#91, turgot, ich bitte zu beachten, dass die "Saturday Review" eine parteinahe Zeitschrift ist und in einem parlamentarischen System - mit der entsprechenden Bedeutung der Parteien - haben solche Artikel besondere Bedeutung. Wie das Volk reagierte, beschreibt Ferguson in "Der falsche Krieg", in meinen Augen unfassbar irrational.
England war um 1850 der unbeschränkte Herrscher der Welt. Das änderte sich und zwar mit Ende/Beginn des Jahrhunderts in großer Geschwindigkeit. Kolonialreiche konnten Staaten in der ersten Phase der industriellen Revolution mit Rohstoffen und Vorprodukten helfen. Die zweite Phase hat England - vermutlich gerade wegen ihrer uneingeschränkten Herrschaft - nicht mitgemacht bzw. nicht so wie spätere Konkurenen. Das waren Deutschland, die USA, später Japan. Die Engländer mussten aus verschiedenen Positionen zurückziehen, die USA waren der Anfang, da man sich militärische Auseinandersetzungen nicht leisten wollte (vermutlich konnte man sie sich leisten, das Problem war eine Schwächung selbst im Sieg und daraus folgend eine Schwächung bzgl anderer Gegner). Deutschland würde England in wirtschaflicher Hinsicht überholen (und hat es trotz zweier verlorener Kriege auch überholt). Der deutsche Flottenbau hat England veranlaßt seine Flotte in den Heimatgewässern zu stationieren. In Asien musste man Militär abbauen, gleichzeitig wurde Japan stärker. Das Empire war mittelfristig nur noch mit Hilfe der USA zu halten (und die wollten es selbst beerben). Oder eben Deutschland. Die Mittelmeerherrschaft war aufgegeben (bzw. an Frankreich abgetreten, das den Dreibundmarinen zumindest leicht unterlegen war - wenn der Dreibund Wirkungen entfalten konnte, allerdings, das war das Risiko, wäre damit der kurze Seeweg nach Indien unterbrochen). Da Deutschland wirtschaftlicher immer stärker wurde - d.h. finanziell leistungsfähiger - waren das keine guten Aussichten. Der komparative Vorteil, der um die Jahrhundertwende Macht begründet, lag nicht mehr in Kolonialreichen, sondern in der Industrie (wichtige Teile der Royal Navy, zB Zielgeräte, Entfernungsmesser lieferte - lt. Massie, Castles of Steel - Deutschland). Der schärfste Konkurrent war Deutschland, und der lag geographisch zwischen Frankreich und Rußland, und dies lies sich diplomatisch nutzen. Das war einfacher bei Frankreich, schwieriger bei Rußland.
Zurück zu Deutschland: Es musste seine Erfolge bei der Industrialisierung militärisch absichern, es war die Lebensgrundlage eines Landes, das vor einem halben Jahrhundert Massenarmut gekannt hat. Da die Wirtschaft erstaunlich international (heute sagen wir Exportweltmeister) aufgestellt war, waren die Verkehrswege zu schützen und die liefen sehr oft übers Meer. Aufgrund der geographischen Lage war nur eine indirekte Sicherung möglich. Die immer wieder erwähnte Kreuzerflotte kann und soll eine solche Sicherung nicht durchführen. Sie soll Wirtschaftskrieg führen, den Handel des Gegners zum Erliegen bringen (Gegenblockade). Sie kann die Blockade zum Erliegen bringen, wenn die Gegenblockade stärker wirkt. Das ist ein Vabanquespiel und hängt sehr von der Empfindlichkeit der eigenen Wirtschaft ab. Die praktische Durchführbrkeit war mangels Kohlestationen auch nicht gegeben. Hat den überhaupt eine Marine damals eine Kreuzerflotte aufgebaut? Frankreich und die USA setzten auf Schlachtschiffe, ebenso Italien, sogar Österreich-Ungarn.Ich halte die Kreuzerflotte für ein theoretisches Thema.
Ein Wort zur Finanzierung. Das Reich finanzierte sich sehr archaisch hauptsächlich über Zölle. 1893 hat Miquel ein Steuersystem eingeführt wie wir esheute noch kennen. Der Einkommensteuersatz betrug 4%. Ob mit oder ohne Flotte, das Finanzsystem musste geändert werden. Das war eine Frage der Innenpolitik und damals wie heute ist das nicht einfach. Aber sicherlich machbar.
Ein Wort zu den Kolonien. Wer Tirpitz Erinnerungen liest, wid überrascht sein den Begriff kaum anzutreffen. Im Stichwortverzeichnis wird es dreimal erwähnt. Er spricht eher negativ oder neutral darüber, meint die bestehenden müsstenerst erforscht werden. Für Deutschland rechneten sie sich auch nicht. Für Tirpitz war wichtig, dass der Atlantik offengehalten wurde (Vordertreppe zur Welt). Wenn der Atlantik geschlossen wurde, war Deutschland abgeriegelt.