... und überhaupt nicht mehr weiß, wo die Grenze zwischen Fakt und Fiktion liegt.
Das ist eben das Problem. Unsere Anhaltspunkte sind Widersprüche zwischen den Quellen (wobei scheinbare Widersprüche nicht unbedingt tatsächliche Widersprüche sein müssen), Interessen der Autoren, textimmanente Widersprüche und Widersprüche zur erfahrbaren Realität. Du wirst z. B. nicht glauben, dass Drusus kurz vor seinem Sturz vom Pferd eine germanische Göttin erschienen ist, oder dass sich im Garten des Vespasian kurz vor seiner Erhebung zum Kaiser eine umgestürzte Zeder wieder aufgerichtet hat.
könnte die Varuskatastrophe ja auch ein taktisches Lehrstück für die Armee sein, niemals ohne eigene Reiterei zu agieren, niemals ohne Flankendeckung, niemals ohne möglichst präzise Vorerkundung, so etwas wie Gefechtsaufklärung der Antike.
Naja, nach allem, was wir wissen, hatte Varus das ja alles, nur dass das teilweise an Arminius "outgesourcet" war. C. Numonius Vala ist mit dem gescheiterten Versuch in die Geschichte eingegangen, mit seiner Reiterei dem Gemetzel zu entkommen und die Legionen im Stich zu lassen.
In der Tat hat die Varusschlacht bzw. die Belagerung Alisos(?) Eingang in die
Strategematon libri IV /
Strategemata von Frontinus gefunden.
welches dem Plebs auf dem Forum Romanum allein der Unterhaltung dient.
das waren nicht wirklich die Adressaten der Geschichtsschreibung.
Hätte man denn die Wahl, so würde man die Schilderung eines überlebenden Stabsoffiziers (S2/S3-Offz so etwas gab es damals noch nicht) der Varusschlacht jederzeit vorziehen, da diese nicht vorhanden sind, rein aus der Not heraus, Cassius Dio & Co. als "Sekundärquelle".
Wie gesagt, Cassius Dio ist die ausführlichste Quelle. Aber es gibt durchaus zeitgenössische Quellen, wie etwa Velleius Paterculus, der selber als Militär in Germanien diente (aber während der Varusschlacht wohl in Pannonien war). Die anderen zeitgenössischen Quellen (Strabon, Manilius, Ovid) sind halt extrem unergiebig bzgl. der Varusschlacht. Tacitus, Florus und Sueton schreiben bereits 100 Jahre später, Aufidius Bassus und Plinius, die dazwischen lagen - Plinius war auch selber in den 20ern in Germanien eingesetzt - sind verloren. Florus weicht erheblich von allen anderen ab, Tacitus schreibt eher indirekt über die Varusschlacht: er lässt Germanicus das Schlachtfeld begehen. Bereits hier zeigen ihm Überlebende der Schlacht die wichtigsten Szenen des Geschehens, von Tacitus literarisch in einem klimakterischen Bereich stark bearbeitet. Später erinnert Arminius seine Gefolgsleute in einer Motivationsrede vor der Schlacht an den langen Brücken an Varusschlacht - er weist auf Caecina und seine vier Legionen und sagt: seht, dort, derselbe Varus in derselben misslichen Lage. Und Caecina lässt Tacitus träumen, das Varus aus dem Sumpf nach ihm griffe und ihn in die Tiefe hinabziehe.
Warum war man denn damals nicht an der Wahrheit interessiert oder hat ernsthaft zwischen Fakten und Fiktion unterschieden?
Ich glaube, die Frage käme dem antiken Historiographen seltsam vor. Im Prinzip machen wir das heute auch noch so, wenn wir von einem Traum erzählen oder von einem Erlebnis, die Brüche in unserer Erinnerung glätten wir, um eine erzählbare Geschichte zu erzählen. Das machen wir ohne die Absicht zu lügen, wir glätten die Brüche, versuchen zu rationalisieren oder wollen die Geschichte schlicht spannend erzählen. Und dann kommt noch die Deutungshoheit hinzu.
Z.B. dass die kaiserliche Politik verfehlt ist oder auch, dass der Fehler nicht in der kaiserlichen Politik lag, sondern im Feldherren (der ja auch irgendwie eingesetzt worden sein muss...)
Dann spricht Wolters davon, dass es sehr wohl Überlebende und Augenzeugen gab.
Wieso "sehr wohl"? Hat jemand behauptet, dass es sie nicht gab? Sie haben uns halt keine Berichte hinterlassen. Velleius Paterculus berichtet uns von Schand- und Heldentaten der Schlachtteilnehmer, was entweder Erfindung voraussetzt ODER, das er mit Augenzeugen gesprochen hat, Tacitus davon, dass Überlebende Germanicus auf dem Schlachtfeld zeigten, wo welches Ereignis stattfand. Einschließlich Marter und Folter der Gefangenen und Siegesansprache des Arminius.
Er nennt die indirekt beteiligten Legionen des Asprenas...
Die in einer ganz anderen Region waren und daher nicht als Augenzeugen geführt werden können.
Doch das ist nichts überliefert.
Kannitverstan.
Ja, ich weiß, wir haben nur das Wenige, was da ist, etwas anderes gibt es nicht, aber genau diese Leere läßt die Mythen natürlich weiterhin sprießen. Das ist eine absolute menschliche Reaktion.
Umso wichtiger Fakten und Fiktion scharf zu trennen.