Der Vorstoß der Hochseeflotte gegen Hartlepool und Scarborough 15./16.12.1914
Tirpitz und Scheer scholten hinterher die Vorgehensweise von Ingenohl, der eine wichtige Vorentscheidung im Seekrieg in der Hand gehabt gehabt haben soll. Das Werk von Corbett, Naval Operations, zeigt da eine etwas andere Sicht, die eben auch vom Marinearchiv inderekt bestätigt wird.
Ingenohl mußte aufgrund der frühmorgendlich stattgefundenen Gefechte, bei noch sehr schlechter Sicht, zwischen den deutschen und britischen Begleitstreitkräften von der Anwesenheit stärkerer Verbände der Royal Navy ausgehen, wahrscheinlich eben vom Gros der britischen Schlachtflotte. Dafür sprach auch neben diesen Gefechten der aufgefangene, lebhafte britische Funkverkehr. Am Abdrehen der im Ernstfall unterlegenen Hochseeflotte gibt es damit - nach dieser Informationslage und unabängig von kaiserlichen Anweisungen - schon nichts zu kritisieren. Es entsprach der Situation; Schlachtflotten lassen sich nur auf Seekarten beliebig gegeneinander schieben.
Der fiktive Fall - ohne diesen Rückzug von Ingenohl - hätte im Prinzip nichts geändert. Beatty und Warrender hätten sich dem Gefecht entzogen, sobald die Anwesenheit der ganzen deutschen Schlachtflotte erkannt worden wäre: entweder über den Funkverkehr (wie tatsächlich 8 Stunden später geschehen), oder eben durch Sichtung.
Dazu Ingenohl in seinem interessanten Bericht:
"Es muß damit gerechnet werden, dass das Gros gesichtet ist; infolge der hohen Vormarschgeschwindigkeit von 15 Sm hatte sich eine mächtige Rauchwolke über der Flotte gebildet,
die, weithin sichtbar, jedenfalls auf die Anwesenheit einer großen Zahl deutscher Schiffe schließen ließ. Die [schwachen!] eigenen Sicherungsstreitkräfte hätten das Fühlungshalten moderner feindlicher Aufklärungsstreitkräfte [ausgehend von der Anwesenheit der Home Fleet] am Tage nicht hindern können. Für die kommende Nacht [dies betrifft das schlechte Timing des Rückmarsches] bestand also die hohe Wahrscheinlichkeit, dass englische Torpedoboote auf das nach der Deutschen Bucht zurückkehrende Gros angesetzt werden würden, was in dieser ganz besonders dunklen Nacht [Sichtverhältnisse wie schon am 15./16.12.] vermutlich zu Schiffsverlusten geführt hätte."
Zu ergänzen ist, dass die Wetterverhältnisse gegen Morgen im Raum der Hochseeflotte bessere waren als bei Hippers Schlachtkreuzern vor der britischen Küste, wo schwere See und Sturm sogar die Detachierung der Kreuzer (bis auf einen zum Minenlegen) erfoderte. Bei dieser von Ingenohl geschilderten Sachlage ist auch eine Überraschung von Warrender und Beatty, die über Aufklärung verfügten, nicht denkbar.
der link hier folgt Corbett
First World War.com - Battles - Raid on Scarborough, Hartlepool and Whitby, 1914
sowie Marinearchiv Nordsee Band 3, S. 72ff.
Übrigens ist die deutsche Flotte bei dem Vorstoß zweimal an einer denkbaren Katastrophe vorbei geschlittert. Zunächst passierten während der Nacht bei schlechtem Wetter und wenigen Hundert Metern Sicht Beattys Schlachtkreuzer, dicht gefolgt von Warrenders 6 neuen Schlachtschiffen, die 4 Schlachtkreuzer von Hipper in wenigen Seemeilen Abstand. Nach der Beschießung verlegten Beatty und Warrender den Rückmarsch von Hipper, der entweder nördlich oder südlich der Minensperren passieren mußte. Aufgrund verworrener Umstände und mit etwas Glück entkam Hipper dennoch.