Unsinn. Alleine schon weil einzig der Vergleich zeigt, wie verschiedene alle Parteien betreffende Themen von den einzelnen Akteuren gesehen wurden.

Z.B. wissen wir heute, dass es zwischen Kolonisten, die der Meinung waren von den Indigenen ein Territorium als Eigentum erworben zu haben und den Indigenen, die der Meinung waren, das Territorium den Kolonisten lediglich zum Niesbrauch überlassen zu haben, zu Konflikten kam, weil dabei zwei verschiedene Vorstellungen von Besitz und Eigentum aufeinanderprallten, was für Konfliktstoff sorgte, weil dadurch getroffene Abmachungen vollkommen unterschiedlich interpretiert wurden.

Solche Dinge z.B. würden wir nicht wissen, wenn systematische Vergleiche nicht angestellt würden.

Wenn man historische Ereignisse erklären möchte, ist dafür natürlich die Sicht aller handelnden Relevant.
Wenn darauf aufbauend die Erinnerungskultur einer bestimmten Strömung daraus zu gewinnende Fakten systematisch ausblendet, ist das eine Schwachstelle in der jeweiligen Geschichtsdarstellung und die ist zu bennenen, gleich um wen es sich handelt.

Das hat mit einem "Denkverbot" nichts zu tun. Ich bin aber durchaus kein moralischer Relativist und glaube schon, dass wir Gut und Böse bis zu einem gewissen Grade unterscheiden können. Es steht dir natürlich frei, das anzuzweifeln.

Verzeihung, aber es für problematisch zu erklären zwei verschiedene Phänomene mit einander zu vergleichen, bedeutet natürlich ein Denkverbot zu fordern.
Es ist sicherlich richtig, dass nicht jeder Vergleich sinnvoll ist. Aber auch Vergleiche anzustellen, die ihrem Inhalt nach zunächst erstmal nicht sinnvoll sind, ist erstmal kein ausgesprochenes Verbrechen.
Wenn sie als nicht sinnvoll erachtet werden, werden sie sich nicht durchsetzen.

Was Vorstllungen von Gut und Böse damit zu tun haben, weiß ich nicht.
Denn auch wenn man eine beteiligte Partei persönliche als böse einstuft, ändert das ja nichts an der Relevanz von deren Denk- und Handlungsweise im Hinblick auf die Ereignisse.

Und im Übrigen nur weil man einen Akteur als böse oder moralisch schlecht begrift, ist deswegen nicht alles, was die Gegenseite behauptet, als kritiklos richtig hinzunehmen, es sei denn du wolltest postulieren, dass der Zweck grundsätzlich die Mittel heiligt und die Geschichte in diesem Sinne der Politik als willfähriges Werkzeug zu dienen habe.
Wenn du aber dieser Meinung sein solltest, brauchen wir an der Stelle nicht mehr weiter zu diskutieren und dann weiß ich auch nicht, ob du in diesem Forum richtig bist.

Das habe ich hier nie behauptet. Es geht mir lediglich darum, nicht die grossrussische Propaganda zu nähren und zu kolportieren. Durch das Vermeiden des Wortes "kleinrussisch" als Synonym für "ukrainisch" (und einzig und allein darum geht es mir hier, nicht um soziokulturell spezifische Kontexte der Oberschicht des 19. Jhd) machen wir der Moskauer Propaganda einen Strich durch die Rechnung.
Hier wurde mehrmals von "kleinrussischen Sprachen" u.Ä. geschrieben. Das ist heutzutage nicht mehr nötig. Wir können getrost ein anderes, weniger problematisches Adjektiv benutzen.

Ja, mit anderen Worten dir geht es darum historische Begrifflichkeiten aus politischen Gründen umzudeuten, also um einen Primat der Politik über die Geschichtsbetrachtung.

Ein solcher ist nicht akzeptabel.
 
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Ist russischsprachige Literatur, wenn sie in Sibirien verfasst wurde (T. Aitmatov, V. Rasputin), deswegen sibirisch und nicht mehr russisch?
Ich würde sagen, das sollten die Sibirier selbst entscheiden... wenn man sie denn ließe! Russland ist ein imperiales Konstrukt, in dem die Rechte der Minderheiten wenig bis überhaupt nichts gelten. Es gibt darüber hinaus angesichts der massiven Disproportion in der Zahl der im Ukrainekrieg gefallenen Soldaten gute Gründe, eine gezielte und geplante Verheizung ethnischer Minderheiten durch das Moskauer Regime anzunehmen.
https://zona.media/casualties

Vor diesem Hintergrund ist die Frage der Beanspruchung sibirischer russischsprachiger Autoren zu betrachten.
Ist russischsprachige Literatur, wenn sie auf heutigem ukrainischen Territorium, aber im 19.Jh. - also im russischen "Zaren"-Imperium, dessen Amtssprache russisch war - verfasst wurde sozusagen an die Scholle gebunden?
Ist Kafka ein deutscher Autor? Er schrieb auf Deutsch, aber ist das ein ausreichendes Kriterium? Ist er nicht auch ein Produkt seiner böhmisch-jüdischen Kultur? Hätte es überhaupt keinen Unterschied gemacht, wenn er in Berlin gelebt hätte?

Es gibt natürlich einen Unterschied zwischen Kafka und Gogol. Letzterer hat sich entschieden auf Russisch zu schreiben, weil seine ukrainische Muttersprache als Schriftsprache noch sehr diskreditiert und missachtet wurde. Kafkas Muttersprache hingegen war Deutsch. Dennoch kann man die Herkunft, das soziale Umfeld, die eventuelle sentimentale Verbundenheit eines Autors mit seiner Heimat usw. nicht einfach als irrelevant vom Tisch fegen.
Das staatstragende Volk waren die Russen („Großrussen“), wobei auch Ukrainer(„Kleinrussen“) und Belarussen als integraler Bestandteil eines dreieinigen russischen Volkes angesehen wurden.
Das ist die imperial-großrussische Sichtweise. Ich würde mich hüten, Parolen wie “dreieiniges russisches Volk“ kritiklos zu übernehmen. Kultur und Sprache dieser drei vermeintlichen “Brudervölker“ waren bereits im 16. Jahrhundert so stark voneinander entfernt, dass es zwischen ihnen der Übersetzer bedurfte.
Im Übrigen sind das genau die Sprüche (Brudervolk usw.), mit denen Putin heute für seinen Krieg wirbt. (Und ja, Shinigami, falls du hier mitliest: das hat seine Wichtigkeit, man kann das nicht einfach ausblenden. Es sterben jeden Tag Hunderte Ukrainer und Russen für einen Krieg den Putin begonnen hat weil er der Ansicht ist, die Ukraine gehöre als “Bruder“ zu Russland.)
Die Idee einer Vereinigung der Ukraine und Russlands war nicht von der Moskauer Regierung aufgezwungen, sondern ursprünglich ukrainisch.
Das ist immer noch die großrussisch-imperiale Märchengeschichte. Wer sich ein bißchen mit der ukrainischen Kosakenkultur dieser Zeit befasst hat, wird bezweifeln dass sich diese stolzen und freien Krieger sklavisch und bedingungslos den Moskowiern zu Füßen werfen wollten. Ukrainische Historiker vertreten die Ansicht, dass der Vertrag von Pjerejaslaw von den Kosaken als temporäres Bündnis zweier gleichberechtigter Parteien verstanden wurde, nämlich als Instrument gegen Polen (der Zar verpflichtete sich, den Polen den Krieg zu erklären). Der gesunde Menschenverstand legt nahe, dass man sich nicht ohne Not unterwirft. Chmelnizki hatte in den Jahren zuvor bedeutende Siege errungen und verfügte über ein großes Heer. Welchen Sinn hätte es für ihn gehabt, eine Einverleibung in das Zarenreich anzustreben?
Der derzeitige, so gräßliche wie beschämend blöde Krieg - damit haben weder Gogol noch Prokovev irgendetwas zu tun. Und zur nationalen ukrainischen Identität dürften beide ebenfalls wenig beitragen.
Wie gesagt, hier liegen die Wahrnehmungen weit auseinander. Ich kann Ihnen nur empfehlen, diese Fragen mit Ukrainern und Russen zu erörtern, wie ich das täglich tue. Sie werden sehen: genau solche Fragen (und die Konsequenzen, die sie nach sich ziehen) stehen im ideologischen Mittelpunkt dieses Krieges.
 
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