Wilhelm II. interessierte sich bekanntlich sehr für das Zeremoniell, erweiterte und differenzierte es, kümmerte sich persönlich um neue Kleiderordnungen und die prunkvolle Ausstattung der Empfangsräume und lud auch Vertreter von Bürgertum und Arbeiterschaft zu Empfängen und Galatafeln ein. So ist es kein Wunder, dass er frühzeitig mit den Planungen für sein Regierungsjubiläum begann, sich eingehend mit der Choreografie der Festlichkeiten befasste und sich sogar persönlich um die Auswahl von Orden und Geschenken kümmerte.
Nun wissen wir zwar, dass solche Feste in zeremoniellen Fragen politische Macht demonstrieren sollen, man muß sich aber fragen, wie real diese Macht eigentlich gewesen ist. Ich will hier nicht auf die Diskussion über das persönliche Regiment eingehen - Alexander König dürfte inzwischen das Entscheidende darüber gesagt haben - mir scheint aber, dass das Zeremoniell mit seiner symbolhaften Macht- und Prestigeansprüchen den politischen Gegebenheiten gar nicht mehr entsprach und nur noch den Schein einer Macht repräsentierte. Wenn bei der Galatafel der Reichskanzler hinter der kaiserlichen Familie und den Bundesfürsten platziert wurde, die Vorstände von Reichstag und Landtag noch viel weiter unten hinter irgendwelchen Hofchargen saßen und normale Abgeordnete erst gar nicht eingeladen waren, so entsprach das nicht den wahren Machtverhältnissen, und der höfische Pomp konnte über die Tatsache nur zeitweise hinwegtäuschen. Ein glazvolles Auftreten in genau geplanten und wohl einstudierten Zeremonien war für Kaiser Wilhelm II wohl deshalb so wichtig, da es ihm aus verschiedenen Gründen nicht gelang, sich mit seinen Machtansprüchen gegen andere Instanzen der politischen Willensbildung durchzusetzen.
In seiner Selbstdarstellung in der Öffentlichkeit entwickelte er allerdings ein beachtliches Talent. Er war kein höfisch-zurückhaltender Serenissimus alten Schlages, sondern ein moderner charismatischer Medienmonarch, der mit seinem theatralischen Auftreten und selbst mit seinen burschikosen Allüren bei der Bevölkerung viel Anklang fand. Seine Popularität bei einem großen Teil der Bevölkerung ist unbestreitbar. Während autoritäre und totalitäre Regime des 20.Jahrhunderts "spontane" Demonstrationen zentral organisierten und die Menschen zur Teilnahme abkommandierten, war es hier umgekehrt. Bürger und Kleinbürger sowie religiös oder national eingestellte Arbeiter, insbesondere aus Preußen, engagierten sich beim Regierungsjubiläum mit aufrichtiger Begeisterung und die kaiserlichen Behörden, Zivilkabinett und Oberhofmarschallamt, hatten eher Mühe, den Andrang zu begrenzen. Die schönen Glückwunschadressen, Ansprachen und Gedenkbände mit ihrer byzantinischen Lobhudelei und der Andrang der Honorationen zu Wilhelms Empfängen waren allerdings auch durch den Wunsch nach glanzvoller Selbstdarstellung, nach Prestige, Orden und Rangerhöhungen begründet.
Allerdings darf nicht übersehen werden, dass der Glanz des Regierungsjubiläums eine gewisse Isolierung des Kaisers verschleierte: von den Sozialdemokraten und den Minderheiten, die er sich durch ungeschickte Äußerungen und eine falsche Politik entfremdet hatte, von der zum Teil noch partikularistisch eingestellten Bevölkerung außerhalb Preußens, die keine Deputationen zu Empfang und Galatafel schickte, nicht zuletzt im Ausland, da nur wenige Länder durch Festveranstaltungen und Geschenkee ihre Sympathien bekundet hatten. Immerhin zeigte es sich, daß Deutschamerikaner zwar nicht die Bundesregierung selbst, aber viele einflussreiche Freunde in den USA mobilisieren konnten.
Wie Schein und Wirklichkeit auseinanderklafften, zeigen auch die schönen Ansprachen über den "Friedenskaiser", die den Eindruck der sonstigen bramarbasierenden und aggressiven Reden Wilhelms II nicht so ohne weiteres abschwächen konnten und vollends durch die zur gleichen Zeit im Reichstag beschlossene substantielle Heeresverstärkung um zwei Armeekorps konerkariert wurden.
So geschickt die Mediensteuerung des Kaisers mit ihren ausgefeilten Zeremonien auch war, sie konnte seine zumeist ungenügende politische Aktivität nicht wettmachen. Wilhelm spielte gern den Kaiser und er spielte ihn gut, aber er hatte weder Zeit noch Lust noch den Machtinstinkt, sich als Kaiser in der täglichen Regierungsarbeit durchzusetzen.