Machtergreifung 1933

Lässt sich das durch irgendwelche internen Papiere belegen?
Das Hindenburg gegenüber so argumentiert wurde ist mir klar, nur möchte ich die Ernsthaftigkeit dieser Argumentation infrage stellen, weil die unterstellen würde, dass sich keiner der Beteiligten ernsthafte Gedanken für den Fall gemacht hätte, dass Hindenburg ausfallen würde.

Ja, kannst du denn Deine Position positiv belegen? Dass sich die genannten aktuell im Januar 1933 vor H.s Ernennung zum RK bereits größere Gedanken um den womöglich bald erwartbaren Ausfall Hindenburgs auch und gerade dahin gehend machten, mit dem Arrangieren eines Hitler-Kabinetts die Perspektive für eine mit dem Tod Hindenburg möglich werdende unumschränkte Diktatur Hitler zu eröffnen und dies stillschweigend in Kauf genommen zu haben....

Du postulierst, dass müsse ja so gewesen sein - und da per Quellen nicht nachweisbar, auch stillschweigend. Aha. Nachweisbarkeits-Kriterium aufgehoben?
Wenn in meinem Beitrag oben postuliert wurde, dem war nicht so - wie sollte dies dann anders als durch Abwesenheit belegbar sein? Oder durch schlüssiges Handeln, siehe Papens Marburger Rede, siehe Hugenbergs Rücktritt. Siehe auch Röhmputsch.

Mir sind bislang jedenfalls keine Äußerungen Papens, Hugenbergs und Schachts bekannt geworden, z.B. in der einschlägigen Lit., dass sie vor der von Ihnen betriebenen Ernennung H.s zum RK bereits in der Perspektive dachten und handelten sowie akzeptierten, ein RK Hitler könne mit dem Ableben Hindenburgs eine unumschränkte persönliche Diktatur durchsetzen, installieren.
 
Hermann Weiß, Paul Hoser (Hsrg.), Die Deutschnationalen und die Zerstörung der Weimarer Republik Aus dem Tagebuch von Reinhold Quaatz 1928-1933, 1989. Band 59 der Reihe Schriftenreihe der Vierteljahrshefte für Zeitgeschichte. (Open Access)

Wer war Reinhold Quaatz? Vieljähriger Reichstagsabgeordneter bis 1933, ab 1924 in der DNVP-Fraktion, nachfolgend in diversen Reichstags-Ausschüssen & rechte Hand Alfred Hugenbergs, welcher ab 1928 als DNVP-Vorsitzender agierte.

Quaatz notiert im Tagebucheintrag vom 21.1.1933 u.a. (S. 224):

Abends Hugenberg und Meißner bei mir. Aus der vorgesehenen kurzen Besprechung wurde eine Unterredung von fast eineinhalb Stunden. Hugenberg sondierte zunächst die Stellung Hindenburgs zu Hitler. Er selbst habe Bedenken, daß Hitler als Kanzler mühelos in die Nachfolge Hindenburgs kommen könne. Meißner: Hindenburg habe Hitler als Kanzler eines Präsidialkabinetts stets abgelehnt, weil er Reichswehr verlange, Diktatur anstrebe und Phantast sei. Dagegen als Mehrheitskandidaten habe er ihn ja selbst in Aussicht genommen. Es sei möglich, daß er ihm weitergehende Vollmachten gebe, wenn er durch Deutschnationale und Zentrum im Kabinett eingerahmt sei. Namentlich auf Mitwirkung der Deutschnationalen lege Hindenburg Wert.

Meißner = Otto Meißner, Leiter des Büros des Reichspräsidenten
 
Zuletzt bearbeitet:
Der tschechoslowakische Diplomat Camill Hoffmann, tätig an der tschechoslowakischen Botschaft in Berlin 1920-1938 als Kulturattaché und dann Pressechef der Botschaft in Berlin, notiert im Berliner Tagebuch 1932-1934 unter dem Datum 30. Januar 1933 , Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte, 1988, Heft 1, S. 159 u.a. (alles in deutsch):

Das Kabinett ist überstürzt gebildet worden, Hitler ist mit Dr. Frick und Göring darin, aber Hugenberg, Papen und Reichswehrminister Blomberg sind ihm als Gendarmen mitgegeben, dazu mehrere alte Minister, unter ihnen Neurath. Also keine nationalistische, keine revolutionäre Regierung, obwohl sie Hitlers Namen trägt. Kein Drittes Reich, kaum ein 2 1/2.

2. Februar 1933, S. 160, u.a.:

Man sieht voraus, daß alle praktische Macht im Kabinett Hugenberg und Blomberg haben werden und fragt sich: wie soll[en] der Kapitalist Hugenberg und der Sozialist oder PseudoSozialist Hitler lange friedlich zusammensitzen? Was sie eint, ist der Nationalismus, die Feindschaft gegen den „Marxismus".
 
Im Prinzip ähnelt das Konzept ein wenig dem von General Schleicher, der Papen ursprünglich nur als "Hut" zum Kanzler machen wollte, während er selbst dann der Kopf sein könne. Der Gedanke war damals also den handelnden Personen durchaus nicht fremd. Natürlich hatte Hitler eine ganz andere Basis in der Bevölkerung und im Reichstag, aber die Vertreter der "Konservativen Revolution" und des "Neuen Staates" wollten das Wahlrecht ohnehin erheblich einschränken und dem Reichstag eine Ständekammer hinzufügen. Unter Vertretern der Industrie und des Adels hatte Papen erheblichen Rückhalt, was ihm dann natürlich sehr geholfen hätte.

Wie gesagt, ich will nicht behaupten, dass Papen einen geheimen Masterplan für die nächsten zehn Jahre besaß oder dass seine Vorstellungen realistisch waren. Seine Aktivitäten in den ersten Monaten der neuen Regierung sprechen aber eher dafür, dass er schon eine eigene Machtstellung anstrebte. So brachte er sich beispielsweise stark in den Wahlkampf der "Kampffront Schwarz-Weiß-Rot" ein, die als Sammlungsbewegung nationaler und konservativer Wähler konzipiert war und von der man auf Seiten der deutschnationalen Minister durchaus hoffen durfte, dass sie bei einem starken Wahlergebnis auch gegenüber Ansprüchen der NSDAP eine eigene Basis im Reichstag sein könnte. Im März gründete er überdies zusammen mit anderen rechtsgerichteten Katholiken den Bund "Kreuz und Adler", der ihm ebenfalls hätte einen gewissen Rückhalt für eine eigenständige Machtposition bieten können.

Natürlich blieb das alles ohne Erfolg, aber das wusste Papen im Januar 1933 eben noch nicht. Hitler gelang die Monopolisierung der Macht ungewöhnlich schnell, auch wenn man es beispielsweise mit Mussolini vergleicht. Eine mit großem Selbstbewusstsein ausgestattete, nicht selten adlige Gruppe von hochkonservativen Politikern mochte durchaus glauben, den unerfahrenen "böhmischen Gefreiten" überspielen zu können. Papen soll geäußert haben, er wolle Hitler "einrahmen" und "in die Ecke drücken, bis er quietscht". Mir scheint das nicht unbedingt das Gehabe eines Mannes zu sein, der alle Hoffnung auf eine eigene Machtposition verloren hatte.
 
Es gab offenkundig relevante Planungen im Februar '33, Hitler zu stürzen, zu entfernen, wie anscheinend in den Aufzeichnungen des Tagesbuches von Wilhelm Leuschner, dem Gewerkschaftsführer und hessischen Innenminister, zu entnehmen ist, der ab 20.2. in Berlin arbeitete und zweifach den Namen Schleicher mit Uhrzeit notiert hatte.

Joachim G. Leithäuser notiert in Das Jahr 1933 in Wilhelm Leuschners Tagebuch, in: Gewerkschaftliche Monatshefte 10/1961, S. 607-611, S. 608 f., u.a.:

[...] Inzwischen nahm er am 20. Februar seine Tätigkeit in Berlin im Bundesvorstand des ADGB auf und hatte in den folgenden Tagen eine Fülle wichtiger Besprechungen. Sein Notizbuch enthält dabei zwei der wichtigsten Daten: den 23., abends 7 Uhr, und den 25. Februar, vormittags 11 Uhr. Beide Male ist der Name Schleicher eingetragen. Es handelte sich um streng vertrauliche Unterredungen über einen Staatsstreich gegen Hitler, den Schleicher mit der Reichswehr plante; über Leuschner wollte er sich die Zustimmung der Gewerkschaften sichern. [...]

Am 26. Februar hatte Leuschner eine Unterredung in Darmstadt mit dem hessischen Staatspräsidenten Adelung; auf der Rückfahrt nach Berlin notierte er in der Nacht zum 28. Februar: „Magdebg. R Tag brennt!“ Er erfuhr also auf dem Bahnhof die Neuigkeit des Reichstagsbrandes, der die Verfolgungsaktionen gegen die Gegner des Naziregimes folgten. Dieser Schlag zerstörte — womöglich war das sogar sein Hauptziel — die Möglichkeiten für den Umsturzversuch Schleichers.

[...]​
 
Ja, kannst du denn Deine Position positiv belegen?

Wenn ich es könnte, würde ich es tun.

Du postulierst, dass müsse ja so gewesen sein - und da per Quellen nicht nachweisbar, auch stillschweigend. Aha. Nachweisbarkeits-Kriterium aufgehoben?

Ich postuliere, dass man sich darüber eigentlich Gedanken gemacht haben müsste, ja.

Ich sehe da kein aufgehobenees Nachweisbarkeitskriterium, sondern viel mehr den Ansatz, dass man die schriftlichen Hinterlassenschaften der betreffenden Personen, im besonderen Briefwechsel, im Hinblick auf die DNVP möglicherweise auch Sitzungsprotokolle (sofern noch vorhanden), mal nach der Frage nach der Zukunft des Reichspräsidentenamtes abklopfen müsste.

Ich habe nicht behauptet, ich könne solche Gedankengänge durch irgendwelche mir vorlienden Schriftstücke beweisen.
Ich habe lediglich angemerkt, dass mir das Postulat, dass darüber nicht nachgedacht worden sein soll, unpausibel vorkommt, im Besonderen bei Papen, dessen ganze politische Existenz von der Person Hindenburgs abhing.

Wenn in meinem Beitrag oben postuliert wurde, dem war nicht so - wie sollte dies dann anders als durch Abwesenheit belegbar sein?

Z.B. durch interne Papiere und private (z.B. briefliche) Einlassungen der involvierten Personen dahingehend, dass sie davon ausgingen, dass Hindenburg seine Amtszeit zu Ende führen oder sich Hitler in ein paar Monaten ohnehin erledigt haben würde, somit die Gefahr, dass die Frage nach der Nachfolge Hindenburgs während Hitlers Amtszeit akkut würde, gering sei.

Deswegen hatte ich danach gefragt, ob sich Äußerungen in diese Richtung irgendwo in derem privatem Schriftverkeehr finden lassen.

Oder durch schlüssiges Handeln, siehe Papens Marburger Rede, siehe Hugenbergs Rücktritt.

Bei Hugenberg sehe ich jedenfalls Ansätze schlüssigen Handels, dass hatte ich im obigen Beitrag auch zugestanden.
Er ist da allerdings die einzige Person, die ich da sehe, weil er eben die einzige Person ist, die aus dem Kabinett Hitler entsprechend schnell zurücktrat.

Die Marburger Rede wurde im Juni 1934 gehalten, als von irgendeiner Form von Einschränkung der Diktatur Hitler (das Ermächtigungsgesetz und die faktische Zerschlagung des republikanischen Systems lagen da schon über ein Jahr zurück), längst nicht mehr die Rede sein konnte.
Insofern halte ich das eher für Selbstinszenieerung/Selbstrechtfertigung, dafür bei der Einrichtung von Hitlers Diktatur mitgewirkt zu haben.
Davon abgesehen, distanzierte sich Papen auch nicht völlig vom System Hitler, sondern übernahm nach seinem Ausscheiden als Vizekanzler mehrere Gesandschaftsposten im Namen des Systems Hitler, unter anderem wirkte er noch an der nationalsozialistischen Österreich-Politik mit.

Schlüssiges Handeln sieht für mich ein wenig anders aus ehrlich gesagt.

Auch sonst zog mit Ausnahme von Hugenberg inm Frühjahr-Sommer 1933 kaum jemand die Konsequenz mit dem System Hitler zu brechen, was man ja doch eigentlich von jedem erwarten sollte, der nicht mindestens bereit war, auch ein solches System nötigenfalls zu akzeptieren oder nicht?

Mir sind bislang jedenfalls keine Äußerungen Papens, Hugenbergs und Schachts bekannt geworden, z.B. in der einschlägigen Lit., dass sie vor der von Ihnen betriebenen Ernennung H.s zum RK bereits in der Perspektive dachten und handelten sowie akzeptierten, ein RK Hitler könne mit dem Ableben Hindenburgs eine unumschränkte persönliche Diktatur durchsetzen, installieren.

Nun, wie gesagt, ich kann es nicht belegen.
Aber in gewissem Maße spielen da, meine ich auch Wahrscheinlichkeiten eine Rolle und die Wahrscheinlichkeit, dass alle miteinander unhinterfragt davon ausgingen, dass ein Hindenburg, der nach damaligen Maßsstäben schon locker 10-15 Jahre über seine statistische Lebenserwartung hinaus war, den job ohne Probleme noch auf Jahre würde ausführen können, halte ich für verschwindend gering.
Dazu bedurfte es ja nicht einmal eines dezidierten Ablebens, eine Einschränkung der Gesundheit die zur Amtsunfähigkeit führte, hätte vollkommen gereicht.

Hinzu kommt, dass mindestens in monarchistischen Kreisen und solchen sind Teile der DNVP und sicherlich auch Papen zuzurechnen, die Phantasie einer Restauration der Monarchie ja im Besonderen in den frühen 1930er Jahren durchaus eine Rolle spielten und damit auch die Frage der Reichsprsädidentschaft und möglicher Umwidtmungen des Reichspräsidentenamtes ("Reichsverweser" etc.").
Entsprechend des Umstands, dass das in der monarchischen Rechten in den vorangegangenen Jahren ein Schlüsselthema im Rahmen potentieller Restaurationsversuche war, fällt es mir recht schwer mir vorzustellen, dass man in diesen Kreisen dann urplötzlich 1932/1933 aufgehört haben soll, über derlei nachzudenken.

Natürlich kein Nachweis, aber wie ich meine, Anlass genug das mal zu überprüfen und das Narrativ der "Einrahmung" Hitlers durchaus infrage zu stellen.
 
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Was die Papens, Hugenbergs, Hindenburgs und Schachts völlig unterschätzt haben, waren die schon großen paramilitärischen, sehr gut organisierten und disziplinierten Unter- und Seitenorganisationen der NS-Bewegung/NSDAP, die Fähigkeit, den öffentlichen Raum zu prägen, zu dominieren, mit breitester, nationalistischer Propaganda einen beachtlichen bis sehr großen öffentlichen Druck aufzubauen - verbunden mit der Aura einer latenten, massiven Gewaltbereitschaft der paramilitärischen 'Straßenorganisationen' wie der SA, unterfüttert von vielfachen Beispielen dafür.
 
Der typische Rückschaufehler einer vermeintlich linearen Entwicklung ist vermeidbar. Ebenso, die heutige Sichtweise rück zu übertragen in der Art, dass ähnliche Kriterien in ähnlicher Gewichtung und Bedeutung im Januar 1933 bei den genannten Akteuren hätten vorhanden sein müssen.

M.E. wird die Szenerie im Januar 1933, die angeblich vorab erkennbare Eindeutigkeit der elementaren Gefahr durch eine mögliche Reichskanzlerschaft H.s in Hinsicht auf die damit ebenso angebliche Erkennbarkeit zu einer unabweislich damit kommenden uneingeschränkten Diktatur H.s in engster Verbindung mit den damals angeblich auch schon substanziell abschätzbaren, monströsen und langjährig anhaltenden Folgen, wissenschaftlich valide beleuchtet, wenn beispielsweise auch die Einschätzungen Kurt Schumachers zu H. bis in den Februar '33 rezipiert werden, statt sie zu übergehen...

Siehe
Unterschätzt haben H. zumindest bis (Ende) Februar '33 etliche Akteure der Politik und Hitler-Gegner, wie Kurt Schumacher.

Verhängnisvoller noch war die Illusion, die Schumacher mit allen Gegnern Hitlers teilte, nämlich die, daß die in der Hitler-Hugenberg-Papen-Regierung versammelte politische und moralische Inkompetenz bald abgewirtschaftet haben würde.
Zitiert nach: Wolfgang Benz, Widerstand gegen den Nationalsozialismus - Legitimation für Kurt Schumachers Führungsanspruch im demokratischen Deutschland, in: Dieter Dowe (Hrsg.), Kurt Schumacher und der "Neubau" der deutschen Sozialdemokratie nach 1945 : Referate und Podiumsdiskussion eines Kolloquiums des Gesprächskreises Geschichte der Friedrich-Ebert-Stiftung in Bonn am 12./13. Oktober 1995, Bonn 1996, S. 65.
 
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Der typische Rückschaufehler einer vermeintlich linearen Entwicklung ist vermeidbar. Ebenso, die heutige Sichtweise rück zu übertragen in der Art, dass ähnliche Kriterien in ähnlicher Gewichtung und Bedeutung im Januar 1933 bei den genannten Akteuren hätten vorhanden sein müssen.

Da gehst du, meine ich ein wenig zu weit, mir eine derartige Ex-Post-Deutung zu unterstellen.

Den Schuh müsste ich mir anziehen, wenn Hindenburgs Tod ein so unwahrscheinliches Ereigniss gewesen wäre, dass man darauf in der Tat nicht hätte rechnen müssen.

Ausweislich von Angaben der Bundeszentrale für politische Bildung betrug 1932-1934 die Lebenserwartung bei Frauen 62,8 und bei Männern 59,9 Jahre:

Lebenserwartung - Gesundheitswesen

Selbst wenn wir wegen der Säuglingssterblichkeit, dem Ersten Weltkrieg, der Spanischen Grippe und den schwierigen sozialen Umständen in der Weimarer Zeit jetzt noch einmal eine großzügige Verzerrung der Zahlen annehmen, wird man durchaus annehmen dürfen, dass um 1933 herum die wenigsten Einwohner Deutschlands ein Lebensalter von 70 oder 75 Jahren deutlich überschritten.

Wie bereits angemerkt, lag Hindenburg bei Hitlers Ernennung selbst nach heutigen Maßsstäben, bei einer um 80 Jahre weiterentwickelten Medizin/Medizintechnik deutlich über der statistischen Lebenserwartung.


Der Umstand, dass jemand der 10-15 Jahre über seine statistische Lebenserwartung hinaus ist (nach den Zahlen der Bundeszentrale für politische Bildung sogar 26 Jahre, aber geben wir ruhig 10 Jahre der Verzerrung), plötzlich versterben oder schwer erkranken könnte, ist kein derart unwahrscheinliches Ereigniss, dass es Einsicht in die Ex-post-Verhältnisse erfordern würde, das realistischer Weise anzunehmen.

Ich darf in diesem Zusammenhang, auch wenn das jetzt vielleicht etwas aktualistisch ist, einmal daran erinnern, wie kritisch das Alter gewisser Präsidentschaftskandidaten in einem gewissen Land jenseits des Atlantik im Hinblick auf deren potentielles Ausfallen, in der politischen Öffentlichkeeit, auch über den Wahlkampf hinaus jüngst diskutiert und problematisiert wurde.
Wohl bemerkt bei Personen, die bei einem Stand der Medizin, der um 8 volle Dekaden weiter ist, nochmal eine Hand voll Jahre jünger waren/sind, als der alte Hindenburg und ihrer statistischen Lebenserwartung ungefähr entsprechen.

Ein 86-Jähriger Reichspräsident, der 10-15 Jahre über seine statistische Lebenserwartung hinaus war, wäre gemessen an der Lebenserwartung in etwa so, als würden wir uns einen 95-jährigen Bundeskanzler leisten.

Die Vorstellung, dass sich da nicht im Grunde jeder der politisch irgendwie interessiert ist, die Frage nach einer potentiellen Amtsunfähigkeit und der Zukunft für diesen Fall stellen müsste, halte ich für nachgerade grottesk.

Um so mehr Personen, in deren Machtkalkül diese Figur eine entscheidende Rolle spielt.
 
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Ein 86-Jähriger Reichspräsident, der 10-15 Jahre über seine statistische Lebenserwartung hinaus war, wäre gemessen an der Lebenserwartung in etwa so, als würden wir uns einen 95-jährigen Bundeskanzler leisten.

So kannst Du aber nicht rechnen. Man darf hier nicht mit Lebenserwartung bei Geburt rechnen, sondern mit der Restlebenserwartung im jeweiligen Alter, auch unabhängig von Sondereinflüssen wie Spanischer Grippe und Weltkrieg. Allein die Säuglings- und Kindersterblichkeit hat damals die statistische Lebenserwartung bei Geburt ganz erheblich nach unten gezogen. Und gerade bei der Vermeidung von Todesfällen in frühen Lebensjahren etwa durch Infektionen hat die Medizin die meisten Fortschritte gemacht.

Ich habe keine Daten für die Restlebenserwartung nach Alter in der Weimarer Republik, aber heute (2019-21) hat ein 95-Jähriger Mann noch eine Restlebenserwartung von 2,5 Jahren, obwohl man da eben schon weit über die statistische Lebenserwartung bei Geburt von 78,54 Jahren hinaus ist. Das liegt daran, dass ein heute 95-Jähriger nicht mehr mit 18 an einem Verkehrsunfall oder mit 40 an Lungenkrebs oder mit 50 an einem Herzinfarkt sterben kann. Ein 85-Jähriger hat noch eine Restlebenserwartung von 5,54 Jahren.

Die ältesten Daten in meiner Quelle sind von 1986-88. Damals lag die Lebenserwartung bei Geburt noch deutlich niedriger, nämlich 71,70 Jahre. Die Restlebenserwartung im Alter von 85 und 95 betrug 4,28 bzw. 2,3 Jahre, also insbesondere bei den 95-Jährigen nicht so viel geringer als heute.

Alle Daten nach:

Lebenserwartung im Alter von ... Jahren (gbe-bund.de)

Die statistische Restlebenserwartung von Hindenburg im Alter von 86 Jahren wird damals sicher noch geringer gewesen sein, aber vermutlich auch noch mehrere Jahre.

Fazit:

Natürlich musste man Hindenburgs eventuellen baldigen Tod in politische Planungen mit einbeziehen. Es war aber keineswegs sicher, dass er demnächst sterben würde (natürlich je nach Zeithorizont). Politische Akteure mussten das Risiko eines Todes Hindenburg gegen andere Risiken abwägen.
 
Natürlich musste man Hindenburgs eventuellen baldigen Tod in politische Planungen mit einbeziehen.

Und um mehr als das geht es mir nicht. Über Modelle kann man streiten, meine Einlassung diente der Veranschaulichung.

Es war aber keineswegs sicher, dass er demnächst sterben würde (natürlich je nach Zeithorizont). Politische Akteure mussten das Risiko eines Todes Hindenburg gegen andere Risiken abwägen.

Um das hier klar zu stellen und mich auch von anderen etwas überholten Thesen im Bezug auf Hindenburg abzugrenzen:
Es musste sicherlich niemand so tun, als würde Hindenburg quasi schon auf dem Totenbett liegen.

Nur, die Vorstellungen der konservativen Akteure lief ja durchaus aus eine längerfristige Diktatur hinaus.
Die haben sich doch nicht mit Hitler zusammen getan, um 3 Monate Kasperletheater zu spielen und dann abgelöst zu werden, sondern weil sie der Meinung waren, dass das eine längerfristige Perspektive hatte.

Je länger das aber dauerte, desto eher musste mit Ausfall Hindenburgs gerechnet werden, zumal, ich wiederhole mich hier, der Tod Hindenburgs ja gar nicht notwendig war.
Amtsunfähigkeit reichte.

Zudem dürfte es durchaus noch im Bewusstsein der Zeitgenossen gewesen sein, dass die Weimarer Republik schon einmal einen Präsidenten hatte, der im Amt verstarb und dass wegen der Banalität einer verschleppten Blinddarm-Operation.

Gleichzeitig waren sie sich in der Zerschlagung und weitgehenden Repression der politischen Linken als Ziel einig.
Es musste im Hinblick auf die Reichspräsidentschaft aber auch klar sein, dass wenn es gelingen würde, das linke politische Lager in die Bedeutngslosigkeit hinein zu stoßen, aus diesem Lager kein perspektivischer Gegner für Hitler mehr kommen konnte.
Um so mehr wäre es also an den Konservativen gewesen einen zu erfinden, wenn sie es mit der Eindämmung Hitlers ernst meinten.


Wenn wir tatsächlich von Eindämmung/Einrahmung Hitlers reden, war alles was auf Ebene der Reichsregierung passierte sekundärer Natur, primäre Priorität hätte haben müssen Hitler auf jeden Fall den Weg zu präsidialen Vollmachten zu verbauen.
Und sofern das nicht mindestens ernsthaft diskutiert worden ist und Pläne für einen Ausfall Hindenburgs erwogen wurden, die darauf abzielten Hitler vom Präsidentenamt weg zu halten, bin ich nicht bereit der "Einrahmungs-These" zu folgen.

Wohl bemerkt, sofern sich sowas nicht nachweisen lässt.
Ließen sich solche Planungen nachweisen, wäre ich bereit sie anzuerkennen, selbst wenn sie eher wenig Aussicht auf Erfolg gehabt hätten, sofern sie nicht vollkommen jenseits der Realität waren, à la "Der Heilige Geist wird der Bevölkerung dann schon eingeben, dass sie die Hohenzollern zu restaurieren hat und sie wird das freudig tun".
 
Der französische Botschafter in Berlin 1931-1938, André François-Poncet, referiert am 30. Januar 1933 in seinen Kabeln nach Paris u.a. jene auch bei Hindenburg und seiner Umgebung vorhandenen Vorstellung, H. im neuen Kabinett via Papen usw. einzuhegen:

Quoi qu'il en soit, la présence de M. von Papen aux côtés d'Hitler et à la tête de la [Prusse]; le maintien de M. von Neurath aux Affaires étrangères et de M. von Krosigk aux Finances; la nomination du général von Blomberg, qui passe pour un esprit pondéré, au ministère de la Reichswehr, ont pu faire penser au président du Reich qu'il s'était entouré des garanties indispensables et qu'Hitler se trouverait encadré comme il convenait.
(via deepl und mir übersetzt mit:
Wie dem auch sei, die Anwesenheit von Papens an der Seite Hitlers und an der Spitze [Preußens], die Beibehaltung von Neuraths als Außenminister und von Krosigks als Finanzminister sowie die Ernennung des als besonnen geltenden Generals von Blomberg zum Reichswehrminister, ließen den Reichspräsidenten glauben, dass er sich mit den notwendigen Garantien versehen hatte und dass Hitler angemessen kontrolliert werden würde.)

Q: Claus W. Schäfer, André François-Poncet als Botschafter in Berlin (1931-1938), 2004, S. 163.

Schäfer S. 163 weiter:

Daß Hitler im Augenblick des Niedergangs seiner Partei an die Macht kam, mag im Ausland überraschen, gehöre aber, so der Botschafter, zum Kalkül derjenigen, die die Krise ausgelöst haben. Sie wollten die restliche Kraft der Nationalsozialisten zugunsten des Nationalismus retten.
 
S. 168 u.a., aus Kabeln des Botschafters am 9.2.33 an Paris, nach Begegnung mit H. am 8.2.:

Die entscheidende Frage sei, ob der Reichskanzler auf seine Ratgeber von gestern oder seine Koalitionspartner von heute höre. Fraglich war also nicht, ob der neue Reichskanzler an der Nase herumgeführt werden könne, sondern nur, wer ihn führen würde. Folgte Hitler seinen neuen oder seinen alten Verbündeten? Das war die Frage, die in den Augen des französischen Botschafters über die Zukunft entscheiden würde. Sie reflektiert die Unterschätzung Adolf Hitlers, der auch André François Poncet unterlag, und die seinen Ausdruck vom »Dorf-Mussolini« auf den Punkt bringt. Hitler war, das wissen wir heute, ein »Welt-Mussolini«, der sich mit Stalin messen konnte. Das war aber eine Woche nach dem Regierungsantritt Hitlers keinem Beteiligten oder Beobachter klar. Insofern folgte André François-Poncet einer verbreiteten (Fehl)Einschätzung seiner Person. Es fragt sich nur - und diese Frage ist zentral -, wann und wie der französische Botschafter seine Einschätzung Hitlers korrigierte.
 
Um das hier klar zu stellen und mich auch von anderen etwas überholten Thesen im Bezug auf Hindenburg abzugrenzen:
Es musste sicherlich niemand so tun, als würde Hindenburg quasi schon auf dem Totenbett liegen.

Nur, die Vorstellungen der konservativen Akteure lief ja durchaus aus eine längerfristige Diktatur hinaus.
Die haben sich doch nicht mit Hitler zusammen getan, um 3 Monate Kasperletheater zu spielen und dann abgelöst zu werden, sondern weil sie der Meinung waren, dass das eine längerfristige Perspektive hatte.

Je länger das aber dauerte, desto eher musste mit Ausfall Hindenburgs gerechnet werden, zumal, ich wiederhole mich hier, der Tod Hindenburgs ja gar nicht notwendig war.
Amtsunfähigkeit reichte.

In dem Punkt dürftest Du sehr wahrscheinlich recht haben: Papen und Hugenberg werden sich ebenso Gedanken über die Zeit nach Hindenburg gemacht haben wie Schleicher, Kaas, Bolz oder die politische Linke. Natürlich konnte man darüber kaum offen sprechen, da es sicherlich als beleidigend gegenüber dem "Alten Herrn" gegolten hätte, aber intern wird man sicherlich das eine oder andere Szenario durchdacht haben.

Nun war eine Volkswahl aber gar nicht unbedingt nötig. Nehmen wir mal an, Hitler wäre tatsächlich der unerfahrene, leicht manipulierbare Volkstribun gewesen, den die Hochkonservativen in ihm vermuteten. Dann wäre der Umbau der Volksvertretung in Richtung Ständestaat wohl schon zu Lebzeiten Hindenburgs vorangetrieben worden, und man hätte den Präsidenten vielleicht durch die neue Ständekammer wählen lassen, die sicher nicht für Hitler gestimmt hätte. Eberts Amtszeit war 1922 ebenfalls um knapp drei Jahre verlängert worden, es gab für ein solches Vorgehen also einen gewissen Präzedenzfall. Die Politiker und Staatsrechtler im Umfeld von Papen wollten ohnehin ein anderes, aus ihrer Sicht "organischeres" System schaffen, die Volkswahl des Präsidenten wäre also möglicherweise ganz selbstverständlich geändert worden.
 
Der typische Rückschaufehler einer vermeintlich linearen Entwicklung ist vermeidbar. Ebenso, die heutige Sichtweise rück zu übertragen in der Art, dass ähnliche Kriterien in ähnlicher Gewichtung und Bedeutung im Januar 1933 bei den genannten Akteuren hätten vorhanden sein müssen.

Im Netz-Artikel Geschichte ist nicht vorherbestimmt, aber auch nicht zufällig von Matthias Hennies vom 21.10.21 auf der Website des Deutschlandfunkes wird u.a. eine Bemerkung des Historikers Benjamin Ziemann angeführt:

"Die Quintessenz der neuen Forschung ist eben, dass Hitlers Machtergreifung viele Ursachen hatte, dass sie aber fast bis zum letzten Moment kontingent war, weil es andere Entscheidungsmöglichkeiten gegeben hätte."
Gut, fast bis zum letzten Moment kontingent...vielleicht etwas zugespitzt in der Tendenz, erinnert Ziemanns Bemerkung zur genannten neuen Richtung einer geschichtswissenschaftlichen Forschungsphilosophie daran, in der geschichtswissenschaftlich fundierten Forschung, Arbeit und Darstellung Ereignisse auch als kontingent integrieren und wahrnehmen zu können. Der Autor Hennies notiert weiter im Artikel:

Nicht mehr das „Warum“ steht im Vordergrund, sondern das „Wie“, die Offenheit eines historischen Moments, der sich in verschiedene Richtungen entwickeln kann.

Kontingenz...ein seltener Gast...;)

Henry Ashby Turner notiert in der Grundlagenstudie zu den Ver- und Entwicklungen im Januar '33, Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, 1996, S. 11 f. u.a:

Am ersten Tag des Jahres 1933 atmeten die Anhänger der bedrängten Weimarer Republik erleichtert auf. Drei Jahre lang war der junge Staat zunehmend heftigen antidemokratischer Kräfte ausgesetzt gewesen, deren stärkste udn bedrohlichste Adolf Hitlers Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei war. Jetzt schien die Wende erreicht: "Der gewaltige nationalsozialistische Angriff auf den demokratischen Staat ist abgeschlagen", verkündete die angesehene Frankfurter Zeitung in ihrem Leitartikel zum neuen Jahr. [...] Angesichts der Tatsache, daß Hitler keinen Monat später zum deutschen Reiskanzler ernannt wurde, erscheint dieser Optimismus der Anhänger der Weimarer Republik im Rückblick als kollektive Täuschung. Doch stellt sich bei genauerer Untersuchung der vorangegangenen Ereignisse heraus, daß die Zuversicht der Nazigegner aus damaliger Sicht keineswegs unbegründet war.[...]​



In diese Richtung ist das am 30.1.23 veröffentlichte Interview der Berliner Morgenpost mit dem Historiker Dan Diner zur Machtübertragung an H. vor 90 Jahren angelegt.

Statements Diners aus dem Interview:

[...] Am 28. oder am 29. Januar wäre keiner eine Wette eingegangen, dass Hitler tags darauf Reichskanzler würde. Alle dachten an Papen.

Auf die Frage "Sie halten es auch für möglich, dass die Sache noch wenige Minuten vor seiner Ernennung zu Hitlers Ungunsten hätte ausgehen können. Können Sie das erläutern?":

Es gibt eine berühmte Szene, die sich im Vorzimmer Hindenburgs kurz vor der Einschwörung abspielte. Wir sehen Adolf Hitler, den ehemaligen Zentrums-Politiker und inzwischen parteilosen Franz von Papen, den Medienmogul und Vorsitzenden der Deutschnationalen Volkspartei (DNVP), Alfred Hugenberg, den für den Posten des Reichsinnenministers vorgesehenen NSDAP-Mann Wilhelm Frick und Otto Wagener, Hitlers Wirtschaftsberater. Hugenberg berichtete später, wie sich Hitler und er über die Frage von Neuwahlen entzweiten. Hugenberg war klar, dass die DNVP bei schnellen Neuwahlen nur Verluste einfahren konnte – zugunsten der NSDAP. Hitler insistierte, der Reichstag müsse sofort aufgelöst und Neuwahlen ausgeschrieben werden. Hugenberg sagte: So haben wir nicht gewettet. Er stand auf, um seinen Mantel und seinen Regenschirm zu ergreifen, alles schien zu platzen. In diesem Moment trat Meissner, der Staatssekretär beim Reichspräsidenten, in den Raum und sagte: „Meine Herren, wir können den Herrn Reichspräsidenten nicht weiter warten lassen.“ So wurde das Kabinett Hitler eingeschworen.


Diner auf die Frage "Hätte Hitler verhindert werden können?":

Ich denke schon. Aber nicht im Sinne eines demokratischen Regimes an seiner Stelle. Dieser Weg war 1933 verbaut. Die Aussage fällt nicht leicht, aber 1933 gab es nicht mehr die Wahl zwischen Demokratie und Diktatur, sondern die Wahl zwischen der einen Diktatur und einer anderen Diktatur. Einer Militärdiktatur vielleicht oder einer konservativen Diktatur, wie sie Schleicher offenbar vorschwebte. Sie wäre dann mit Diktaturen und autoritären Regimen vergleichbar gewesen, wie sie seinerzeit vielfach in Europa bestanden haben, so etwa in Polen und in Ungarn. [...] Nach dem Tod von Hindenburg hat Hitler relativ schnell den Führerstaat etabliert, es gab keine Machtinstanz neben ihm. Solch eine absolute Herrschaft bestand nicht einmal im faschistischen Italien, wo der faschistische Großrat 1943 Mussolini absetzen konnte. In Italien bestand noch die Monarchie. [...]​
 
Valide, sehr gut fundierte Basics in:
  • Henry A. Turner, Hitlers Weg zur Macht. Der Januar 1933, 1996.
  • Hans-Ulrich Thamer, Adolf Hitler, 2018. Abschnitt 'Alles oder nichts? Machtspiele und Intrigen 1932/33'.
  • Volker Ullrich, Adolf Hitler. Band 1: Die Jahre des Aufstiegs 1889-1939, 2013. Hier besonders Kapitel 12, Schicksalsmonat 1933.
  • Peter Longerich, Hitler, 2015. Abschnitt/Kapitel ' Vor den Toren der Macht'.
Hilfreich bei/für damalige(n) Situationen & Wahrnehmungen
  • Diverse digitalisierte bedeutende Tageszeitungen vom 1.1. und dann ca. 26.1.-30./31.1.33
  • diverse, bereits angeführte Tagebucheinträge & Botschaftskabel zum Thema vom Januar bis April 1933
 
Statements Diners aus dem Interview:

[...] Am 28. oder am 29. Januar wäre keiner eine Wette eingegangen, dass Hitler tags darauf Reichskanzler würde. Alle dachten an Papen.

Die Ausgabe der Vossischen Zeitung vom 27. Januar '33 druckt als Titelseiten-Kommentar, Überschrift 'Hoffnung auf Hindenburg', u.a. , einleitender Absatz:

Der Sturz Schleichers wird betrieben, weil die wirtschaftliche Erholung, die sich anbahnt, der Konjunktur von Reaktion und Restauration ein Ende zu machen droht. Jetzt oder nie ist die Parole, mit der die Leute, die nicht zu verlieren haben, alles zu gewinnen hoffen.

Was ungefähr soweit zutreffend gewesen war, als die sich abzeichnende wirtschaftliche Erholung den parteipolitischen Krisengewinnlern vor allem weit und ganz rechts weniger Zulauf beschert hätte bzw. teilweise schon hatte.

Die Titelstory 'Wieder Kanzlersturz?' der Vossischen am 27. referiert Hugenberg und Papen als Macher, und druckte u.a., fett hervorgehoben:

Daß das Gerücht [Des Gesamtrücktritts des Kabinett Schleicher, Anm. von mir] aber völlig aus der Luft gegriffen sie, kann man nicht gut behaupten, da die politische Welt seit mehreren Tagen nicht ohne Sorge die Anstrengungen verfolgt, die insbesondere von den Deutschnationalen gemacht werden, um das Kabinett Schleicher zu beseitigen und durch ein zweites Kabinett Papen zu ersetzen.
[...]​

Hitler wird heute in Berlin erwartet, und es wird sich ja bald ergeben, ob er bereit ist, die zweimal hochgezogene Fahne herunterzuholen. Was aber sicherlich nicht im Bereich der Möglichkeit liegt, ist, daß der Reichspräsident eine Urkunde unterschreibt, durch die Hitler zum Reichskanzler ernannt wird, wenn er nicht die zweimal geforderte Mitgift einer parlamentarischen Mehrheit vorzuzeigen vermag. Hugenberg freilich würde, wie ein rechtstehendes Blatt anzukündigen weiß, auch Hitler als Reichskanzler tolerieren.

Unter der fett gedruckte Abschnittsüberschrift 'Notfalls ohne Nationalsozialisten?' in der Titelstory geht es so weiter:

Ein Kabinett Papen ohne nationalsozialistische Beteiligung? Das ist ein Eventualziel der Deutschnationalen, bei dem Papen als Schrittmacher oder als Platzhalter für Hitler dienen könnte. Die Deutschnationalen würden am liebsten gemeinsam mit den Nationalsozialisten die Verfassung zerschlagen, aber sie sind bereit, es auch allein zu besorgen, wenn ihnen nur die Reichswehr, die Verwaltung und die Polizei zur Verfügung stehen, und sie vom Reichspräsidenten die nötigen Vollmachten erhalten haben.
[...]​
 
Die vorgestellten JanuarEreignisse, -wahrnehmungen u. -perspektiven & -deutungen sind seit damals hinreichend breit rezipiert & überliefert, dann auch hinreichend bequellt belegt worden. Dies ist kein erfundenes oder lediglich von einem bestimmten Zeitgeist konstruiertes Narrativ, welches nun aktuell mit besonderem Scharfsinn und/oder versierter Moral in Frage gestellt werden müsste ....
 
In dem Punkt dürftest Du sehr wahrscheinlich recht haben: Papen und Hugenberg werden sich ebenso Gedanken über die Zeit nach Hindenburg gemacht haben wie Schleicher, Kaas, Bolz oder die politische Linke. Natürlich konnte man darüber kaum offen sprechen, da es sicherlich als beleidigend gegenüber dem "Alten Herrn" gegolten hätte, aber intern wird man sicherlich das eine oder andere Szenario durchdacht haben.

Das man das bei Hindenburg angesprochen hätte, würde ich auch nicht erwartet haben. Zumal das auch ganz zwecklos gewesen wäre, weil Hindenburg den eigenen potentiellen Nachfolger ja durchaus nicht bestimmen konnte.

Die Vorstellungen der politischen Linken sehe ich hier nicht als besonders relevant an, weil klar sein musste, dass dieses als politische Partner Hitlers oder Günstlinge Hindenburgs ohnehin nicht infrage kamen und somit von Anfang an auf Opposition gegen ein potentielles Kabineett Hitler festgelegt waren.
Was man aber durchaus erwarten könnte, sind eben interne Übeerlegungn bei den infrage kommenden Parteien und Personengruppen.

Nun war eine Volkswahl aber gar nicht unbedingt nötig. Nehmen wir mal an, Hitler wäre tatsächlich der unerfahrene, leicht manipulierbare Volkstribun gewesen, den die Hochkonservativen in ihm vermuteten. Dann wäre der Umbau der Volksvertretung in Richtung Ständestaat wohl schon zu Lebzeiten Hindenburgs vorangetrieben worden, und man hätte den Präsidenten vielleicht durch die neue Ständekammer wählen lassen, die sicher nicht für Hitler gestimmt hätte.

Wenn jemand Hitler grundsätzlich für manipulierbar hielt, war das noch das eine, um ihn aber für so manipulierbar zu halten, dass man ihn mal eben zum Steigbügelhalter der Monarchie hätte machen können, dafür hätte man schon gewaltig Scheuklappen aufhaben müssen.
Zumal es noch immer den "nationalbolschewistischen" Parteiflügel gab, der mit dem Abgang Strassers sicherlich geschwächt war, aber Röhm als potentieller Machtfaktor aus diesem Spektrum und die SA waren ja noch vorhanden.
Selbst wenn man annahm Hitler persönlich auch zu einer Restauration manipulieren zu können (den Beweis, dass auch diese Traumtänzerei theoretisch möglich war, hat ja der Ex-Kronprinz erbracht), hätte man diese Rechnung nicht vollständig ohne seine Partei machen können.

Davon einmal abgesehen, hätte man wenn man eine "Ständekammer" in diesem Sinne hätte einführen wollen die Verfassung ändern müssen.
Die Verfassung zu ändern hätte eine 2/3 Mehrheit vorausgesetzt, wobei zu hinterfragen geewesen wäre, ob man es für möglich halten konnte die NSDAP auf die Linie eines solchen Vorhabens zu bringen, da hätte sich der "Strasser-Flügel" möglicherweise quergestellt.
Die einzige andere Möglichkeit wäre dann ein Staatsstreich gewesen, der die Gefahr mit sich bringen musste, dass Hitler als größster Machtfaktor, sich in einer gesetzlich nicht mehr kontrollierbaren Situation durchsetzen würde.

Eberts Amtszeit war 1922 ebenfalls um knapp drei Jahre verlängert worden, es gab für ein solches Vorgehen also einen gewissen Präzedenzfall.

Die Verlängerung der regulären Amtsperiode, ist mit Verlaub eine etwas andere Nummer, als mal eben der Bevölkerung ihr Wahlrecht abzuerkennen und es auf eine noch zu bildende Ständekammer zu übertragen.

Die Politiker und Staatsrechtler im Umfeld von Papen wollten ohnehin ein anderes, aus ihrer Sicht "organischeres" System schaffen, die Volkswahl des Präsidenten wäre also möglicherweise ganz selbstverständlich geändert worden.

Da übersiehst du mMn die Hürde das überhaupt ändern zu können, denn das ging nicht mal eben per einfachem Kabinettsbeschluss oder Präsidialorder, sondern das setzte voraus den Reichstag entweder in Form einer 2/3-Mehrheit zu kontrollieren, oder als Kontrollinstanz und Gesetzgeber auszuschalten.

Um der Regierung eine solche Machtfülle überhaupt zu verschaffen, hätte sie erstmal aus allen legalen Schranken ausbrechen müssen.
 
Die vorgestellten JanuarEreignisse, -wahrnehmungen u. -perspektiven & -deutungen sind seit damals hinreichend breit rezipiert & überliefert, dann auch hinreichend bequellt belegt worden.

Wessen Wahrnehmungen und Perspektiven? Deine Mühen in Ehren, aber was du oben angeführt hast, sind Meinungen ausländischer Diplomaten, von Zeitungsredakteuren und vor allem Einschätzungen der öffentlichen Meinung.

Das sagt uns aber relativ wenig über das Denken einzelner Akteure, die in die Kernentwicklung involviert waren.

Dies ist kein erfundenes oder lediglich von einem bestimmten Zeitgeist konstruiertes Narrativ,

Nein, diese Äußerungen anderer Persönlichkeeiten und die zeitgenössischen Einschätzungen der öffentlichen Meinung sind sicherlich kein bloßes Narrativ, die Rechtfertigungsbemühungen der involvierten Persönlichkeiten, möglicherweise allerdings schon, dass sollte man differenzieren.

welches nun aktuell mit besonderem Scharfsinn
Ich habe mir weder besonderen Scharfsinn angemaßt, noch die besondere Aktualität des Themsa behauptet.

und/oder versierter Moral in Frage gestellt werden müsste ....
Ich kann mich nicht erinnern in irgendeiner Form auf irgendeiner Art von Moral bestanden zu haben, ich bin nur mit bestimmten Erklärungsansätzen nicht einverstanden und sehe da einige, in meineen Augen berechtigte Fragen.

Fragen, die, so viel gebe ich zu, ich von meinem Stand aus auch nicht mit einer beelegbaren, beefriedigenden Antwort beedienen kann.
Ich sehe aber keineen Grund, warum man sie nicht aufmachen sollte.
 
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