Ashigaru schrieb:
Ja, Moment: Illigs These ist nun mal sehr radikal. Er behauptet nicht: nur die und die Quellen sind erfunden. Er behauptet nicht: dieses und jenes Detail stimmt nicht an der Überlieferung zu Karl dem Großen. Er behauptet: die Geschichtsschreibung hat 297 Jahre komplett erfunden. Dass schließt ein, dass jede nach den geschichtswissenschaftlichen Methoden in diesen Zeitraum datierte Quelle nicht "echt" sein kann. Darauf hat er sich festgelegt, daran muss er sich messen lassen.
Nunja, was radikal ist und was nicht ist immer sehr relativ: Auch die Kontinentalverschiebungstheorie Alfred Wegeners erschien über Jahrzehnte hinweg als so radikal, das sie in peer-reviewten Veröffentlichungen radikal zensiert wurde: Die Kontinente hat aus Sicht der Standardwissenschaften eben da zu bleiben, wo der liebe Gott sie hingesetzt hatte und sich nicht von der Stelle zu bewegen... Heute wissen wir, dass diese fundamentalistische Auffassung weniger durch Indizien als einen Mythos gestützt wurde.
Es kann grundsätzlich nicht ausgeschlossen werden, dass Ähnliches mit der Zeitachse passiert. Z. B. das Ereignisse, die wir heute nacheinander anordnen, parallel abgelaufen sind, oder dass wir merken, dass bestimmte Zeiträume nur mühsam mit Ereignissen zu füllen sind oder eben nur mit windigen Ereignissen, die wir nur aus zweiter oder dritter Hand in den Mund kennen.
Wenn man vom Glaubensstreit (Illig ist ein aufgeblasener radikaler Spinner etc.) auf die sachlicher Ebene der Indizienauseinandersetzung wechselt, dann sind nicht nur Illig und seine Kombatanten in der Pflicht zu zeigen, dass eine Zeitachse, ohne diese dreihundert Jahre die Geschichte widerspruchsfreier und besser verständlich macht, sondern dann sind auch die Vertreter der herrschenden Lehre in der Pflicht, zu zeigen, dass diese drei Jahrhundert mit Inhalten gefüllt werden können und benötigt werden, um z. B. plausible Modelle für den Übergang von der Stätantike zum Hochmittelalter machen zu können.
Von einigen erfreulichen Auanahmen (etwa ning) abgesehen, befinden wir uns hier noch auf der Ebene eines Glaubenskrieges, wo Illigs These nur mit spitzen Fingern angefasst und eigentlich von vorneherein aus dem Bauch (Lesen Illigs wäre Zeitverschwendung etc.) heraus für abstrus gehalten wird. Wenn in diesem Stadium penetrant nachgehakt wird und z. B. einige nicht unmittelbar vom Tisch zu fegende Indizien für Illigs These vorgelegt werden, dann wird häufig auf die "Naturwissenschaft" rekurriert.
Das heißt, man verlässt sich darauf, dass die unbestechliche und messescharfe naturwissenschaftliche Methodik Illig schon richten bzw. in seine Schranken weisen wird. Doch dies ist auch ein Aberglaube: Die naturwissenschaftliche Zeitbestimmungs-Methodik ist vor allem bezüglich der letzten, sagen wir mal 6.000 Jahr aufs engste mit historisch ermittelten Daten verknüpft oder genauer gesagt von ihnen infiziert und belastet. Dies führt zu Widersprüchen, Zirkelschlüssen und vielschichtigen Problemen..
Selbst dem eigentlich C14-gläubigen Frühgeschichtler SCHWABEDISSEN [1977] ist einmal so etwas wie der Kragen geplatzt, weil ihm bei der Verankerung der C14-Methode Widersprüche aufgefallen sind:
»W. F. LIBBY benutzte seinerzeit ›historische‹ ägyptische Daten, um die Brauchbarkeit der (konventionellen) C14-Methode zu dokumentieren. Heute wird die ägyptische Chronologie herangezogen, um nachzuweisen, dass die konventionellen C14-Daten falsch und die jahrringkorrigierten Daten richtig sind«.
Kurz: Die Historiker sollten sich bei der Auseinandersetzung mit der Illigschen These nicht zu sehr auf das Totschlagvermögen naturwissenschaftlicher Chronolgiemethodik verlassen. Der Schuss könnte auch nach hinten losgehen.
Zudem besteht ja schon seit längerer Zeit ein berechtigtes Mißtrauen der Historiker gegenüber C14-Daten, z. B. wenn aufgrund von einer oder zwei Datierungen bislang evidente, weil gut belegte Handelsbeziehungen zwischen Kulturen mal so eben vom Tisch gefegt werden.