Militärische Führung und Generalität der zaristischen russischen Armee
Aufgrund der zahlreichen historischen Personen möchte ich mich auf einige ausgewählte Beispiele beschränken...
Und auch mit dieser Einschränkung wird der Beitrag ziemlich lang - schon einmal :sorry: im Voraus.
Großfürst Nikolai Nikolajevitsch Romanov
Er war der Onkel des Zaren.
Seine Ausbildung erhielt er - wie fast alle höheren Offiziere des russischen Heeres - an der Akademie des Generalstabes, diente im Russ.-Türk. Krieg 1877/78 und war Generalinspekteur der Kavallerie ab 1895 (wo er beträchtliche Reformen in der Ausbildung vornahm) und ab 1905 Kommandeur des Militärbezirks St. Petersburg.
Da Zar Nikolai II. bei Kriegsbeginn das Oberkommando des Heeres zunächst nicht selbst übernahm, wurde der Großfürst dazu berufen. Er sah sich mit einem miesen Kommunikationssystem in der Armee konfrontiert, welches ihn in seiner Tätigkeit mehr behinderte als daß er es nutzen konnte.
Die ersten erfolgreichen Vorstöße nach Ostpreußen verkehrten sich bekanntlich alsbald in eine schwere Niederlage, und die Erfolge in Galizien und den Karpaten gegen Österreich-Ungarn wurden nach deutschem Eingreifen ebenso zunichte gemacht. Als letztendlich den Mittelmächten durch ihren Durchbruch bei Gorlice-Tarnov ein weiterer erheblicher Gebietsgewinn gelang, setzte sich Zarin Alexandra persönlich für seine Entlassung ein. Zar Nikolai II. enthob seinen Onkel eigenmächtig des Oberkommandos und übernahm dieses selbst - um ihn als seinen letzten Akt vor der Abdankung 1917 dann wieder als Oberbefehlshaber einzusetzen.
Ab 1915 war er Stabschef an der Kaukasusfront, wo den Russen unter General Judenitsch erfolgreiche Kämpfe gegen die Truppen des Osmanischen Reiches gelangen.
Anm.: Die Abdankung des Zaren soll der Großfürst wohl 1917 ebenso eingefordert haben, nachdem er seine Reformvorschläge in St. Petersburg nicht durchsetzen konnte.
General Juri Danilov
Er war Stellvertreter des Großfürsten Nikolai Romanov und hatte maßgeblich den russischen Angriffsplan (Plan 19) ausgearbeitet. Dieser Plan sah einen für den Fall des deutschen Angriffs gegen Frankreich einen russischen Zangenangriff über Ostpreußen und Schlesien mit je 2 Armeen vor.
Danilovs Arbeit wurde durch abweichende Meinungen innerhalb des russischen Oberkommandos faktisch zunichte gemacht, da man sich dann doch für die Teilung des Angriffs - 2 Armeen gegen Deutschland und 2 Armeen gegen Österreich-Ungarn - entschied.
Zudem wurde auch Danilovs Tätigkeit stark durch die schlechten Kommunikationswege im russischen Heer behindert; diesem Problem stand der General trotz seines energischen und dynamischen Wesens hilflos gegenüber.
Zeitgleich mit dem Großfürsten wurde auch Danilov seines Postens enthoben und an die Kaukasusfront versetzt.
General Jakov Shilinski
Er wurde 1911 zum Stabschef der russischen Armee berufen (und zudem Kommandeur des Militärbezirks Warschau) und sicherte den westlichen Alliierten zu, innerhalb von 15 Tagen nach Mobilmachung einen Angriff gegen das Deutsche Kaiserreich führen zu können. Militärhistoriker bezeichnen dies als "einigermaßen voreilig"...
Tatsächlich waren die beiden Armeen, welche in Ostpreußen vorrückten, nicht angemessen ausgerüstet für dieses Unternehmen, so daß der geplante Zangenangriff spätestens bei Tannenberg gescheitert war und die Folgen auch noch in der späteren Masurenschlacht zum Tragen kamen. Die Schuld für die russischen Niederlagen jedoch schob er einzig und allein dem Verhalten des Generals von Rennenkampf zu; Shilinski wurde nicht belangt, sondern war überdies ab 1915 als Verbindungsoffizier zum Hauptquartier der verbündeten Franzosen tätig.
Im Jahre 1916 (unter Befehl des Stabschefs Michail Alexejev) sicherte er den westlichen Alliierten zu, daß die russischen Armeen eine Offensive am Naroch See erfolgreich führen könnten. Aufgrund der Anwendung von Taktiken des 19. Jh. zeigte sich, daß die russische Seite auch dieses Versprechen nicht einhalten konnte.
Die militärhistorische Einschätzung Shilinskis ist demzufolge nicht gerade positiv: er gilt als einer von wenig kompetenten russischen Stabschefs des Krieges.
General Nikolai Ivanov
Er war ein leidenschaftlicher Monarchist und erwarb sich die besondere Anerkennung des Zaren durch die Niederschlagung des Kronstädter Aufstandes 1906.
Ivanov nahm am Russ.-Japan. Krieg 1904/05 teil, war Kommandeur der russischen Truppen bei Kiew ab 1908 und unterstützte dort die Mobilmachung bei Kriegsbeginn.
Als Kommandeur der Armeen in Galizien und den Karpaten agierte er vorsichtig und ließ durch scheinbares Unverständnis, auf die konkrete Situation zu reagieren, somit 1914/15 einige Gelegenheiten aus, den österreichisch-ungarischen Gegner in Bedrängnis zu bringen sowie später bei Gorlice-Tarnov standzuhalten.
Die desaströse Niederlage in jener Schlacht führte dazu, daß er von General Brussilov ersetzt wurde - doch dies erst im März 1916.
Daß Militärhistoriker ihm Inkompetenz und schlechte Truppenführung zubilligen, erscheint vor diesem Hintergrund nicht wenig plausibel.
Anm.: Ivanov hatte zudem persönliche Querelen und Streitigkeiten mit einem anderen gleichrangigen Kommandeur, General Nikolai Januschkevitsch - der übrigens ähnlich behäbig auf die taktisch-strategischen Gegebenheiten reagierte...
General Michail Alexejev
Er stammte aus bescheidenen Verhältnissen (Sohn eines Gefreiten), trat 1876 in die Armee ein und absolvierte 1890 die Generalstabsakademie.
Alexejev nutzte folglich die Aufstiegsmöglichkeit, welche ihm das Militär bot - was allerdings nicht selbstverständlich war, da die Offiziere doch eher der Adelsschicht entstammten (tiefe soziale Spaltung des russischen Heeres der Zarenzeit).
1904 wurde er zum General erhoben.
Zunächst im Krieg im Stab der Südarmeen unter Ivanov erhielt Alexejev im März 1915 das Oberkommando für die Nordarmeen, nachdem dort General Januschkevitsch abgelöst worden war.
Trotz daß er weder Ivanovs Karpaten-Offensive unterstützte und auch wichtige Reserven bei Gorlice-Tarnov zurückgehalten hatte, wurde er vom Zaren zum Stabschef des Heeres erhoben, als dieser das Oberkommando selbst übernahm.
Obwohl Alexejev den Großen Rückzug der russischen Armeen nach Gorlice-Tarnov mit einigem Erfolg befehligte und koordinierte und auch teilweise erfolgreich eine zentrale Kontrolle über die militärischen Operationen etablierte (gegen die schlechte Kommunikation und den starren Stabsapparat), zeichnete ihn doch ein Festhalten an konventionellen Taktiken und Strukturen aus, die den Erfordernissen der Kriegsführung nicht mehr genügten.
Die russische Niederlage am Naroch-See war letztlich eine Konsequenz aus dem Festhalten an der Dominanz der alten militärischen Elite in der Armee bzw. der Unfähigkeit, diese abzulösen. Und obgleich Alexejev die spätere Offensive des Generals Brussilovs mit ausgearbeitet hatte, verhielt er sich im Verlauf dieser Offensive dennoch passiv anstatt sie mit seinen Truppen zu unterstützen.
General Alexej Brussilov
Er war der Sohn eines Adligen und begann seine Ausbildung im Kaiserlichen Pagenkorps, einer höheren Lehranstalt für Adlige mit Spezialklassen zur Offiziersausbildung. Danach diente er als Offizier der Kavallerie (Dragoner) im Kaukasus.
Während des Russ.-Türk. Krieges 1877/78 erhielt Brussilov zwei Auszeichnungen, und 1906 wurde er zum General erhoben.
Mit Kriegsbeginn erhielt er das Kommando der 8. Russischen Armee in Galizien; ungeachtet seiner "Herkunft" als Kavallerist erkannte er recht schnell die Vorteile moderner Artillerie sowie detaillierter Planung und taktischer Flexibilität.
Dementsprechend hielt er - quasi als Einzelfall - nicht an den althergebrachten Taktiken etc. fest, sondern versuchte, den neuen Erfordernissen der Kriegsführung innovativ zu begegnen.
Nachdem er im März 1916 General Ivanov ablöste und das Kommando über die Südarmeen erhielt, erarbeitete und leitete Brussilov die erste der nach ihm benannten Brussilov-Offensiven.
Brussilov war - entgegen anderen russischen Befehlshabern - der Auffassung, daß nicht etwa Mangel an Material, sondern Ausführungsmängel bei militärischen Operationen für militärische Niederlagen verantwortlich waren.
Seine Anwendung mehrerer Taktiken während dieser Offensive wurden später übrigens zu einem wichtigen Bestandteil der Kriegsführung der Roten Armee: Täuschung, Überraschungsangriff und Stoßkraft.
Anm.: Seine Kollegen betrachteten Brussilov mit äußerstem Argwohn, und viele seiner untergebenen Offiziere mußten bspw. zu der Offensive geradezu gezwungen werden. Auch die mangelnde Unterstützung durch die anderen russischen Armeen scheint diesem Fakt geschuldet zu sein.
Ein kurzes Fazit zum Schluß: deutlich wird bei militärischer Führung und Generalität der Armeen des zaristischen Rußland eine fatale Verquickung von Besetzungen nach Dienstalter und/oder Beziehungen zum Zarenhof, Festhalten an Gepflogenheiten der Vorkriegszeit sowie starrer Befehlsführung und mangelhafter Kommunikation - und das Ganze überdies verbunden mit Intrigen und persönlichen Zwistigkeiten.
Brussilov stellt da wohl eher eine Ausnahme dar...
Diese und mehr Details wie erwähnt unter
Commanders Of First World War